Ein Geist auf der Landstraße

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sinenomine

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Es scheint, als hätte ein jeder ein allgemeines Bild vor Augen, wenn die Sprache von einer Landstraße ist. Eine gerade oder auch kurvenreiche Strecke, ringsherum geschmückt mit weitreichend atemberaubender Landschaft und wenn die Fahrt in einem Cabrio erfolgt, immer umgeben von einem starken, doch liebevoll umarmenden Wind, ohne Zweifel, dass dieser einen während der Fahrt jemals verlassen wird.

Doch ich bitte diese Vorstellungen zu verwerfen für die Möglichkeit, um die es sich nun handelnde Landstraße, oder sollte ich sagen Straßen, sich vor Augen rufen zu können.

Eine Strecke, die, so weit das Auge reicht, geradeaus geht. Ob sie sich danach in ihrer natürlichen Gegebenheit ändert, ist für den Reiseantretenden nicht auszumachen. Zudem scheint es mir von besonderer Wichtigkeit, die Vielzahl der beginnenden Straßen anzuführen, da diese Situation der gezwungenen Entscheidung eines Weges, der eigentliche Reise zugrunde liegt. Was mit denjenigen passiert, die es nicht meistern sich für einen Weg zu entscheiden, wird zum Schutze der anderen niemals ausgesprochen. Man möchte die Illusion der Freiheit doch wahren, um nicht unnötige Panik auszulösen. Es sei jedoch angemerkt, dass sich der Boden vor den beginnenden Landstraßen durch ausgesprochene Unfruchtbarkeit auszeichnet, ein Verbleiben auf diesem führt dadurch zwangsweise zu einem Verkümmern und Eingehen.

Mit den gegebenen Informationen scheint mir die Situation ausreichend geschildert, um fortzufahren.

Man rufe sich also eine Reihe Menschen, Personen, Individuen, welchen Ausdruck Sie auch immer bevorzugen, vor Augen, die sich allesamt vor einer Unendlichkeit von Wegen tummeln, um sich einen auszusuchen. Was hinter ihnen liegt, ist nicht zu erkennen, so klein man auch die Augen kneift, mit der Hoffnung doch etwas zu erkennen, finden wird man nie etwas; weshalb diese Herkunft einfacherweise, mit „Nichts“ betitelt wird. Eine Verallgemeinerung wirkt bekanntlich immer Wunder, um ein weiteres Nachdenken zu verhindern.

Als Hilfsmittel die Wege zu betreten, es ist in jedem Fall eines nötig, auch wenn sich der Luxus dieser doch stark unterscheidet, bieten sich alle Art von Fahrzeugen an. So gibt es Fahrzeuge für eine Person, Fahrzeuge für mehrere Personen oder gar Busse, für die sich viele Personen zusammentun, um denselben Weg zu gehen; ein Reisen in Gesellschaft ist womöglich einfach angenehmer. Welche Hilfe man bekommt, ist ganz abhängig von dem Standpunkt, den man nun mal hat, man nimmt, was einem möglich ist, auch wenn es einige wenige gibt, die es auf unerklärliche Weise vermögen sich über die anderen hinwegzusetzen und sich die Hilfe nehmen, die für ihre Reise gebraucht wird, um den maximalen Komfort zu gewährleisten. Woher diese, man muss es doch natürliche Stärke nennen, kommt, wird allerdings niemals geteilt, es würde sonst auch Chaos drohen und jeder den gleichen Weg einschlagen, was für die allgemeine Befahrbarkeit der Straßen doch fatal sein würde. Auch gibt es Zweiräder, und davon reichlich, die eine besonders hohe Eigenanstrengung benötigen und zudem nicht sehr schnell vorankommen. Bekommt man keine selbstfahrenden Fahrzeuge, so muss man zwangsläufig auf diese zurückgreifen, ein Zurückbleiben ist doch ausgeschlossen.



Wir wollen uns im weiteren Verlauf auf ein bestimmtes Individuum, das Geschlecht ist hierbei unerheblich, da die Konzentration auf der allgemeinen Sache ruhen soll, beschränken, um die Fehlerhaftigkeit dieses Verkehrssystems, wie soll man es auch anders nennen, aufzuzeigen. Seele nennen wir es, denn was bleibt anderes übrig, wenn man von den äußeren Erscheinungen einer Person absieht. Diese Seele steht also wie jeder andere vor der großen Vielzahl an Wegen und auch wenn keine tickende Uhr über den Köpfen hängt, so herrscht doch eine allgemeine Unruhe, da möglichst jeder seine Reise schnell antreten möchte, um so wenig Zeit wie nötig am Anfang zu verschwenden. Man fühlt sich doch bedrückt, ganz eingeengt von den Eindrücken ringsherum und den vielen Straßen; mehr Richtungen gibt es auch nicht, nur nach vorne und hinter ihnen das Nichts, von dem jedoch eine natürliche Abneigung ausgeht.



