Ein Kranich stand im Weg

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Aneirin

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Ein Kranich stand im Weg (Escorian)

Da war es wieder geschehen!
Hastig verbarg Escorian die Steinschleuder hinter seinem Rücken und sah sich um. Er war allein auf dem Hof, nur in den Zweigen des blühenden Mandelbaums hüpften Finken und sangen ihr Lied. Es klang schadenfroh.
Auf einen der Vögel hatte Escorian gezielt. Aber statt dass ein kleiner Körper zu Erde gefallen war oder wenigstens eine Wolke von Blütenblättern, hatte der Stein mit einem lauten Pling den Kopf eines gläsernen Kranichs getroffen. Der Vogel schmückte mit zwei weiteren Kameraden den Rand eines Springbrunnens, mindestens eine Handvoll Meter vom Mandelbaum entfernt. Zwei Kraniche reckten ihre Köpfe stolz in die Höhe, der dritte lag im Sand.
Vor einigen Tages war es schon einmal passiert. Escorian hatte auf etwas anderes gezielt, aber der Stein hatte einen Kranich geköpft. Er hatte das Missgeschick seiner Kinderfrau Rhiane gebeichtet. Sie hatte mit ihm geschimpft und den Kopf unauffällig wieder angeklebt. Noch einmal würde sie das aber nicht tun, denn sie hatte ihm streng verboten, mit der Steinschleuder im Hof zu schießen. Sie hatte ihm verboten überhaupt damit zu schießen. Sie hielt es für grausam. Diesmal würde sie es Escorians Vater sagen. Er war der Kaiser von Nerdin und erwartete von seinen Kindern, dass sie ihm keinen Grund gaben, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Escorian sah sich noch einmal verstohlen um, bevor er den Kranichkopf nahm und ihn in einer Hofecke neben einem Rosenstock vergrub. Die Steinschleuder ließ er liegen. Er hatte keine Lust mehr, damit zu spielen. Er hatte überhaupt keine Lust mehr zum Spielen, aber in seine Gemächer gehen wollte er auch nicht. Unentschlossen schlenderte herum und stieß mit den Füßen Kieselsteine vor sich her.
»Prinz Escorian, hier seid ihr.« Rhiane kam eilig in den Hof gelaufen. »Ich suche euch überall. Euer Vater wünscht euch zu sehen.«
Escorians Blick folg zu dem kopflosen Glaskranich. Davon konnte sein Vater doch nichts wissen. Er kam nie in diese Teil des Palastes, in dem seine Söhne lebten bis sie zwölf Jahre alt waren und in die Quartiere für die männlichen Mitgleider der Kaiserfamilie umzogen. Nur Escorian wohnte in den Knabengemächern.
»Was will er von mir?« fragte er und starrte auf seine Schuhe.
»Ich weiß es nicht, mein Prinz. Euer Vater teilt seine Gedanken nicht mit mir. Nun kommt!« Rhiane nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her durch endlose Gänge und stille Hallen, vorbei am Thronsaal in eines der kleineren Beratungszimmer. Escorian atmete auf. Er würde seinem Vater nicht gegenübertreten müssen, wenn er Ehrfurcht gebietend auf dem Kranichthron saß.
Rhiane versank vor dem Kaiser von Nerdin in einen tiefen Knicks und faltete die Hände vor der Stirn, ehe sie sich eilig wieder entfernte. Escorian verbeugte sich steif. Neben seinem Vater stand groß und hager der Magier Athil, der zu Beginn des Jahres in Staatsangelegenheiten von der Zaubererschule an den Hof gekommen war und seitdem mit seinen Wünschen alle plagte. Escorian hatte ihn bisher nur von weitem gesehen, aber er hatte gehört, wie die Höflinge abfällig über sein provinzielles Benehmen und seine bäuerische Kleidung gesprochen hatten.
»Mein Sohn, der gute Athil hat mir etwas über dich berichtet, das ich kaum glauben kann und das unbedingt weiterer Erklärungen bedarf.« Die Miene des Kaisers bleib ausdruckslos und gab Escorian keinen Hinweis, warum Athil sich für ihn interssiert haben sollte.
»Kaiserliche Hoheit, mein Prinz.« Athil verbeugte sich vor den jeweils Angesprochenen. »Wie ihr wisst bedarf ein mit der Gabe der Magie Gesegneter einer Ausbildung, um sie richtig anwenden zu können. Bald nach meiner Ankunft spürte ich, dass es am Hof jemanden mit magischen Kräften gibt, der noch einer Ausbildung bedarf, um nicht den Verlockungen der wilden Magie anheim zu fallen.«
Wozu das alles, fragte sich Escorian und wünschte sein Vater würde sagen, was zu sagen war, und ihn gehen lassen.
»Ich bemühte mich, zu ermitteln, wer es ist«, fuhr Athil fort. »Heute ist es mir gelungen. Es ist der junge Prinz Escorian. Seine Kräfte sind nicht stark, zugegeben. Aber eine Ausbildung braucht er.«
