Ein freier Platz

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Ich fuhr mit dem Bus nach der Schule nach Hause. Alle Plätze bis auf den neben mir waren besetzt. An der letzten Haltestelle, bevor ich aussteigen musste, stiegen zwei Frauen aus unserem Dorf ein. Beide blieben vor dem leeren Platz neben mir stehen, die eine schnaufte - so sehr hatte sie sich also beeilt, den Platz zu ergattern, dachte ich - hielt sich mit einer Hand an der Haltestange fest und machte eine einladende Handbewegung zur anderen hin: „Bitte setzen Sie sich. Ich habe den Platz extra für Sie freigehalten."
Die andere hielt sich ebenfalls an der Haltestange fest, schüttelte aber den Kopf. „Nein, nein! Setzen Sie sich! Ich habe den Platz auch gesehen und wollte ihn für Sie freihalten."
„Das ist doch nicht nötig!" Die erste lächelte. „Kommt gar nicht in Frage! Das ist Ihr Sitzplatz."
Die Fahrt dauerte fünf Minuten und ich fühlte mich an ein Theaterstück erinnert.
Keine wollte nachgeben. Keine setzte sich.
Die Frauen stiegen zusammen mit mir aus. Die eine ging nach rechts, die andere nach links, in die gleiche Richtung wie ich. Es war diejenige, die so geschnauft hatte. Auf einmal drehte sie sich zu mir um.
„Sag mal, Mädchen - hättest du nicht einfach aufstehen können?"
 
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G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Hallo SilberneDelfine,

dein Text hat mich mit seinem unerwarteten Ende überzeugt, ich war sogar wütend auf die alten Frauen, weil ich so ein Verhalten auf den Tod nicht leiden kann.

Dennoch gewinnt der Text diese Kraft erst am Ende, der Anfang fällt in meinen Augen stark ab. Dies liegt zum einen an den sehr häufigen Wortwiederholungen und zum anderen, weil du dort meiner Meinung nach zu weit ausholst. Zunächst aber zu den Wortwiederholungen - ich habe markiert, welche mir negativ auffielen:

Ich war jung und fuhr mit dem Bus nach der Schule nach Hause. Alle Plätze bis auf den neben mir waren besetzt. An der letzten Haltestelle vor meinem Dorf stiegen zwei Frauen ein, unzweifelhaft beide aus dem Dorf, aus dem Dorf, wo jeder jeden kannte, wie das in den Dörfern so üblich ist. Beide Frauen blieben vor dem leeren Platz neben mir stehen, die eine schnaufte - so sehr hatte sie sich also beeilt, den Platz zu ergattern, dass sie ins Schnaufen gerät, dachte ich - hielt sich mit einer Hand an der Haltestange fest und machte eine einladende Handbewegung zur anderen hin: „Bitte setzen Sie sich. Ich habe den Platz extra für Sie freigehalten."
Die andere hielt sich ebenfalls an der Haltestange fest, schüttelte aber den Kopf. „Nein, nein! Setzen Sie sich! Ich habe den Platz auch gesehen und wollte ihn für Sie freihalten."
Der Grund, weshalb mich die markierten Passagen stören, ist der, dass ich dadurch das Gefühl bekomme, irgendwie schwer von Begriff zu sein, sodass man mir alles drei Mal erklären muss.

Dies korreliert mit meinem zweiten Kritikpunkt, nämlich, dass zu Beginn meiner Meinung nach zu viel erklärt wird. Einige Informationen braucht es gar nicht. Wenn die Protagonistin z.B. aus der Schule kommt, dann ist es klar, dass sie jung ist. Als Leser ist es mir auch egal, an welcher Haltestelle die Frauen einsteigen. Zu diesem Zuviel an Informationen kommt zu Beginn noch die sehr eintönige Syntax. Aussagesatz reiht sich an Aussagesatz, meistens beginnend mit dem Subjekt. Da hast du mich als Leser deiner Geschichte fast schon verloren.

Ich bin aber froh, dass ich weitergelesen habe, denn mit dem Beginn des Dialoges wird der Text spannender und haut am Ende auch noch richtig einen raus.

Deshalb habe ich deine Geschichte insgesamt gern gelesen!

Herzliche Grüße
Frodomir
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
Effektvoll allemal, zum Ende hin (bis auf diesen Teil: "ich fühlte mich an ein Theaterstück erinnert. Oder an einen Sketch, zum Beispiel „Der Kosakenzipfel" von Loriot.", der sich selbst meiner Meinung nach zu bewusst ist) immer überzeugender.
 
