Ein kleines Tröpfchen Staunen

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Dimpfelmoser

Mitglied
Ein kleines Tröpfchen Staunen

Ein kleines Tröpfchen Staunen senkt sich sanft ins Kerzenlicht.
Es hört das Singen heller Stimmen durch die Scheibe nicht,
noch ahnt es von den Worten, die der Prediger dort spricht.
Sacht streichelt es das Spiegeln auf dem gläsernen Gesicht
und schreibt mit seiner Seidenspur für Dich dieses Gedicht.

Das kleine Tröpfchen Staunen spricht die Sprache, die entsteht,
wenn eines langen Tages Leuchten schwach wird und vergeht.
Es braucht den Ton nicht, keinen Spruch, kein Kreuz und kein Gebet,
nur Achtsamkeit benötigt es. Denn sie ist’s, die versteht:
Im Unscheinbaren wird der Welt Beschaffenheit konkret.

Siehst Du ein kleines Tröpfchen Staunen, schau genauer hin.
Auch wenn es wesenlos erscheint, steckt so viel für Dich drin.
Sein Dasein ist ein flüchtiges, und dennoch ein Gewinn:
In seinem steten Schwinden schenkt sein Schimmern Dir den Sinn
für jedes Tages oder jedes Jahres Neubeginn.
 

wirena

Mitglied
@Clown - ich erlebe beim Lesen "das Flüchtige":

Staunen ist mMn. nicht allgegenwärtig. Erlebe Staunen als überraschende Gedanken, Gefühle, Erlebnisse, die vorüberziehen - teilweise mit "wow" zum Ausdruck gebracht werden, ohne dass weitere Gedanken/Analysen erfolgen. In diesem Sinne flüchtig -

Denke es ist dem Autor überlassen, ob Klein -oder Grossschreibung richtig ist - sehe und erlebe nun beide Varianten -

Danke Clown fürs Nachfragen - LG wirena
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Dimpfelmoser,

dein Gedicht finde ich schön und berührend zugleich. Ich dachte erst, dass mich die jeweils fünffach auftretenden Endreime stören würden, aber durch die Länge der einzelnen Verse fiel das für mich nicht so stark ins Gewicht.

Mein einziges Problem betrifft die Eingangsmetapher: Ein kleines Tröpfchen Staunen

Hier finde ich, dass die interne Metaphernlogik nicht aufgeht. Staunen ist etwas nicht Materielles, ein Tropfen dagegen schon. Außerdem fällt ein Tropfen nach unten, aber wieso sollte Staunen auch nach unten fallen? Das ergibt für mich keinen richtigen Sinn.

Zu wirenas Einwurf bezüglich der Groß- oder Kleinschreibung hat sich Clown seiner Klasse ja bereits richtig geäußert: Du hast es, wie du sicherlich selbst auch weißt, korrekt geschrieben.

Insgesamt habe ich dein Gedicht trotz meines kleines Einwandes gern gelesen.

Viele Grüße
Frodomir
 

Dimpfelmoser

Mitglied
Liebe @Aniella, @wirena, @Clown seiner Klasse, @Frodomir und @Hundsstern,

ich danke euch zunächst sehr dafür, dass ihr euch mit dem Gedicht auseinandergesetzt habt. Das freut mich wirklich, da mir selber dieser kleine Text doch recht wichtig ist (insofern, @Aniella, spiegelt Dein Kommentar mein eigenes Empfinden).

Zur Schreibung des Wortes „flüchtiges“ muss ich so nichts weiter anmerken. Ich verzichte ja ansonsten gerne auf die Großschreibung in Gedichten (nicht hier, wo es für mich nicht wirklich passen würde); die Kleinschreibung vergrößert für mich häufig die Interpretations-/Lese-Spielräume, außerdem gefällt es mir häufig einfach besser (ist eine schlichte ästhetische Empfindung).

