Ein Gefühl

Sonkl Hanja

Mitglied
Ich habe ein Gefühl. Es sitzt tief und es scheut nicht Gewalt. Tritt es an mich heran, so schlägt mein Herz in einer fürchterlichen Wut wild um sich. Ich bemerke es an den Wellen, die sich von der Mitte aus zum Rand hin in meinem Weinglas ausbreiten, welches ich auf dem Rücken liegend und mit angehaltenem Atem auf meinem Bauch balanciere. Heute ist ein komischer Tag.

Vorhin erst zweifelte ich kurz an meinem Verstand. Es war früh dunkel und Vollmond heute. Ein kalter Wind wehte, sodass ich meine Hände etwas tiefer in den Taschen vergrub, als gewohnt. Der Mond warf ein so helles und seltsames Licht herab, dass sich alles ein wenig falsch anfühlte. Ich wusste genau wie dunkel es zu dieser Jahreszeit um diese Uhrzeit zu sein hatte, es war falsch. Als wäre ich am Morgen mit dem falschen Fuß in der falschen Welt aufgestanden. Als ich dann nach oben sah, um dem Mond einen empörten Blick zu zuwerfen, sah es so aus, als würde dieser mit einer rasenden Geschwindigkeit über meinen Kopf hinweg durch den Himmel fliehen. Ich starrte eine Weile, denn dieses Bild wollte einfach nicht in meinen Kopf passen. Natürlich war ich mir bewusst, dass es eigentlich die Wolken waren, die durch den Himmel flohen und dass der Mond, sah man die Wolken als stillstehend an, nur scheinbar in Bewegung war. So wie es passiert, wenn der Zug auf dem gegenüberliegenden Gleis den Bahnhof verlässt und man für einen Moment das Gefühl hat, man selbst fahre rückwärts, obwohl man sich keinen Zentimeter bewegt. Und obschon mir das alles bewusst war, brauchte ich einige Sekunden, um es wahrlich zu verstehen. Erst dann konnte ich mich losreißen und meinen Weg fortsetzen. Ein komischer Tag. Ich wollte nach Hause, dort hatte ich Wein, den ich brauchte, denn ich hatte ganz plötzlich so ein Gefühl.

Jetzt stehe ich am Fenster, weil ich den Atem nicht mehr anhalten kann. Mein Weinglas steht auf dem Schreibtisch, auf dessen Oberfläche es einen roten Ring hinterlässt. Eine Kerze beleuchtet den Raum, das kleine Feuer wirkt warm in meinen Augen. Als ich das Glas anhebe, meine ich zu sehen, dass sich der Ring ausbreitet, wie zuvor die Wellen meines Herzschlags. Doch ich hatte einfach nur zu viel Wein. So viel Wein und trotzdem noch ein Gefühl. Ich wandere durch meine Wohnung und überall dort, wo ich das Weinglas abstelle, hinterlasse ich rote Ringe. Sie gehören jetzt zu meiner Einrichtung, denke ich mir. Morgen werde ich sie weg wischen, aber das weiß ich ja jetzt noch nicht.

ICH HABE EIN GEFÜHL!

Die rasende Wut meines Herzens steckt mich an. Ich werde laut in meinem Kopf, vergieße ein paar Tränen. Aus Wut, aus sonst keinem Grund. Ich leere das Glas und damit die Flasche, dann weiß ich auch nicht weiter. Ich weiß nicht, wohin mit dem Gefühl und ich weiß nicht, wohin mit meinem Herzen. Eine rote Flüssigkeit, eine andere, als die in meinem Weinglas, schlägt Wellen in mir. In meinen Gefäßen fängt sie an zu kochen. Etwas wächst mir zu den Ohren heraus, ein Gefühl, doch wenn ich es anfasse, fühle ich nichts. Ich ziehe daran, ziehe mir Äste aus den Ohren. Mit Rinde und Blättern und allem.
Vorhin erst zweifelte ich kurz an meinem Verstand.
Der Schatten, den ich werfe, ist ein Baum. Er zittert an der Wand, wegen der unsteten Flamme der Kerze hinter mir. Das Bild will nicht in meinen Kopf gehen.

Ganz plötzlich bin ich so müde davon, nichts zu verstehen, dass ich mich wundere, die aufkommende Müdigkeit nicht schon zuvor gespürt zu haben.
Ich lösche die Kerze und lege mich als Baum ins Bett. Wenn ich morgen aufwache, wird das Gefühl verschwunden und alles wieder normal sein, aber das weiß ich ja jetzt noch nicht.
Heute ist ein komischer Tag, denke ich mir noch. Dann schlafe ich friedlich ein.
 



 
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