Ein geistliches Gespräch

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In der Gaststube sieht man seltsame Garderobenständer, im Raum verteilt. Sie dienen hauptsächlich dekorativen Zwecken. Auf ihnen thronen in zwei Metern Höhe, wie auf sehr hohen Kothurnen, hölzerne Figuren, beinahe lebensgroß. Es sind Männer und Frauen in Volkstracht, Männer und Frauen aus dem Volk früherer Zeiten. Wie ausdrucksvoll die Züge ihrer Gesichter sind, einfach, klar, gütig …

Es ist spät am Nachmittag. Der lange schöne Mainachmittag hat sich erschöpft ins Klosterwirtshaus zurückgezogen. Draußen stehen Linden. Durch die sich begrünenden Zweige erscheint, unscharf wie im Aufriss, die Abtei der Renaissance mit ihrem Eckturm aus gleicher Zeit. Drinnen nimmt man Erfrischungen zu sich, isst belegte Brote.

Ein Scindapsus überwuchert die hölzerne Sprossenwand in der Mitte des Raumes. Hinter ihr sitzt an einem Tisch, mit dem Rücken zu allen anderen Gästen und vom Scindapsus zusätzlich vor aufdringlichen Blicken geschützt, eine dunkel gekleidete Dame. Wie alt mag sie sein? Der Stimme nach eine Vierzigerin. Doch könnte sie ebenso gut jünger wie älter sein.

An der Schmalseite dieses Tisches sitzt, im Profil für jeden sichtbar, ein älterer hagerer Priester, am geistlichen Gewand als solcher kenntlich. Sein Gesicht ist gebräunt, er hat etwas von einem Sportsmann.

Der Priester sagt mit ruhiger und exakt akzentuierender Stimme: „Wie könnte ein Teil das Ganze erkennen? – So fragt schon Pascal, den immer wieder zu lesen ich niemals müde werde.“

Richtig, lässt sich die Dame vernehmen, es gebe da eine fatale Art von Wohlerzogenheit, die im Grunde nichts anderes sei als eine missverstehende Scheu, Berührungsangst, wie man jetzt sagen würde. Aber Mensch gehöre doch zu Mensch! Ihre Mutter habe es allerdings nie gern gesehen, dass sie Albert Schweitzer gelesen habe.

„Sie haben Ihrer Frau Mutter noch immer nicht ganz verziehen?“

Sie könne das nicht völlig ausschließen, sagt die Dame. Damals, diese unglückliche Reise nach Klüsserath … Und sie zitiert erneut Albert Schweitzer, nennt ihn beim Namen, worin sie eine Art Bestärkung zu finden scheint: „Die bedeutungsvollen Stunden kündigen sich nicht an, sondern sie kommen unerwartet.“

Der Priester: „Ich will nicht in Sie dringen …“

Die Mutter sei einer Zeitungsanzeige zum Opfer gefallen!

„Erregen Sie sich nicht mehr. Sie dürfen alles, staunen, wundern, bewundern … Pascal sagt dazu: Der Mensch ist sich selbst der seltsamste Gegenstand der Natur.“

„Wir waren dabei, wir zwei halbwüchsigen Dinger. In einer Konditorei am Marktplatz kam man sich näher. Er gab sich als Weingutsbesitzer zu erkennen.“

Die Dame spricht schnaubend. Vergeblich bemüht sie sich, ihre Erregung zu dämpfen.

Der Geistliche: „Sie müssen nicht weitersprechen. Nur, wenn es Ihnen Erleichterung verschafft …“

Sie: „Am folgenden Tag wurde er auf der Promenade verhaftet! Welche Peinlichkeit: unsere Mutter als Zeugin gleich zur Wache mitgenommen, wir zwei Dinger von Schutzmännern zur Pension eskortiert. Welches Aufsehen, natürlich auch die Presse …O, wo blieb es da, unser Recht auf Glück? Albert Schweitzer …“

„Er meint es anders“, unterbrach sie der Priester. „Aber sagen Sie, was hatte all das zu bedeuten?“

„Sie erraten es nicht? Unsere Mutter war nicht unvermögend …“

„Doch nicht etwa ein Heiratsschwindler?“

Die Dame nickt. Der Priester sieht sie mitfühlend an.

Die Dame hat sich gefasst. „Zum Glück gab es da noch einen weit ärgeren Skandal. Am Ort hatte sich nämlich eben ein Journalist das Leben genommen. Man hatte ihn der Majestätsbeleidigung beschuldigt, zu Unrecht, wie sich bald herausstellte, leider zu spät für ihn.“

„Aber Sie waren gerettet, von Ihnen war die Aufmerksamkeit abgelenkt – ich verstehe, Sie sind abgereist.“

„Doch unterwegs … Ach, fände ich nur die Kraft zum Verzeihen!“

Der Priester: „Sie deuteten eingangs schon an … Ihre Schwester? Da Sie es schon halb ausgesprochen haben, sollten Sie es schließlich ganz tun. Sie werden sich besser fühlen.“

„Wir sahen sie nie wieder. Beim Umsteigen in Frankfurt am Main … Weggelaufen, weggefahren. Viel später erfuhren wir: Sie lebt in einem öffentlichen Haus! In Belgien.“

Die Dame keucht, die Dame schluchzt.

Der Priester, versöhnlich, scheinbar alles auflösend: „Was ist der Mensch im Unendlichen? – Auch das sagt Pascal.“

Sie stehen abrupt auf. Die Dame kommt hinter der Wand mit dem Scindapsus hervor. Sie ist hoch in den Siebzigern, eine magere, nervöse Greisin.

Der Priester führt sie hinaus und murmelt dabei: „Nichts ist unbegreiflicher als zu sagen, die Materie erkenne sich selbst.“

Der Gast am Nebentisch denkt: Es sind noch genug Pascal-Zitate übrig.
 

Wipfel

Mitglied
Hi Arno,

wir sind hier bei Kurzgeschichten. Wozu braucht es da den ersten Absatz? Den würde ich komplett streichen. Und eine unnötige Doppelung hast du drin:
Hinter ihr sitzt an einem Tisch, mit dem Rücken zu allen anderen Gästen und vom Scindapsus zusätzlich vor aufdringlichen Blicken geschützt, eine dunkel gekleidete Dame. Wie alt mag sie sein? Der Stimme nach eine Vierzigerin. Doch könnte sie ebenso gut jünger wie älter sein.

An der Schmalseite dieses Tisches sitzt,
Das bekommst du besser hin, oder? Arno - ansonsten klingt es wie eine Motette. Oder je nach Blickwinkel auch gotesk.

Grüße von wipfel
 
Danke, Wipfel, für die Beschäftigung mit meinem Text. Der erste Absatz ist mir gerade so wichtig. Er soll ein wenig Atmosphäre vermitteln sowie einen Kontrast zu den beiden Gestalten, die dann das Gespräch führen.

Richtig ist der Hinweis auf die Doppelung, habe ich selbst auch schon so empfunden. Da mir nichts Geeignetes einfiel, habe ich mich damit getröstet, es seien ja zwei Absätze.

Das Stichwort "grotesk" nehme ich gern auf. Ja, es ist eine Groteske.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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