Ein Glas Bonbons

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Anonym

Gast
Ich mag den Sommer nicht, das war noch nie anders. Zu grell, zu laut, zu heiß und zu öffentlich! Man sollte ständig jubeln, grillen und gern schwitzen. Ich kann das einfach nicht, die Lebensfreude sackt regelmäßig gemeinsam mit meinem Kreislauf in den Keller. Was für ein letzter Zufluchtsort bei den Spinnen zwischen dem Gerümpel!

Es war auch im Sommer, vor mehr als sechzig Jahren, als meine geliebten Großeltern sich für volle sechs Wochen verabschiedeten, um tausend Kilometer weit wegzufahren.
Meine Omi, mein Fluchtpunkt und Ruhepol, täglich vielfach - wie sollte ich die Zeit ohne sie überstehen? Ich war untröstlich, hatte noch keinen Begriff von Zeit und Entfernung. Aber tausend war viel, das war mir klar, und die sechs Wochen fingen überhaupt erst an, als der Kleinwagen hinter der Straßenbiegung der Kleinstadt verschwunden war.

Allerdings hatte meine Omi mir etwas dagelassen: ein Glas voll mit Bonbons. "Nimm jeden Tag einen, und wenn der letzte gegessen ist, sind wir wieder da."
In der Folgezeit betrachtete ich oft das Bonbonglas genau, ob es denn schon leerer wurde. Auch der Gedanke der Zeitbeschleunigung kam mir manchmal, als ob die sechs Wochen sich durch täglich doppelte Entnahme halbieren ließen. Aber die Vereinbarung war nun einmal eine andere, und daran hing ja auch das Rückkehrversprechen. Täglich wartete ich ungeduldig, das Glas ein kleines bißchen leerer machen zu können, das half mir.

Sie kamen wirklich zurück, als der letzte Bonbon, der schon ein wenig am Glasboden geklebt hatte, andächtig gelutscht war. Ich bekam ein Mitbringsel als Geschenk, und rückblickend schrumpften sechs Wochen zu fast nichts. Die tausend Kilometer auch, sie waren also wirklich überwindbar.

So wie in jenem Sommer habe ich wohl später in keinem mehr gewartet und gelitten - bis zu diesem Jahr. Die Hitzewellen treiben mich in den Keller und rauben mir den Schlaf. Unter meinem Fenster auf dem verdorrten Rasen wird gegrillt, auf die tropische Hitze angestoßen und gejubelt. Es ist doch Sommer!

Ich habe wieder ein Glas mit Bonbons stehen, jeden Tag nehme ich einen. Mir ist ja schon aus Kindertagen klar, daß sich Abläufe nicht beschleunigen lassen, die astronomischen schon gar nicht
Aber ich weiß, daß der Herbst beginnt, wenn der letzte Drops gelutscht ist..
 

anbas

Mitglied
Hi Anonymus/Anonyma,

diesen Text habe ich gerne gelesen. Er gefällt mir wirklich gut. - Doch warum steht er im Schatten der Anonymität? Er gehört meiner Meinung nach raus ins Licht ;) (z.B. Kurzprosa).

Liebe Grüße

Andreas
 

Anonym

Gast
Hallo Andreas, danke für Deine lieben Grüße! Tatsächlich hatte ich meinen Text für die Foren Kurzprosa oder Tagebuch vorgesehen, allerdings bewege ich mich schon seit geraumer Zeit nur noch im Anonymen Forum. Bei Kenntnis des Autors macht man sich unwillkürlich ein Bild von ihm und ordnet seine Texte dann unbewußt nach "passend" und "unpassend" ein. Anonym gewinnt ein Text den Charakter einer Flaschenpost und wirkt ohne subjektive Vorannahmen. Liebe Grüße Anonyma
 

molly

Mitglied
Die Omi weiß, wie sehr das Enkelkind an ihr hängt. Welch liebevolle Idee von ihr, dem Kind die (Zeit)Bonbons zu schenken.
Und die Erinnerung an dieses Bonbonglas gibt jetzt dem hitzegeplagten Menschen Kraft, bis zum Herbst durchzuhalten.;)

Eine sehr schöne Geschichte!

Viele Grüße

molly
 

Anonym

Gast
Hallo Molly, danke für Deinen lieben Gruß! Einige Erlebnisse wirken wohl in der Tat durch ein ganzes Leben fort; um so wichtiger ist es, was man Kindern mitgibt auf die Reise. Diese Erfahrung habe ich gern weitergegeben. LG Anonyma
 



 
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