Hallo SilberneDelfine,
ich glaube, ich muss Frodomir recht geben. Das Dorf-Stakkato ist ein bisschen zu viel. Wie wäre es mit:
'An der letzten Haltestelle vor meinem Ziel stiegen zwei Frauen ein. Sie waren gewiss aus meinem Ort, aus diesem Dorf, wo jeder jeden kannte, wie das auf dem Land so üblich war.'
Das in Gedankenstrichen eingeschobene Stück ließe sich vielleicht auch anders lösen, um die Wiederholung zu vermeiden. Zum Beispiel so:
'... eine schnaufte, weil sie sich so sehr beeilt hatte, diesen Platz zu ergattern, hielt sich mit einer Hand ...'
Ansonsten finde ich die Szene erfrischend scharf skizziert. Und das effektvolle Ende setzt dem Ganzen die Krone auf.
Wenn es allerdings wirklich alte Frauen waren, wie Frodomir annimmt, dann wäre diese Reklamation sicher im Sinne der Höflichkeit auch angemessen gewesen. Die jungen Leute sollen doch für die älteren den Platz freimachen. Ich bin Busfahrer und bekomme solche Sprüche auch oft genug im Fahrzeug schon mit. Es hat da auch schon Szenen gegeben, wo ich geneigt war, einzugreifen.
Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

Lykill

Mitglied
Danke, SilberneDelphine!

Deine Kurzgeschichte ist so richtig aus dem Leben gegriffen und schildert treffsicher den täglichen Stress aus unangemessenen Erwartungen an die Mitmenschen und fehlender Kommunikation zwischen ihnen. Die Frauen hätten ja um den Platz bitten können.

Ich habe mich gleich an eine Begebenheit vor etwa zwanzig Jahren erinnert. Als ich in eine Tram stieg, sprang sofort ein Junge auf und bot mir seinen Platz an. Nie habe ich mich älter gefühlt als damals. Das Mädchen in Deiner Geschichte war also taktvoll genug, die Frauen nicht als alt und klapprig hinzustellen.

Liebe Grüße
Lykill
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo SilberneDelfine!

Das Wichtigste am Anfang: Es kann sich lohnen einen Text bis zum Ende zu lesen, so auch bei deiner Kurzprosa.

Die vielen Wortwiederholungen solltest du wirklich noch einmal überarbeiten, die fallen unschön auf.

Mit den Erklärungen ist das immer ein zweischneidiges Schwert: Schreibt man zuviel, gibt es immer jemanden, der meint, man rede zuviel um den heißen Brei herum. Verdichtet man die Handlung, wird immer jemand sein, der sagt: Wieso hast du das und das nicht näher erklärt?

Ich persönlich hätte die Erklärungen am Anfang weggelassen und wäre direkt mit der Handlung im Bus eingestiegen.

Liebe Grüße
Manfred
 
Hallo ihr Lieben,

zuerst einmal vielen Dank für eure ausführlichen Kommentare! :)

Hallo Frodomir,

lange bzw. überflüssige Erklärungen liefern ist eine alte Schwäche von mir, in die ich ab und zu leider doch noch hineinrutsche. Du hast natürlich recht - das werde ich überarbeiten.

Die Wortwiederholungen fielen mir gar nicht so sehr auf - ich fand es sogar wichtig, zu betonen, dass die Frauen aus demselben Dorf waren wie ich. Aber das lässt sich sicher auch eleganter lösen. Wird auch überarbeitet.

diesem Zuviel an Informationen kommt zu Beginn noch die sehr eintönige Syntax. Aussagesatz reiht sich an Aussagesatz, meistens beginnend mit dem Subjekt.
Danke für den Hinweis. Mir fällt es unglaublich schwer, solche "ersten" bzw. Einstiegssätze in die Handlung zu formulieren, bis ich denke, der Leser kann es sich vorstellen. Z. B. habe ich meine Schwierigkeiten, eine Szene zu beschreiben, in der jemand nur eine Tür öffnet - das werde ich mal gründlich in Bezug auf die Syntax untersuchen.

Hallo Etma,

ich hatte überlegt, den "Kosakenzipfel" wegzulassen, mich dann doch dafür entschieden, es drinzulassen, um die absurde Komik der Situation zu unterstreichen. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob es nicht doch zuviel war.

Hallo Rainer Zufall,

danke für deine Tipps! Es waren "mittelalte" Frauen, zwischen 40 und 50... :cool: glaube ich. Den Schluss habe ich erfunden...