Nein, schrie es in Escorian, das kann nicht sein. Eine Ausbildung der magischen Kräfte würde bedeuten, dass er den Hof verlassen müsste, um fortan in einer Zaubererschule zu leben. Er würde kein Prinz mehr sein und mit anderen Jungen das Zimmer teilen müssen. Niemand würde sich mehr um sein persönliches Wohl kümmern, statt dessen müsste er lauter Dinge lernen, die ihn nicht interessierten. Und wie kam Athil überhaupt auf diese Idee? Er selbst hatte nichts bemerkt.
»Nein Vater, ich habe keine Zauberkraft. Ich habe nie etwas bemerkt.« Escorian gab seiner Stimme eine flehenden Klang und wollte nach der kaiserlichen Hand greifen. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich, dass seinem Vater so viel Nähe zu einem seiner Kinder unangenehm war.
Statt des Kaisers sprach wieder Athil. »Darf ich den Prinzen an einen gläsernen Kranich ohne Kopf erinnern. Ich sah vom Turm aus, was vorhin passierte, als ihr im Hof der Jungen spieltet.«
Also doch und die Zaubererschule war seine grausame Strafe. Dabei war sich Escorian so sicher gewesen, dass ihn niemand gesehen hatte. An den Turm und seine kleinen Fenster hatte er nicht gedacht.
»Es war keine Absicht«, verteidigte er sich. »Ich schoss mit meiner Schleuder auf Vögel, die im Mandelbaum saßen. Ich wollte den Kranich nicht treffen, wirklich nicht. Ich mache es nie wieder, versprochen Vater.«
»Ich weiß, dass ihr den Kranich nicht absichtlich treffen wolltet. Unbewusst habt ihr ihn aber für ein gutes Ziel gehalten oder er hat euch nicht gefallen, und eure Zauberkraft hat den Stein nach euren Gedanken gelenkt. Deswegen braucht ihr eine Ausbildung, Prinz, damit so etwas nicht wieder passiert«
»Es wird nicht wieder passieren. Es war ein Unglück.«
»Es war Magie. Ich sah einen zweiten Kranich, dem einmal der Kopf abgeschossen worden war und wieder angeklebt wurde. Das wart ihr auch, Prinz. Überlegt, ob in letzter Zeit nicht noch mehr Dinge passiert sind, die ihr euch nicht erklären konntet. Die Magie sucht sich ihren Weg.«
Da war tatsächlich noch mehr gewesen: ein altes Holzpferd, dass er vor Jahren verloren hatte und jetzt hatte er es plötzlich in der Abstellkammer unter alten Decken vor sich gesehen. Und wirklich, dort stand es, staubig und an vielen Stellen war die Farbe abgeblättert. Er spielte längst nicht mehr mit Holzpferden, aber er hatte sich gefreut, seinen alten Kameraden wieder zu finden. Oder er hatte auf einmal gewusst, was im diplomatischen Handbuch für die männlichen Mitglieder des Kaiserhauses von Nerdin stand, obwohl er es nicht gelesen hatte und auch keine Lust dazu gehabt hatte. War das Magie? Dann konnte sie vielleicht ganz nützlich sein.
»Wenn Athil sagt, dass deine Magie ausgebildet werden muss, dann wirst du eine Zauberschule besuchen. Ich will nicht, dass du den Palast in Schutt und Asche legst, nur weil du denkst, er ist ein gutes Ziel für deine Steinschleuder.« Der Kaiser versuchte jovial zu sein. In seiner Stimme schwang aber auch befehlsgewohnte, kaiserliche Härte mit.
»Nein Vater. Bitte schicke mich nicht fort. Ich werde reiten lernen und fechten und Bogen schießen und alles, was du willst, wenn ich nur bleiben darf.«
»Du hast gehört, was Athil sagt. Du wirst in die Schule der Zauberer gehen. Der Prinz kann in drei Tagen reisefertig sein. Ich wünsche, dass ihr in die Schule bringt«, wandte der Kaiser sich wieder an Athil.
Er war nur noch Kaiser und nicht mehr Vater. Widerspruch und weitere Bitten, konnten ihn nicht mehr umstimmen. Escorian erkannte, mit welcher Meisterschaft sein Vater sich des Zauberers entledigt hatte. Er kannte das diplomatische Handbuch wirklich sehr gut. Der Kaiser betätigte eine kleine Glocke, die Rhiane herbeirief.
Die drei Tage bis zur Abreise waren viel zur kurz, um einen Fluchtplan zu entwickeln und in die Tat umzusetzen. Alles was Escorian sich ausdachte, scheiterte daran, dass erst ein zehnjähriger Junge war und nicht einmal ein eigenes Pferd besaß.
Die drei Glaskraniche am Brunnenrand bekamen seinen Zorn zu spüren. Mit seiner Schleuder schoss er so lange auf sie, bis von ihnen nicht mehr viel übrig war.

© Aneirin, 2003
 

Aneirin

Mitglied
Escorian

Hallo Doro,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich freue mich, wenn jemand meine Schreibe spannend findet.

Bisher gibt es nur ein paar Szenen um den Prinzen Escorian. Wenn mir mal was Neues einfällt, schreibe ich es auf. Ob es jemals ein zusammenhängendes Werk wird - ich weiß nicht. Was ich noch habe, spielt Jahre später, als Escorian schon erwachsen ist und hat mit dieser Geschichte keine Verbindung. Diese hatte ich eher als Prolog gedacht.

Viele liebe Grüße
Aneirin
 



 
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