Ein Gleichnis / Ein gleiches Gleichnis (Sonettpaar)

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4]I Ein Gleichnis

Die man am Daumen schnell vorbei
Läßt flattern - Daumenkino nennst
Du dieses Blätter-Bild - Du kennst
Den Zauber dieser Spielerei

Doch mich reizt nicht so sehr die Schein-
Bewegung, ihr Erscheinungs-Sinn
Nein - durch die Seiten seh ich in
Den Bindungsrücken, wo sich fein

Die Blätter in der Achse einen -
Hinten, wo die Heftungsstelle
Still verbleibt, wenn auch der schnelle

Wechsel vorn vorbeijagt. Und
Im Schattenglanz seh ich den Grund
Als der Erscheinung Sein erscheinen


[ 4]II Ein gleiches Gleichnis

So auch, wenn auf der Fahrt durch Ackerland
Ich auf der Seite seh gefurchtes Feld
Den Mais, in Reihen parallel gestellt
Ich schau hindurch bis hin zum fernsten Rand

Zum Horizont, zum Fluchtpunkt, der dort steht,
Und rase quer zur Reihenschar, berührt
Von tausend Strahlen. Nie jedoch verliert
Der Strahlenstern sich, weil er mit mir geht

So schau durch Deine Wechsel ich Dein Ich
So finde ich im Tatenfluchtpunkt Dich -
Steht quer zu mir auch alles, was Du tust:

Vorbei an mir fliegt, einer Landschaft gleich,
Dein Laufen, Lernen, Tun begegnungsreich
Dahinter schlafend-wach Du Auge ruhst
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich habe das Sonett erst heute gelesen. Es passt zu einer anderen Diskussion im Forum, denn Du verwendest auf geschickte Weise Enjambements, die teilweise einen Hakenstil (eine Ansammlung "harter" Enjambements bilden.

Die Wirkung ergibt sich durch den Kontrast zwischen Satz- und Gedichtstruktur, sie verstärkt hier das Gedicht.

Ich lese das Gdicht in verschiedener Weise. Gut gefällt mir eine Betrachtungsweise, in der es Dichter darstellt, die Dichtkunst.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Danke, Bernd!

Sehr klar gesehen, und mehr:
Ich lese das Gdicht in verschiedener Weise
Das freut mich besonders. Ursprünglich ein Liebesbrief, aber mit dem kühlen Strukturbild der Fluchtpunkt-Perspektive ein "Durchblick" ins Unendliche, der mit anderen, mit allen entsprechenden "Durchblicken" kongruiert. Die Zeilenparallelen der Verse in vielen Gedichten selbst so zu sehen wie die durch-schauten Saatreihen oder Furchen (im zweiten) oder die vorbeiblätternden Blätter (im ersten Lied), - ja, oh ja!
Und so auch weitere "Durchblicke", besonders auch zwischen kommunizierenden Wortwechseln, durch die gesprochenen und gehörten Sätze hindurch ins Ich bzw. Du des jeweils anderen. Und durch die zeitlichen Ereignisse (das "Werden") hindurch ins Begreifen der allzeitgültigen Identität (von Sein und Nichts).
 



 
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