Ein Kind dieser Stadt

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Silea

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Guten Morgen, alte Stadt. Wie glücklich bin ich, dich jeden Morgen nach dem Erwachen wieder zu finden, ein sicherer Hafen nach der Wanderung durch die unwirklichen Täler und Wälder der Träume. Doch, ja, auch du veränderst dich. Doch deine Straßen, Plätze und Gebäude sind untrennbar verbunden mit der Geschichte meiner Familie. Jene, die mir geblieben sind und alle, die längst von uns gegangen sind.
Während ich Kaffee koche, sehe ich aus dem Küchenfenster den Turm der Bartholomäuskirche, drüben im alten Stadtteil Sandhofen, woher mein Vater stammte. Ich denke: Guten Morgen, Vater, und ein Gefühl der Geborgenheit durchflutet mich. Wie ein Monument steht er dort in weiter Entfernung und scheint mir zuzuwinken und zu rufen. Guten Morgen, mein Mädchen. Vergiss deinen alten Vater nicht. Wie könnte ich, denke ich empört und ich antworte ihm: Er ist noch immer jeden Tag bei mir. Seit mehr als dreizehn Jahren. Und du, alter Turm, trägst sein Gesicht.
Etwas später gehe ich die Hauptstrasse vom Stadtteil Schönau entlang. Die Straßenbahnschienen, die deine Vororte mit der Innenstadt verbinden, machen bei der alten Schule einen Bogen. Die Schule ist nicht nach irgendeiner berühmten Persönlichkeit benannt, sie heißt nur einfach alte Schönau-Schule. Und sie trägt Hildes Gesicht. Guten Tag, Mutter, denke ich, und ein Gefühl der Dankbarkeit erfüllt mein Inneres. Knöpf deinen Kragen zu, sagt die alte Schule besorgt zu mir. Hast du auch richtig gefrühstückt? Nein, nur zwei Tassen Kaffee. Aber mach dir keine Sorgen, es geht mir gut. Wie geht es euch dort drüben?
Mein Großvater war einer der ersten Siedler hier draußen, und natürlich gab es am Anfang keine Schule, keine Kirche, keine Amtsstube und all das. Die Kinder mussten zu Fuß auf den Waldhof, um zur Schule zu gehen, und das war im Winter vor allem unangenehm, denn Straßenbeleuchtung gab es ebenfalls nicht. Als dann die Schule gebaut wurde, die nach irgendeiner Nazigröße benannt wurde, waren die Kinder natürlich sehr froh. Es gab eine große Einweihungsfeier und fortan hatte die Schönau ihre Schule. Diese Geschichte hat unsere Mutter oft erzählt. Nach dem Krieg freilich wurde der Nazi-Name nicht mehr verwendet, und so kommt es, dass die Schule bis heute keinen „richtigen“ Namen hat. Aber sie wird mich immer an meine Mutter erinnern.
Ich lenke meine Schritte nach Westen, Richtung Sandhofen. Ganz zugebaut ist die Flur zwischen den beiden Stadtteilen noch nicht, einige Äcker werden nach wie vor bestellt. Schließlich gelange ich zur Kreuzung an der Bundesstrasse, wo die riesige Wiese liegt, die zum Werksgeländer der Papierfabrik gehört. Hier war es, wo meinem Bruder Peter damals der Hund ausgerissen ist. Er hatte ihn auf der Wiese immer frei rennen lassen und angebunden, sobald er wieder in die Stadt kam. Doch einmal hatte ihm ein Kaninchen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es hatte nichts weiter getan als kurz aufzutauchen – doch dieser Augenblick hatte Paul gereicht, um allen Gehorsam und sämtliche Loyalität gegenüber seinem Herrn zu vergessen. Er raste davon wie ein Pfeil, dem Kaninchen hinterher. Und egal, wie laut Peter auch schrie – Paul entfernte sich immer weiter, bis er schließlich