Deine Anmerkung, @Frodomir, finde ich spannend. Du hast recht, das Staunen ist immateriell, anders als das Tröpfchen, welches hier den Ausgangspunkt des Textes darstellt. Dennoch ist das Bild für mich selber stimmig.
Ich versetze mich in einen Betrachter, der eben dies, das Tröpfchen, z. B. an einer Glasscheibe wahrnimmt. Es „sitzt“ dort vielleicht zunächst ohne Bewegung, vielleicht läuft es langsam das Glas hinunter. Ich sehe dies, und mein Blick, mein Staunen, meine Empfindung in diesem Moment versinkt dabei gewissermaßen in dem kleinen, oberflächlich betrachtet unbedeutenden Objekt, nimmt, saugt meine Aufmerksamkeit in sich auf. In diesem Augen-Blick verschmilzt dieses materielle Objekt mit meiner immateriellen Empfindung, und ich manifestiere als Betrachter diese Empfindung in dem so unscheinbaren Ding, von dem ich, ohne darüber nachzudenken, weiß, dass es vergänglich ist, schon allzu bald seine Form verloren haben und mein Staunen ebenso verschwunden sein wird. So wird es zum kleinen Tröpfchen Staunen, und sein Hinab-Fallen (oder vielmehr das Hinablaufen an der Scheibe) ist in diesem Moment Symbol dieser Vergänglichkeit, auch der Vergänglichkeit meiner Empfindung, die es nun verkörpert. So wie eben alles vergänglich ist.

Die Richtung (bzw. die physikalische Eigenschaft des Tropfens und sein daraus resultierendes Verhalten), was Dich, wenn ich es richtig verstehe, in diesem Bild etwas irritiert, ist für mich hierbei nicht weiter ausschlaggebend, empfinde ich selber nicht als irritierend (und habe beim Formulieren darüber tatsächlich auch nicht nachgedacht, eben daher ist es ja interessant, wie dies bei Dir wirkt). Es ist eher diese Eigenschaft einer schon viel zu bald nicht mehr sicht- und greifbaren Sache, die mich am Bild reizt. Sich selber zu Aufmerksamkeit, Achtsamkeit anhalten, diese gerade auch Alltäglichem, vermeintlich Unbedeutendem zu schenken und so ein Stück wegzukommen von, nach meiner subjektiven Einschätzung, viel zu häufig praktizierter Oberflächlichkeit im Umgang mit dem, was uns alltäglich umgibt und begegnet (einschließlich anderer Menschen) könnte die Lehre sein, die das kleine Tröpfchen Stauen vermittelt.
Etwas viel Text für Deine Anmerkung, sorry.

LG Dimpfelmoser
 

Ubertas

Mitglied
Lieber Dimpfelmoser,
ich finde dein Gedicht ergreifend und wunderbar tiefsinnig.
In dieses kleine Tröpfchen Staunen hineinsehen zu dürfen, dafür danke ich dir.
Liebe Grüße,
Anita
 

Dimpfelmoser

Mitglied
Liebe Anita,

herzlichen Dank für Deine wertschätzende Reaktion zu diesem Gedicht. Darüber freue ich mich sehr.

Liebe Grüße
Dimpfelmoser
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Dimpfelmoser,

vielen Dank für deine Antwort auf meinen Kommentar. Du hast sehr liebevoll beschrieben, weshalb du die genannte Metapher verwendet hast. Auch wenn ich es als Leser deines Gedicht dennoch im genannten Maß unlogisch finde, kann ich nun aber nachvollziehen, was dich zu diesem Bild bewegt hat. Und das will ich dir natürlich nicht wegnehmen. Auch wenn es für mich an dieser Stelle vielleicht nicht so stimmig ist, ist es doch für dich die richtige Wahl gewesen, und das zählt am meisten, wie ich finde.

Viele Grüße
Frodomir
 

wirena

Mitglied
@Frodomir
Hallo Frodomir - der Mensch besteht zu 50 bis 60 % aus Wasser, der Rest ist Staunen :)
d.h. Wasser bestaunt Wasser - dies so meine Analyse, die du möglicherweise mit Kohärenz, wie ich Kohärenz verstehe, nachvollziehen kannst.

Zudem fällt ein Tropfen nicht nur nach unten, sondern spritzt auch nach oben - dieses Bild kennst du doch auch, nehme ich an -

Wünsche Dir und der geamten Runde einen schönen, möglichst freudvollen Tag - wirena
 
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