Ein guter Wurm frisst alles

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Es bleibt für immer sein Geheimnis, wie er die Standesbeamtin dazu gebracht hat, Annelida, ohne Bindestrich, als Namen für seine neugeborene Tochter eintragen zu lassen. Manche sagen, Werner Endrulat säße der Schalk im Nacken. Andere sprechen davon, er wäre besessen von seiner Leidenschaft, der Helminthologie, der Wissenschaft von den Würmern, der er einen großen Teil seines Alltagslebens unterordnet - Annelida ist der zoologische Fachausdruck für Ringelwurm. Das mit der reinen Besessenheit ist so nicht ganz richtig, Werner hatte auch andere Interessen. Wahr ist allerdings, dass er seine Ehefrau Helma gerne Helmi nennt; unwahr, dass er sie gezielt wegen ihres Vornamens auserkoren hat. Er hätte sie auch ohne direkten Bezug zur Namensbezeichnung seines Hobbys geheiratet. Seine Faszination für das Leben der Ringelwürmer ist allerdings beeindruckend. Und dies ist der Tatsache geschuldet, dass er schon als kleiner Junge mit sich schlängelnden Tieren konfrontiert wurde. So beobachtete er seine Eltern, wie diese Aalgerichte zubereiteten und verzehrten: von sich windenden Tieren bis zur leckeren Aalsuppe, oder oft auch als Räucher-Aal, ganz einfach aus den Händen gegessen. Das alles geschah vor dem Hintergrund des Berufs seines Vaters, der Fischer war und sich auf den Aalfang spezialisiert hatte. In einem Alter von sechs Jahren etwa, kam es zu seinem ersten innigen Kontakt mit einem Ringelwurm, einem Regenwurm von enormer Größe. Werner sah vorher den Erwachsenen dabei zu, wie diese einen dunkel-bronze glänzenden, geräucherten Aal genüsslich verspeisten. Sie hielten diese Köstlichkeit in beiden Händen vor ihren Mündern und bissen am Körperende hinein, um dann den Fischkörper zwischen den Zähnen langsam bis an das Kopfstück zu ziehen. Das, was an den Zähnen haften blieb, schien sehr wohlschmeckend zu sein. Allein die dabei zu vernehmenden, wohlig schmatzenden Geräusche waren es wert, kopiert zu werden. Werner mochte damals noch keinen Fisch essen, wollte es den Älteren aber gleichtun und verspeiste deshalb auf ähnliche Art einen Regenwurm von erheblicher Länge und Umfang. Seine kognitiven Fähigkeiten und seine Motorik waren in dem Alter so weit ausgebildet, dass er das Essensritual der Erwachsenen mit seiner Behelfslösung, dem Wurm, perfekt nachahmen konnte, inklusive der Geräusche. Was darauf folgte, war ein lautes, anerkennendes Lachen der anderen. Lediglich seine drei Jahre ältere Schwester verzog angewidert ihr Gesicht und wendete sich ab.

Werners Vater nahm ihn in späteren Jahren öfter auf seinem Fischkutter mit auf See, sofern es die Witterungsverhältnisse erlaubten. Der Junge sollte sehenden Auges erfahren, wie der Vater das Geld für den Unterhalt der Familie verdiente; eine geplante Nachfolge als Fischer war nicht zwingend vorgesehen. Und bei einem dieser Fischzüge wurde die Faszination für Ringelwürmer manifestiert. Ausgerechnet auf See, wo man an ganz andere Tiere als Würmer denkt, erbeuteten sie als Beifang eine sogenannte Seemaus Dieser vielborstige, in allen Regebogenfarben schillernde Ringelwurm, lebt auf dem Meeresboden und hat mit der herkömmlichen Maus überhaupt nichts zu tun; es ist vermutlich sein borstiges, haariges Äußeres, das zu der Bezeichnung Maus führte. Werner war vom ersten Augenblick an vernarrt in dieses putziges Kleinwesen. Zurück an Land, beschäftigte er sich gezielt mit den zoologischen Details dieses Kriechtiers und dessen Artgenossen, den Ringelwürmern. Er ging bald dazu über, sich im breiten Umfang mit dem Fachgebiet Helminthologie zu befassen. Zu diesem Zeitpunkt gab es für Werner Endrulat nur einen Berufswunsch, nämlich den des Wurmforschers. Doch spätestens ab der achten Klasse wurde ihm bewusst, einen solchen Beruf könne er ohne Studium nicht ausüben; das hierfür notwendige Abitur war für ihn illusorisch. Der Grund, er würde mit Sicherheit nicht die schulischen Voraussetzungen für einen solchen Schulabschluss erlangen können.

So war es die richtige Entscheidung, mit einem soliden Hauptschulabschluss ein zu ihm passendes Handwerk zu erlernen. Er machte eine Ausbildung zum Steinmetz. Und bei dieser Berufswahl hatte Werner bereits strategisch für sein weiteres Leben geplant. Durch diesen anstrengenden Beruf körperlich genügend gefordert, ersparte er sich die Suche nach einer passenden Betätigung als Ausgleichssport. Für seinen geistigen Ausgleich waren seine Privatstudien auf dem Gebiet der Ringelwürmer bestens geeignet. Und tatsächlich nahm dieses Hobby später einen wesentlichen Platz in seinem Leben ein. In seiner Tätigkeit als Steinmetz war Werner überwiegend mit dem Bearbeiten von Grabsteinen beschäftigt, was eine gewisse Nähe zu Tod und Beerdigung mit sich brachte. Er wusste viel über diese Themen. Und so war es nicht verwunderlich, dass er in privater Runde oft einen fundierten Beitrag liefern konnte, sobald das Thema Beerdigung anstand. Meistens ging es um die Art der Bestattung, im Falle eines Falles. Seine Familie neigte traditionell zur Seebestattung, während die meisten seiner Freunde eine Feuerbestattung vorzogen. Bei beiden Gruppen war die Vorstellung, als Leichnam von Würmern gefressen zu werden, dafür ausschlaggebend. Werner Endrulat wusste es besser. In der heutigen modernen Zeit ist die Beschaffenheit von Särgen so robust, dass keinerlei Kriechtiere die Holzsärge durchdringen können - außerdem sind Würmer Vegetarier. Die Verwesung der biologischen Masse geschieht auf enzymatischem Wege. Der Ruf seiner Würmer war gerettet.

Aber Werner Endrulat, dieser Schelm, wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich nicht auch noch post mortem einen Wurm-Gag erlaubt hätte. Die biochemischen Vorgänge bei der Vergänglichkeit menschlicher Überreste missachtend, meißelte er wider besseren Wissens in einen Grabstein aus Blaugranit den Satz: „EIN GUTER WURM FRISST ALLES“. Dieser Stein müsste später passend zu seiner Beerdigung nur noch mit seinen Daten vervollständigt werden.
 



 
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