„Entschuldigung, haben sie schon alle Landstraßen besichtigt?“ Eine berechtigte Frage, denn die Seele musste schließlich jemanden finden, der bereits Wissen sammeln konnte, um selbst einen Eindruck von jedem einzelnen Weg zu bekommen und sich dann für einen zu entscheiden.

„Bitte was?“, war doch die einzige Antwort und sie schien keinesfalls aufschlussreich.

„Oh, ich möchte gerne von jedem Weg einen Eindruck gewinnen, bevor ich mir einen aussuchen kann.“

„Aber Liebes, du redest ja ganz wirr. Bist du bei Sinnen?“

Fragend blickte die Seele sich nun um und entdeckte bei näherem Hinsehen, dass die meisten doch einfach einen Weg wählten, ganz sorglos ohne Fragen zu stellen, es konnte demnach nicht von großer Bedeutung sein, diese erste Entscheidung.

Die Seele machte sich auf den Weg zu einem Bus und stieg ein. Die Straße schien, soweit man eben blicken konnte, sehr schön und da hier auch eine sorglose Stimmung herrschte, konnte es nur eine angenehme Fahrt werden. Wenn es sich als gegenteilig herausstelle, so wollte sie einfach wieder wenden und einen Bus zurück zum Anfang nehmen.

Die Fahrt gestaltete sich in der Tat angenehm, wenn auch sehr schnell, sodass man Schwierigkeiten hatte, die Landschaft in ihrer Schönheit zu würdigen, weshalb sich die Seele auf den Weg zum Busfahrer machte, um nach einem kurzen Stopp zu fragen; ein wenig Ruhe war nötig, mehr nicht.

Der Fahrer lachte nur und die Seele fühlte, als sei es etwas allgemein Verständliches gewesen, was sie gefragt hatte und doch verstand sie nichts.

„Aber wir halten doch nicht.“

„Ach, ich möchte nur ein wenig frische Luft schnappen, es ist doch sehr stickig geworden.“

„Dann lerne anders zu atmen.“

Eine alberne Antwort, wie sollte die Seele lernen anders zu atmen als es ihr eben angeboren ist.

„Dann möchte ich gerne aussteigen.“

„Wie bitte? Niemand kann auf der Landstraße ohne Hilfe bleiben.“

„Wie dumm von mir, das habe ich auch mitbekommen. Könnten Sie dann womöglich wenden? Wir sind ja noch nicht sehr lange unterwegs, es wäre kein großer Umweg.“

„Wenden?“

„Ja wenden.“

„So etwas gibt es nicht.“

Die Seele verkrampfte und spürte, wie sich mit einem Mal die Aussichten nach vorn verdunkelten, die Sicht aus dem Fenster schien nicht mehr dieselbe wie zu Beginn.

„Gibt es dann eine Notbremse?“

„Eine Notbremse?“

„Ja eine Notbremse.“

„So etwas habe ich noch nie gehört.“



Eine unglaubliche Schwere legte sich auf die Seele, spürte man sie, so musste man davon ausgehen, dass sie den gesamten Bus erdrückte, doch blickte man dann um sich, sah man nichts als Lächeln.

„Vielleicht legst du dich hin, Kind, du bist auch ganz weiß.“

„Wir sind ja alle in demselben Bus, warum lächeln die anderen, wenn die Aussichten nun so dunkel geworden sind? Sicher möchten noch ein paar mit mir wenden, dann könnten wir sie zusammen umstimmen.“

„Aber nein, sehen sie doch, sie tragen die Brillen. Es geht ihnen gut, niemand wollte jemals aussteigen, nicht aus meinem Bus. Haben Sie dir denn keine Brille gegeben?“

Wer ist „sie“, der Seele waren diese Brillen nicht bekannt, auch funktionierten ihre Augen sehr gut, wozu dann eine Brille? Sie wollte doch sehen!