Hallo Lykill,

ich fühle mich auch alt, wenn mir jemand Junges seinen Platz anbietet. Das kann ich gut nachvollziehen. Die Szene ist schon ewig lange her - bis auf den Schluss hat sie sich wirklich so ereignet, nur war nicht ich es, die neben dem leeren Platz saß, sondern das Mädchen vor mir. Manchmal bietet einem der Alltag gute Vorlagen.

Hallo Franke,

Erklärungen sind ein "altes Laster" von mir. Eigentlich bin ich mehr fürs Weglassen. Aber es ist schon wahr, der eine will viel Informationen, der andere nicht. Ich werde jetzt erstmal eine Version mit weniger Informationen schreiben.

LG SilberneDelfine
 
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G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Hallo SilberneDelfine,

du schreibst:

Mir fällt es unglaublich schwer, solche "ersten" bzw. Einstiegssätze in die Handlung zu formulieren, bis ich denke, der Leser kann es sich vorstellen. Z. B. habe ich meine Schwierigkeiten, eine Szene zu beschreiben, in der jemand nur eine Tür öffnet - das werde ich mal gründlich in Bezug auf die Syntax untersuchen.
Darin habe ich mich wiedergefunden, denn da ich sehr wenig Erfahrung im Prosaschreiben habe, fällt es mir auch oft sehr schwer, auch nur einfache Szenen literarisch verwertbar zu beschreiben. Am Ende lege ich dann meistens frustriert den Stift beiseite ;-)

Ich bin jedenfalls gespannt, wie deine verbesserte Version aussehen wird!

Herzliche Grüße
Frodomir
 

hein

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

ich finde den Text so wie er ist gut, auch die Wiederholungen.
Es ist doch offensichtlich das es die Frauen darauf anlegten, dass das Mädchen aufsteht. Deshalb dieses Hin und Her.

LG
hein
 
Hallo hein,

danke für deinen Kommentar und die Bewertung! Aber ich denke, deine Vorredner hatten recht mit ihrer Kritik. Ich habe den Text jetzt gestrafft.

Hallo Frodomir,


Darin habe ich mich wiedergefunden, denn da ich sehr wenig Erfahrung im Prosaschreiben habe, fällt es mir auch oft sehr schwer, auch nur einfache Szenen literarisch verwertbar zu beschreiben. Am Ende lege ich dann meistens frustriert den Stift beiseite ;-)
Nein, einfach dranbleiben :) - ich glaube nicht, dass es am zu wenigen Schreiben liegt. Ich habe schon viele Geschichten geschrieben und trotzdem dasselbe Problem. Wenn ich erst den Einstieg gefunden habe, läuft es eigentlich wie von selbst - das Problem sind immer die ersten Sätze, die etwas beschreiben sollen, z. B. so etwas Banales wie "Auf einer grünen Wiese stand eine Herde Kühe." Da schreit bei mir im Kopf ein Kritiker, dass Wiesen immer grün sind und was das überhaupt für ein langweiliger Satz ist. Aber irgendwie muss ich dem Leser doch vermitteln, wo die Szene gerade spielt....vielleicht:" Auf der Wiese standen Kühe". Dann denke ich, welche Wiese? Ich füge hinzu dass die Kühe auf der Wiese von Bauer Hinz stehen. Das ist schon wieder zuviel Erklärung... Usw.

LG SilberneDelfine
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Sehr schöner Text!

Einzig diese Stelle


Keine von beiden setzte sich. Die Fahrt dauerte fünf Minuten und ich fühlte mich an ein Theaterstück erinnert.
Keine wollte nachgeben. Keine setzte sich.
stört mich. Hier könnte man den ersten Satz 'Keine von beiden setzte sich.' entfernen, da er später erneut auftaucht und noch einmal in abgewandelter Form.

Viele Grüße

DS
 
Werte Delfine, nur auf die jetzige Korrekturfassung kann ich mich beziehen und finde die Episode angemessen erzählt. Insbesondere stimmt hier das Verhältnis von Stoff zu Länge des Kurzprosatextes. Der Vergleich mit einer Theaterszene ist treffend, der Witz: die Erzählerin ist zugleich Zuschauerin wie Darstellerin.

Was für mich als Einziges offen blieb: Welche von den beiden Frauen stellt denn am Schluss jene Frage an die Erzählerin? Es sollte nach meinem Gefühl, damit die Form der erzählten Minigeschichte ganz rund ist, die zuerst Auftretende, Schnaufende sein.

Freundlichen Gruß
Arno Abndschön
 
Lieber Arno,

vielen Dank für deinen Kommentar und die Bewertung! Dein Vorschlag mit der Schnaufenden ist gut, ich habe ihn übernommen.

LG SilberneDelfine
 



 
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