in der Ferne verschwunden war. Mein Bruder machte sich niedergeschlagen auf den Heimweg und überlegte, wie er es meiner Schwägerin am besten beibringen konnte. Er überlegte noch immer, als er in die Leinenstrasse einbog. Als er sich schließlich seinem Haustor näherte, lag dort vor der Tür etwas Braunes. Ahnungsvoll beschleunigte er seinen Schritt, und das braune Etwas sprang auf und begrüßte ihn freudig. Peter fielen tausend Steine vom Herzen. Er hatte ihn schon überfahren oder vom Hundefänger eingefangen geglaubt. So war eben Paul. Und auch an ihn erinnerst du mich oft mit deinen Wiesen und Feldwegen.
Mein Weg führt mich jetzt nach Sandhofen hinein. Dort, ein paar Straßen weiter, ist der Rhein. Da wo du an Ludwigshafen grenzt und man hinüberblicken kann in die Anlagen der riesigen Chemiefabrik. Der Rhein ist mir ein alter Freund, und er ist untrennbar verbunden mit Bernd, meines Bruders bestem Freund. Morgens um vier, halb fünf Uhr aufzustehen um zu angeln ist nicht jedermanns Sache. Aber damals, als ich ein Kind war, war Bernd im Sommer oft zu dieser unchristlichen Zeit unterwegs. Einmal, da war ich etwa elf Jahre alt, hat er mich mitgenommen. Und während er am Ufer saß – leise, damit bloß kein Fisch verscheucht wurde – strich ich durch das Ufergebüsch und sammelte am Strand Steine. Es dämmerte langsam, und als die Sonne endlich ganz aufgegangen war, fiel ein Schwarm hungriger Mücken über uns her, so dass wir in Windeseile die Sachen zusammenpackten und fliehen mussten. Bernd angelt längst nicht mehr, aber wir lachen noch immer darüber, wenn wir daran denken.
Um die Ecke ist das Kriegerdenkmal. Es erinnert an den Vater und den Großvater meines Vaters, die beide in Frankreich gefallen sind, jeder in einem anderen Krieg. Unser Fritz, hat meine Großtante oft gesagt, war ein guter Kerl. Ich habe meinen Großvater nicht gekannt. Ich kenne nur die Geschichten von ihm, ein paar alte Fotos und diese schwarze Säule hier. Aber du hast ihn auch gekannt, er ist über deine Straßen gegangen, die gleichen Straßen wie ich, und das verbindet uns.
Ich erledige in Sandhofen meine Angelegenheiten, dann steige ich in die Straßenbahn in Richtung Innenstadt. Der Messplatz, wo zweimal jährlich der große Jahrmarkt stattfindet und das Schwimmbad und die Eislaufhalle stehen, birgt die Erinnerung an meinen Großvater mütterlicherseits. Das heißt, eigentlich nur das Schwimmbad. Denn für dieses Freibad wurde in den dreißiger Jahren die Kleingartensiedlung, wo er mit Oma und meiner Mutter wohnte, abgerissen. Daraufhin hat er das Pachtgrundstück meines Großonkels gekauft und unser Haus gebaut. Auch das Haus meines Urgroßvaters hat hier in der Nähe gestanden. Mein Urgroßvater war Zimmermann gewesen. Er war ursprünglich aus Sachsen gekommen, hatte Franke mit Namen geheißen und sich hier in Baden niedergelassen. Ich fand das als Kind immer komisch. Weniger komisch fand ich die Geschichte, wie er nach dem Krieg den Dachstuhl der Jesuitenkirche aufgrund einer mündlichen Abmachung wieder instand gesetzt hat, dafür nie bezahlt wurde und seinen Laden dichtmachen musste. Mein Urgroßvater hatte sieben Kinder. Früher waren die Frankes katholisch gewesen. Aber nach dieser Sache ließ mein Großvater seine Kinder evangelisch taufen. So war meine Mutter und ist meine Tante Elsa evangelisch, und Peter und ich ebenfalls. Findest du es nicht bemerkenswert, dass die Jesuitenkirche sicherlich viele Leute kennen, die Geschichte mit dem Dachstuhl aber kaum einer? Was mag dieser Pfarrer für ein Mensch gewesen sein. Du musst ihn doch gekannt haben.