„Du möchtest sehen? Das tut mir leid, Kleiner.“

„Ich verstehe nicht und ich fürchte, ich würde es auch nicht wollen … nein, ich habe Fragen … ja, ich muss sie stellen! Sie sind hier wie mir auffällt der Einzige, der mit mir sprechen mag, würden sie mir wenige Fragen beantworten, dann will ich sie auch sicher nicht weiter stören.“

„Immer zu, mein Kind, die Straße birgt ja doch nichts Neues.“

„Nun gut. Wo sind wir hier genau, je mehr ich versuche mich zu erinnern, warum ich an diese Straßen dort am Anfang gelangt bin, desto weniger fühle ich mich wohl in diesem Bus. Und wer ist ‚sie‘ von denen Sie sprachen, ich habe niemanden gesehen und auch nichts gehört, keiner hat mir jemals eine dieser Brillen angeboten.“

„Ich fürchte ich muss dich enttäuschen, das sind doch die Fragen, die sie alle haben und ‚sie‘ ist eine keine Person, du denkst ganz falsch, warum denkst du überhaupt? Es nützt ja doch nichts!

Dennoch, ich versuche dir etwas zu erklären, auch wenn es bei jemandem wie dir wohl nichts bringen wird.

Nein, nichts bringen kann.

Doch nun gut, diese Wolken, sie sind weiß für alle, nicht schwarz, wie du sie siehst; der Nebel verschleiert dir die Sicht, macht dir Angst, doch für die anderen ist es wie ein Zauber, der sich um die Landschaft legt. Sie sehen auch keine Dunkelheit, es geht nicht mit den Brillen, wirklich schade, dass du keine hast. Jetzt setz dich aber und warte ab, wir sind angekommen, bevor du es merkst, dann ist es ja schon vorbei.“



Die Kraft zu sehen, schien hier doch immer mehr als Fluch, weniger als Fähigkeit. Ach, wie teuflisch die Dinge so zu verdrehen! Wäre sie doch nur eingeladen worden, die Seele, in diese Blindheit, die wohl Zufriedenheit zu sein scheint, dann könnte sie jetzt die Sonne durch die Scheiben sehen und nicht die Scheiben, die sie von dem Rest der Landschaft trennen, an diesem leeren Ort.

„Mir erscheint es doch ganz falsch, das alles. Wie heißt der Ort, wo wir sind? Nicht einmal das wurde mir gesagt.“

„Dann bist du ja ganz verloren. Was es ist, weiß ich auch nicht, aber man nennt es Leben.“

„Leben?“

„Ja Leben.“

„Was weiß man darüber?“

„Aber ich habe dir doch gesagt, ich weiß es nicht.“

„Gibt es einen Sinn?“

„Ich weiß es nicht.“

„Nun, etwas müssen sie doch wissen, sie sind schließlich der Fahrer!“

„Man kann nicht wenden.“

Und die Seele wünschte sich noch einmal diese Schwere auf sich lasten, war es doch das Einzige, was befreite in diesem Bus, doch er tat es nicht und stand nur da; wie konnte man auch sitzen. Doch wollte er auch nicht stehen.

Nur sein wollte er; wie aber hinter diesen Scheiben, ohne Brille, ohne Bremse.



„Ich möchte nur sein, wo geht das?“

„Da bist du hier falsch.“

„Wissen Sie, welche Straße dafür die richtige gewesen wäre?“

„Keine. Wenn du sein und nur sein willst, wärest du im ‚Nichts‘ geblieben, umgekehrt, doch das hat man dir nicht gesagt, da sie das für keine Option halten.“

„So kann ich doch wenden?“

„Aber nein, man kann es doch keinen Wendepunkt nennen, hier im Leben. Dafür liegt es ja viel zu weit außerhalb.“

„Wenn ich nicht wenden kann, werde ich wohl diesen Weg auf mich nehmen müssen.“

„Du redest als wäre es schwer, doch ist es ganz einfach, der Weg, du musst nur hochschauen. Das jedoch mein Kind ist tatsächlich schwer. Wenn du auch nichts besitzt, hast du doch einen Blick, der gewillt ist nach vorne zu schauen und nicht nach oben.“

„Mir scheint als verstünde ich immer weniger, je mehr Sie gewillt sind mir das alles zu erklären und dazu wird es auch immer stickiger, ich bekomme doch kaum noch Luft. Lassen sich die Türen hinten öffnen?

Ich fürchte, ich muss fliehen!“

„Die Hintertür? Wenn man nur hart genug schlägt, öffnet sie sich für manchen; versuche dein Unglück, ich kann dir ja doch nicht helfen.“ Und auch wenn der Fahrer traurig wurde, tröstete er sich mit dem Gedanken, was Leben denn wäre, wenn jeder daran teilhaben könnte.



