Ein komischer Kerl

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Marc Hecht1

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„Oh, schon halb drei! Na, dann machen Sie mir mal schnell ein gepflegtes Bier, Herr Thießen.“
Kuddel Thießen sah erstaunt auf den forschen Gast. Ein komischer Kerl war das. Der – und auch die anderen. Sein Gasthof hatte noch gar nicht geöffnet, er wollte nur schnell die Theke wischen und die Gläser polieren. Aber neuerdings waren ja die Journalisten da, die Schreiberlinge aus Hamburg. Die wohnten jetzt bei ihm. Seit ein paar Tagen schon. Und die kamen, wann sie wollten, Öffnungszeiten interessierten die gar nicht, das hatte Kuddel schnell bemerkt.
Der hier setzte sich jetzt umstandslos vor ihn an den Tresen, lächelte ihm zu. Und Kuddel nahm also ein Glas aus dem Regal, zapfte. Gekonnt hielt er das Glas unter dem Zapfhahn, damit nicht allzu viel Schaum aufstieg.
Sein Gast sah ihm interessiert zu. „Sie machen das ganz ausgezeichnet“, meinte er gönnerhaft.
Kuddel dankte freundlich und stellte das Bierglas schließlich auf den Tresen: „Also, Sie können ruhig du sagen“, erklärte er, „das machen hier alle.“
„Weiß ich.“ sein Gast sah resigniert auf. „Aber wissen Sie, im Moment brauch‘ ich einfach mal ein bisschen Abstand. Distanz. Zu allem. Das ist jetzt nichts gegen Sie persönlich.“
„Verstehe“, sagte Kuddel, obwohl er kein Wort davon verstand.
Der Gast nahm sein Glas, sah dem Gastwirt deprimiert ins Gesicht. „Das ist hier gerade alles ein bisschen kafkaesk“, sagte er, trank einen großen Schluck, stellte das Bier ab, „wissen Sie, was ich meine?“
Kuddel sah ihn verlegen an. „Also, wenn ich ehrlich bin ...“, begann er, doch der Gast winkte ab: „Ich fühle mich gerade wie ein Käfer. Verstehen Sie? Ich will den Leuten etwas erklären, aber sie hören mich gar nicht, weil ich so klein bin.“
„Aha?“ Der Gastwirt wusste nicht recht, was er darauf nun antworten sollte. „Das ist ja nicht so schön“, erklärte er schließlich.
Sein Gast lachte auf. „Nein, das ist nicht so schön. Und wissen Sie was? Deshalb sollten Sie mir zum nächsten Bier gleich noch einen Korn machen, doppelt.“
Kuddel nickte. Erstaunt, ein bisschen verwirrt, merkwürdige
Leute sind das, hatte er gedacht. Anfangs hatte er sie schlichtweg als Lackaffen abgetan. Als Spinner aus der Stadt, die man offenbar in die Provinz strafversetzt hatte. Und die jetzt manchmal schon am frühen Nachmittag hier herumlungerten. Und dieser hier, der gerade am helllichten Tage vor seinem Tresen saß und sich offenbar planmäßig besaufen wollte, war irgendwie ein ganz besonders interessantes Exemplar. Kuddel stellte das zweite Bier und den Doppelten auf den Tresen.
Sein Gast sah dankbar auf und erklärte, etwas unvermittelt: „Die scheißen sich gerade alle in die Hosen!“
„Wer?“
„Die Leute bei mir im Verlag! Mein Verleger, die gesamte Rechtsabteilung. Alle!“
„Oha!“ rief Kuddel überrascht, „wieso denn?“
Sein Gast überlegte, wischte dann aber alles weg: „Tja, das ist ein weites Feld. Lassen Sie uns einfach einen trinken.“
Kuddel sah den jungen Mann an und nickte ihm dann aufmunternd zu: „Na, das wird schon alles wieder. Denn mal Prost!“
Der Gast nahm sein Schnapsglas. „Eigentlich heißt es prosit“, erklärte er, „das ist lateinisch. Dritte Person Singular Konjunktiv von prodesse. Es möge nützen.“
„Guck an“, sagte Kuddel. Und überlegte, ob der Gast am Tresen nicht vielleicht doch ein bisschen verrückt wäre.
 
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van Geoffrey

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Man sieht Kuddel Thießen direkt vor sich. Und den wortreichen Schreiberling aus Hamburg. Kuddel versteckt sich hinter belanglosem Smalltalk und lässt den Fremden seine Geschichte erzählen. Die Geschichte trifft ins Schwarze, weil man wissen will, wie es weitergeht und sich Gedanken macht, was es mit den Verlegern und der Rechtsabteilung auf sich hat. Klingt eigentlich wie der Anfang eines Romans. Weiter so!
 



 
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