Großmutters Vater dagegen hatte ein Milchgeschäft in der Neckarstadt. Dieses Viertel liegt nahe an der Innenstadt und am Neckar. Die Straßenbahn durchquert es jetzt, um dann über die Brücke in die Innenstadt zu fahren. Anfang des Jahrhunderts, als die Flüsse im Winter noch kälter waren und meterdick zufroren, ist mein Urgroßvater mit seinen Kindern auf dem Neckar Schlittschuh gelaufen. Damals wurden auf dem Eis Buden aufgestellt mit Glühwein- und Zuckerwerkverkauf. Meine Großmutter war das jüngste von sechs Geschwistern und wuchs ohne Mutter auf, denn meine Urgroßmutter starb am Kindbettfieber. Aber die Neckarstadt und der Neckar, besonders im Winter, erinnern mich an beide.
Später am Abend, ich bin auf dem Heimweg. Kurz vor der Brücke steige ich aus der Straßenbahn und überquere die Brücke zu Fuß. Es ist schon dunkel. Das Wasser des Neckars glitzert im Widerschein der Lichter der Stadt. Ich bleibe stehen und blicke hinab. Großtante Emma fällt mir ein und der Witz mit der versenkbaren Nähmaschine. Still lächele ich vor mich hin.
Solche Geschichten drängen sich noch viele in meinem Innern. Eigentlich kann ich in dir keinen Schritt tun, ohne an jemanden zu denken oder mich an eine Geschichte aus meiner Familie zu erinnern, und es würde ein ganzes Buch füllen, sie alle zu erzählen. Sie hätten in jeder beliebigen Stadt geschehen können, und wahrscheinlich hätten die Alten und auch wir sie dann ganz genauso gerne erzählt. Aber sie sind in dir passiert. So, wie ein Kind heranwächst in der Mutter, so ist meine Familie in dir gewachsen. Aber anders als ein Kind, dass mit der Zeit immer mehr seinen eigenen Weg geht und sich von der Mutter entfernt, fühlen wir uns von Generation zu Generation mehr mit dir verwachsen. Als Kinder spielen wir auf deinen Wiesen, als Erwachsene gehen wir über deine Straßen und nach unserem Tod senkt man uns in deine kühle Erde. Du bist viel mehr als nur irgendeine Stadt. Du bist meine Stadt. Und wenn ich lange schon tot bin, wird mein Geist noch durch deine Straßen und über deine Plätze wandern, an denen ich einst gelebt habe. Und vielleicht werden die, die vor mir waren, und die, die nach mir kamen bei mir sein.
 

Zeder

Administrator
Teammitglied
Hallo Silea,

"ein Kind dieser Stadt" ist der Titel Deiner Geschichte - das merkt man beim Lesen Deines Textes überdeutlich! Du musst sie sehr gerne haben, Deine Stadt.

Eigentlich kann ich in dir keinen Schritt tun, ohne an jemanden zu denken oder mich an eine Geschichte aus meiner Familie zu erinnern, und es würde ein ganzes Buch füllen, sie alle zu erzählen.
Vielleicht solltest Du genau das einmal versuchen?

Viele Grüße,
 

Silea

Mitglied
Aufschreiben?

Du machst mir Mut. Das Problem ist: Im Moment habe ich vier oder fünf Geschichten angefangen (die Familiengeschichten sind noch nicht mal dabei) und nie Zeit weiterzumachen. Hast Du vielleicht ein paar Organisationstips? Ein Ehemann, zwei Kinder, zwei Kater, und "nebenbei" noch einen Job. Ächz! Für Hobbies bleibt da nicht mehr viel übrig.

Viele liebe Grüße
Silea
 



 
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