Wer hätte gedacht, dass der Bus so groß und der Weg zur Freiheit so lang ist. Die anderen bemerkten die Seele am Boden nicht, oder sie sahen ihn nicht durch ihre Brillen, wer weiß. Wer will es wissen?

Mit einem Schlag öffnete sich die Tür, mehr Kraft kam nicht aus der leeren Hülle.



Ob es sich lohnt, stellt sich wohl die Frage, aus der bereits angetretenen Reise nun ganz nackt auf den Boden zu fallen, die letzte Kraft für den Schlag verbraucht; doch sie ist unwichtig, die Seele muss schließlich atmen.



Ein tiefer Atemzug folgte dem anderen. Ob es der Seele tatsächlich besser geht, ist nicht auszumachen, liegt die Objektivität doch tief unter dem Schleier der Sehnsucht verborgen und wer möchte sie schon von dort hervorholen, wenn es sich auch mit dem Schein leben lässt.

„Ein Glück, was für ein Glück!“ Der Seele schien der harte Fall nicht geschadet zu haben, dennoch musste er sich eine Gelegenheit suchen, wieder Fahrt aufzunehmen, hier auf dem Boden will er es noch einmal versuchen, jemand wird ihn schon mitnehmen, so allein auf der Landstraße.

Er begann zu laufen, welche Richtung war inzwischen egal, sahen sie auch beide ganz gleich aus. Je länger er ging, umso mehr fühlte er eine Veränderung und blickte er schließlich an sich herunter, so sah er, dass er begann sich aufzulösen. Nicht mehr einen Körper besaß er, aus Fleisch und Knochen, nein, etwas ihm Fremdes formte ihn nun. Die Seele hatte jetzt Ähnlichkeiten mit einem Geist.

Es konnte sich dennoch wie gewohnt bewegen und setzte so die Reise fort. Als ein Fahrzeug entgegenkam, winkte es und stand auch zur Sicherheit in die Mitte der Straße, wollte es doch sicher erkannt werden und hoffte auch auf Freundlichkeit. Das Fahrzeug jedoch nahm nicht an Schnelligkeit ab und fuhr dann, als wäre es nicht anders möglich, durch Seele hindurch, ohne die geringste Anteilnahme.

„Aber wie kann es sein, dass man durch mich hindurch fährt?“

Seele nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit zu rufen und stärker zu winken, doch auch dieses Mal fuhr man einfach durch es hindurch und Seele merkte etwas. Es war unsichtbar geworden, konnte nicht entdeckt werden, nicht gehört werden und dachte plötzlich nostalgisch an die Scheiben im Bus zurück, die es von dem Rest getrennt hatten. Nun hatte es einen ganz eigenen Glaskasten um sich herum.

„Was nun, wo soll ich hin, was kann ich tun?“ Denn auch die Luft zum Atmen vermag nicht viel, wenn der Körper fehlt, den sie zu nähren sucht.

Seele war nicht lange in dem Bus, noch kürzer auf der Straße und doch kannte es indessen das Gefühl der Verzweiflung, das ohne Aussicht auf Besserung die größte Qual sein musste.

Alles, was der Geist jetzt wollte, war die ihm nun angenehm erscheinende Last der Reise, doch von ihr musste Abschied genommen werden, hatte er doch die Hintertür genommen.

„Es bleibt mir noch der Wendepunkt, den der Fahrer nicht als solchen anerkennen wollte. Mir reicht es als was auch immer es sein mag, mir reicht alles, was mich dieses Gefühl loswerden lässt, ich heiße es willkommen!“ Auch wenn es uns nun glücklich erscheint, mit der getroffenen Entscheidung, dürfen wir uns nicht täuschen lassen. Diese Sehnsucht ist hier nur eine Flucht vor dem Ziel, dem man den Rücken gekehrt hat, kehren musste und das Resultat eines Zwangs kann niemals Glück sein.

So ist das Einzige, was bleibt, die Ausschöpfung dessen, was besteht. Als Geist kann es den Kopf beugen und den Blick wenden, in Richtung Himmel. Denn die falsche Vorstellung der Befahrung aller Wege, zieht Geist des tatsächlichen Gehens von nur einem vor; so dürfen wir es weder Flucht noch feige nennen, ist es doch nichts als die Konsequenz des eben festgestellten Verlangens.

„Ich wollte nicht eine, nicht zwei, sondern alle Straßen als Quelle meiner Sehnsüchte, meines Zwecks, doch mir fehlen gar die Mittel, auf nur einer, dieser, zu fahren; was bleibt also anderes, als den Mond zu jagen?“
 



 
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