Ein ganzer Nachmittag in Leipzig 24 Jahre später. Aus dem Buch: "Redebedarf".

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Immer wieder kommen wir zu dem Entschluss, dass wir wohl älter werden. Nicht nur, weil wir öfter mal beim Aufstehen die Steifheit unserer Glieder verspüren. Auch die für uns übliche Spontanität fällt uns mittlerweile zur Last.

Wir sind „Jagdhunde“. Mein Mann war es schon immer. Ich gewöhnte mir das an. Wir können nicht lange an einem Ort verbringen. Unsere Art Urlaub wäre für andere mit einer Flucht zu vergleichen. Wir waren üblicherweise jeden Tag woanders. Die Aufgabe von René bestand darin, rechtzeitig für die nächste Unterkunft zu sorgen. Das hieß, wenn nicht am Abend davor, dann spätestens nach dem Frühstück. Ich hatte keine Aufgabe außer hübsch zu sein. Ich machte unzählige Bilder an allen Orten und wollte auf den Bildern natürlich brauchbar aussehen.

Unsere „angeborene“ Spontanität wurde im Jahr 2020 ständig von COVID-19 angeheizt. Die reiselustigen Deutschen blieben in dem Jahr überwiegend in Deutschland und überfüllten Hotels, die wegen des sicheren Abstandes nur zur Hälfte belegt werden durften. Das hatte Auswirkungen auf die Preise. Wir waren viel im Herbst unterwegs, da sich bei mir Urlaub angesammelt hatte, der bis Ende des Jahres verbraucht werden musste. Also wollten wir schon eine logische Rundreise machen, mussten aber immer wie im Regen ohne Schirm zwischen den Regentropfen zwischen den vertretbaren Übernachtungsangeboten und dem einigermaßen verträglichen Wetter lavieren.

So hatten wir eines schönen Morgens nach dem Frühstück beschlossen, dass die Reise nach Leipzig gehen sollte, was mich erfreulich aufregte, da mein letzter Aufenthalt dort 24 Jahre zurücklag. Ich verbrachte das Wintersemester 1996 und das Sommersemester 1997 als DAAD-Stipendiatin an der Leipziger Universität.

Die Stadt war mir nach wie vor vertraut, hatte aber einen neuen, wunderschönen Glanz, der mich sehr bewegte. 1996-1997 wurde in Leipzig viel gebaut. Der Bahnhof war eine Dauerbaustelle. Der Augustusplatz vor der Uni war vollständig abgesperrt. Und auf einmal durfte ich das bewundern, was damals im Plan war.

Das neue Augusteum – das Hauptgebäude – war nicht mehr zu erkennen und erinnert mehr an eine Kirche als an ein Universitätsgebäude. Das Hochhaus nebenan gehört nicht mehr zur Universität. Vor dem Opernhaus befindet sich ein Wasserspiel und die Spiegelung im Wasser, besonders mit der Nachtbeleuchtung, war außergewöhnlich beeindruckend. Erfreulicherweise stehen die „Unangemessenen Zeitgenossen“ mit ihren Weisheiten nach wie vor in der Grimmaischen Straße und belehren des Wichtigen: man darf aus welchem Grund auch immer ein Leben opfern, aber nur das eigene…

Das nahm ich mir damals mit auf den Weg und würde jedem empfehlen, diese These zu notieren. Das kann nie schaden. Es ergaben sich sehr schnell Vergleiche „vorher-nachher“. Die Qualität der Bilder war früher ganz anders. Ich war froh, ein paar Bilder aus der Zeit zu haben.

