Ein Gespräch mit Goethe

Ludowika

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Mein Gespräch mit Goethe

Die Bibliothek, die ich besuche, ist sehr gemütlich eingerichtet. Gleich das erste Buch, das mir auffällt, ist eine Goethe-Biographie mit einem ausdrucksstarken Bild vom Dichter. Schade, denke ich, wie gerne würde ich ihm begegnen und meine Fragen stellen.
„Tun Sie’s doch“ höre ich eine Stimme.
Ich drehe mich um, niemand ist in meiner Nähe. Ich schlage das Buch auf und will lesen.
„Nun, da bin ich, fragen Sie mich!“
Irritiert lege ich meine Scheu ab und beginne mit dem großen Meister zu reden. Herr von Goethe, Sie sagen:
Um zu begreifen, daß der Himmel überall blau ist,
braucht man nicht um die Welt zu reisen,
man braucht nur den Kopf zu heben.
Haben Sie den Kopf gehoben, wie Sie es ausdrücken?
„Ja, immer. Ob ich in Frankfurt lebte, in Leipzig oder in meinem geliebten Rom. Der Himmel ist überall blau.“
Warum sind Sie dann überhaupt gereist, wenn der Himmel überall blau ist? frage ich ihn.
„Das ist eine Erfahrung, die ich erst machen mußte. Und nun weiß ich es.“
Beim Blick aus dem Büchereifenster sehe ich alles grau in grau. Tiefe Wolken jagen dahin. Was nun? frage ich mein Gegenüber, wo ist das Blau des Himmels?
„Schon gut, schon gut. Stellen Sie sich den Himmel einfach blau vor, denn über den Wolken ist er es doch. Oder? “
Während ich über seine Worte nachdenke, entdecke ich auf seinem Schreibpult einen Text von Hiob:

Siehe er geht vor mir über
ehe ichs gewahr werde,
und verwandelt sich
ehe ichs merke.