Ich gelte als nachtragender Mensch. Ich sage dazu, dass ich nur ein viel zu gutes Gedächtnis habe, sonst nichts. Ich kann schlecht das Böse vergessen und noch schlechter - das Gute. In meinem „Leipziger Leben“ begegnete ich einer sehr netten und hilfsbereiten Familie. Die Eheleute Timtschenko taten nichts Außergewöhnliches. Sie sagten einfach ja, als ich sie um Unterstützung bat. Es ging um technische Unterstützung. Ich brauchte einen Computer bzw. Laptop, um einen Vortrag zu schreiben. Menschlich gesehen stellten sie mir ihre privaten Räumlichkeiten und ihre Aufmerksamkeit für eine geraume Zeit zur Verfügung. Im Tippen war ich nicht die Schnellste. Mein Vortrag musste selbstverständlich auf Deutsch sein. Für das vernünftige Deutsch sorgte Frau Timtschenko. Die gute Frau las mein untalentiertes Geschreibsel am Abend nach der Arbeit. An dem Abend war ich quasi ihr viertes Kind, das zusätzlich ihre Aufmerksamkeit verlangte. Ihr Mann Viktor, ein sehr talentierter Journalist und Autor, aber zumindest zu der Zeit untalentierter Koch, stärkte mich mit Mittagessen. Diese Erfahrung war und bleibt für mich nicht mit Geld zu bezahlen. Und nun lag 24 Jahre später ihr Haus auf unserem Weg. Ich wollte auf gar keinen Fall die Gelegenheit versäumen und kurz „Hallo“ sagen. Mein Mann und ich fielen wie der Schnee mitten im Sommer Herrn Timtschenko auf den Kopf. Frau Timtschenko war leider nicht Zuhause. Uns verhalf später die moderne Technik, mit Bild und Wort zu kommunizieren. Ich nannte die Namen aus unserem gemeinsamen Bekanntenkreis, in erster Linie Lehrer aus der Kyjiwer Universität, wo ich früher studierte und Frau Timtschenko unterrichtete. Das verhalf zu Vertrauensgewinn und Ausschluss des „Enkeltricks".

Herr Timtschenko ließ uns ins Haus und wir unterhielten uns über dies und das bedeutend länger als die von mir geplanten 5 bis 10 Minuten. Hoffentlich hinterließ unser Überraschungsbesuch warme Eindrücke auf beiden Seiten. Etwas anderes ließen später weder Viktor noch Ines am Telefon spüren. Wir waren glücklich, ein Buch mit Widmung aus der Hand des Autors Viktor Timtschenko als Geschenk zu bekommen.

Ich bemühe mich im Leben auch so natürlich offen und einfach menschlich zu sein. Es klappt leider nicht immer. Ich habe aber das Glück, an den besten Beispielen zu lernen. Also weiter üben.

Umso größer war die Freude, als die Eheleute Timtschenko ein paar Wochen später ganz spontan auf dem Weg von Hamburg nach Leipzig bei uns einkehrten. Trotz aller Anstrengungen konnten die beiden sich an mich vor 24 Jahren nach wie vor nicht erinnern, haben mich und meinen Mann quasi wie mich damals so aufgenommen wie wir waren. Wie gesagt: weiter üben…
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Hallo @Liselotte Kranich : Ich bin gerne mitgekommen ... auf Eure Reise nach Leipzig.
Es hat mir gefallen, wie nachhaltig Deine Erinnerung an die Hilfestellung gewesen ist und dass Du den Wunsch hattest, Dich noch einmal, nach 24Jahren, dort vorzustellen und zu bedanken.
Und auch berührend, dass das Ehepaar sich nicht mehr erinnert - vermutlich haben sie so selbstverständlich und oft anderen geholfen, dass es ihnen nicht besonders in Erinnerung geblieben ist.
 
G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Hallo Liselotte Kranich,

mir ist Isbahan zuvorgekommen :):
Habe Deinen Text genau so empfunden. Gern gelesen.

Grüße aus Leipzig
Keram
 
Hallo @Liselotte Kranich : Ich bin gerne mitgekommen ... auf Eure Reise nach Leipzig.
Es hat mir gefallen, wie nachhaltig Deine Erinnerung an die Hilfestellung gewesen ist und dass Du den Wunsch hattest, Dich noch einmal, nach 24Jahren, dort vorzustellen und zu bedanken.
Und auch berührend, dass das Ehepaar sich nicht mehr erinnert - vermutlich haben sie so selbstverständlich und oft anderen geholfen, dass es ihnen nicht besonders in Erinnerung geblieben ist.
Hallo Isbahan,
vielen Dank für Dein Interesse und gute Bewertung.
Viele Grüße, Liselotte
 



 
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