Ist das Ihr Himmel, Herr von Goethe?
„Nein, das ist mein Lebensmotto. Es hilft mir, mein unruhevolles Leben besser zu verstehen. Ich glaube nämlich, daß ich für die Geheimnisse des Lebens selten eine Stunde fand“.
Das, was Sie gerade gesagt haben, trifft auch auf mein Leben zu. Ich nehme mir, genauso wie Sie es getan haben, viel zu wenig Zeit für eine stille Stunde.
„Ja, so ergeht es wohl vielen Menschen“ sinniert er. „Als ich noch ein Jüngling mit vielen Illusionen war, glaubte ich, der größte Dichter zu sein. Ich stellte mich mit dem Adler hoch droben im Horst auf eine Stufe und mußte einen jähen Absturz erleben. Ich fand mich als Wurm im Staube wieder. Ich fühlte nicht, daß keine Schwingen mir gegeben waren, um empor zu rudern. Immer wieder wurde ich auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen. Heute weiß ich aber, daß ich gerade dadurch so viele Bücher füllen konnte.“
Ich bin so in seine Darstellung vertieft, daß mir die Wandlung, die mit ihm vorgeht, zunächst gar nicht auffällt.
Er nimmt ein Notizbuch in die Hand und zeigt mir seine Eintragungen, die er in Weimar gemacht hat. Ich muß mich erst in die alte Schrift einlesen, und dabei ist er mir behilflich. Er beugt sich über das Blatt und liest mir vor:
„Ich veränderte mein Leben, fand Liebe zur Arbeit und übernahm viele Aufgaben. Im Glücksgefühl der Hoffnung und des Ausharrens badete ich, und der Druck der Geschäfte war schön für meine Seele“.
Ich will ihn nicht unterbrechen - ich spüre, er ist wieder voll in seiner Zeit.
„Ach, ja und dann will ich Ihnen meine Liebe zu Frau von Stein nicht verschweigen. Ganz gleich, was man Ihnen über all die Frauen und die Liebe, die mir begegneten, erzählt hat. Sie dürfen nicht alles glauben. Aber eine herrliche Seele war die Frau von Stein, an die ich geheftet und genistelt blieb.“
Plötzlich sehe ich einen ganz anderen Menschen vor mir. Die Liebe hat ihn gepackt, und eine seltsame Stimmung ist im Raum, der ich mich nicht entziehen kann.
„Ihr Einfluß“, er spricht noch immer von Frau von Stein, „hat mein Leben in ruhigere Bahnen gelenkt und ließ ein Streben nach Reinheit mein Leitmotiv werden. Ich muß Ihnen eingestehen, daß es mir nicht immer gelungen ist, danach zu leben. So habe ich mich, ohne Abschied von Charlotte, auf den Weg nach Italien gemacht. Und dort war ich sehr, sehr glücklich. Ich war am Ziel meiner lang gehegten Wünsche. In Rom, wo ich ein ganzes Jahr verbrachte, habe ich intensiv gearbeitet. Dort sind viele Texte entstanden oder wurden vervollständigt.“
Gerne wüßte ich, ob Sie eines Ihrer Gedichte besonders lieben, Herr von Goethe.
Er denkt nach. „ Mir fällt im Augenblick keins ein. Aber ich glaube, mir gefällt alles, was ich geschrieben habe. Gewisse Ereignisse haben mich zum Schreiben gebracht. Dann sind Texte in mir gewachsen, und ich konnte sie niederschreiben.“
Es heißt, daß Ihre Freunde sich von Ihnen zurückgezogen haben. Man hätte Ihnen die heimliche Reise nach Italien nicht verzeihen können, stimmt das?
„Ja, es stimmt, leider.“
Er steht vor seinem Schreibpult, als wenn er sich festhalten müßte.
„Es war eine schlimme Zeit. Ich war unendlich alleine. Selbst Frau von Stein brachte mir nur noch Kühle entgegen. Ich hatte sie wohl zu oft enttäuscht. Es war furchtbar. Ich konnte diese Leere nicht mehr ertragen, und als ich Christiane Vulpius kennenlernte, holte ich sie, zum Entsetzen der Gesellschaft, ins Haus. Ich lernte sie lieben und nahm sie zur Frau. Fünf Kinder hat sie mir geboren, doch leider blieb nur ein Sohn am Leben. Oft habe ich geglaubt, diese schwere Zeit nicht länger ertragen zu können.“
„Und da geschah es“, sagt er mit aufgeregter Stimme, „in diesen schlimmen Tagen lernte ich Herrn Schiller kennen. Es war wunderbar. Wir konnten unsere Gedanken austauschen, und haben uns gegenseitig bereichert. Ich hatte wieder einen Freund. Leider wurde unsere tiefe Verbundenheit durch Krankheit unterbrochen. Mein Freund Schiller starb sehr bald. Sein Tod hinterließ eine solch große Traurigkeit in mir, daß ich nicht in der Lage war, einen Nachruf zu schreiben. Nein, das konnte ich wirklich nicht. Niemand verstand mich. Wieder war ich alleine."
Es ist sicherlich sehr schwer einen solchen Freund zu verlieren, da fehlen einfach die Worte, unterbreche ich ihn.
„Ja, ja“, stöhnt er auf, „aber ich habe bei Schillers Überführung in die herzogliche Bibliothek den lange fälligen Nachruf geschrieben. Stellen Sie sich das mal vor, nach 21 Jahren konnte ich endlich etwas zum Tod meines Freundes schreiben! Heute bin ich glücklich, daß ich es doch noch getan habe.“
Darf ich Ihre Würdigung lesen?
„Aber ja“, er nimmt ein Heft aus dem Regal, schlägt die Seite auf und reicht es mir. Seine Worte berühren mich tief.

Im ernsten Beinhaus war’s wo ich beschaute
Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten;
Die alte Zeit gedacht` ich, die ergraute.

Während ich weiterlese, höre ich Goethe die letzte Strophe rezitieren

Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?
Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.

„Sehen Sie,“ sagt er, es war immer schon mein Wunsch, daß aus einem Christentum des Wortes, der Gedanken, auch ein Christentum der Gesinnung und der Tat wird.“
Still reicht er mir einen Text herüber, der inhaltlich diese Gedanken widerspiegelt.

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ewge regt sich fort in allen.

Einfach wunderbar die Gedanken dieses Mannes, denke ich. Er hat mich aus meiner Gegenwart in seine Zeit entführt. Stundenlang könnte ich mich noch mit ihm unterhalten, doch ich merke, die Zeit ist um. Während ich mich für dieses ungewöhnliche Gespräch bedanke, nickt er huldvoll und zieht sich in seine Bücherwelt zurück.
 



 
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