Arno Abendschön
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Er gab Ulf die Zeitung und wartete ab. Sie saßen wie jeden Morgen im Frühstücksraum beisammen. Ben überflog hier immer rasch die Überschriften und las nur, was ihn besonders interessierte. Nach Feierabend hielt er dann zu Hause Nachlese. Das Wichtigste für heute hatte er schon entdeckt.
Ulf funktionierte wieder hervorragend, ein klug konstruierter und gut gewarteter Automat. „Hast du es auch gelesen, Ben? Da ist wieder ein Homo umgebracht worden.“ Er hatte keine Zeit gehabt, viel zu überlegen, bevor er fragte. Es kam spontan aus ihm, da war auch Mitleid im Spiel. Ulf war ein guter Kerl.
„Ach was“, sagte Andreas neugierig. „Wieder so ein Alter? Daheim in seiner Wohnung?“
„Nein“, sagte Ben, „diesmal nicht.“
Ulf fasste den Bericht für Andreas zusammen: „Er war erst fünfundzwanzig. Am Wiener Platz in der Bahnunterführung, da haben ihn Passanten gefunden. Hat noch gelebt.“
„Tja“, bemerkte Andreas. „und ist er deswegen umgebracht worden?“ Ulf zuckte die Schultern. „Frag die Polizei, woher sie weiß, dass er so war.“ Ulf war auch ein intelligenter Bursche.
Ben sagte: „Fortsetzung folgt, morgen oder übermorgen … Wo sind eigentlich hier in der Stadt Schwulenlokale?“ Ben hielt den Begriff sonst für herabwürdigend, er war es damals noch. Jetzt benutzte er ihn zur eigenen Tarnung. Die Frage war an beide gerichtet.
Andreas schwieg. Ulf gab gleich bereitwillig Auskunft: „Ich kann es dir nicht sagen. Früher gab es da mal ein Café Weiß, existiert aber nicht mehr … Irgendwo in der Altstadt wird es schon was geben … Aber ich weiß, wo eins in Berlin ist: ausgerechnet am Stuttgarter Platz.“
Ben kannte selbst eine Adresse in Berlin, nur für den äußersten Notfall, der allmählich näherrückte. Es war nicht am Stuttgarter Platz, und er behielt sein Wissen für sich.
„Karlsruhe ist auch ein heißer Tipp, das ist ihre Hochburg hier im Süden, hab ich gehört“, fing Ulf noch einmal an. Ben reagierte nicht, wartete ab. Es kam nichts mehr, Ulf hatte vermutlich alles preisgegeben, alles, was er mitteilen konnte oder wollte. Sie wechselten daraufhin das Thema.
Er ging noch immer mit Ulf und Andreas mittags hinüber zur Rathauskantine. Eigentlich lief er nur noch neben ihnen her. Ulf unterhielt sich seit einiger Zeit lieber mit Andreas. Ben dachte: Bin ich für ihn nur noch ein asozialer Schwuler? Bin ich es am Ende wirklich?
Vielleicht sollte er im Urlaub nach Berlin fliegen, zum ersten Mal. Es war nicht am Stuttgarter Platz, es war in der Kleiststraße, davon hatte er bloß gelesen. Es waren noch sechs Wochen bis dahin. Vielleicht kann er vorher einmal abends durch die Altstadt bummeln.
Am Sonntagabend fuhr Ben spontan mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof. Es hatte kaum geregnet und war unverändert warm. Man spürte auch jetzt, dass die Luft elektrisch geladen war. Es war noch weit bis zum Sonnenuntergang, die Gebäudekonturen zeichneten sich scharf in einem gelben, staubigen Licht ab.
Er begann damit, zuerst das Bahnhofsviertel nach Bars abzusuchen. Er fand nicht eine, es gab in dieser großen Stadt kein eigentliches Bahnhofsviertel, wenn man darunter eine billige Amüsiermeile verstand. Dann erinnerte er sich, schon vor Monaten in der Zeitung von einem Mord gelesen zu haben. Ein alternder Küchenhelfer hatte den jungen Täter in einem Lokal an der Theodor-Heuss-Straße kennengelernt. Liebe gesucht und den Tod gefunden. Ben folgte der Spur des Opfers und ging nach Südwesten.
Er umrundete drei Viertel des Stadtzentrums und fand keinen Ansatz, kein Zeichen, das ihm bedeutet hätte: Hier entlang geht es. Sein Erkundungsgang führte ihn einmal sogar nahe an das Amt heran, in dem er sich morgen früh wieder einzufinden hatte. So grau und behäbig wie ihr Behördenkasten und dabei dennoch trübselig, so sah das meiste hier aus. Wo war der Eingang zur anderen Welt?
Und dann gab es noch die Altstadt, er hatte bisher nur davon gehört. Er fand das Viertel, es unterschied sich krass von den anderen. Die Stadtverwaltung ließ seit Jahren unter ihm einen Tunnel für die U-Bahn bohren. Die Baustelle zog sich Hunderte Meter lang hin und bildete die Längsachse des Quartiers, sie war für den Autoverkehr gesperrt. Die meisten Geschäfte waren aufgegeben und standen leer, wenn die Häuser nicht schon abgerissen waren. Viele Bretterbuden füllten die entstandenen Zahnlücken in den Häuserzeilen notdürftig aus. Da waren Schnellimbisse, Bars und Nachtclubs. Ob er hier richtig war? Es sah aus wie eine noch nicht zu Ende gebaute Westernkulisse, als wären die U-Bahnbauer Goldgräber.
Die Wege belebten sich schon, der Fußgängerstrom schwoll in der einsetzenden Dämmerung allmählich an. Er sah den Entgegenkommenden neugierig ins Gesicht und stellte enttäuscht fest, es waren die gleichen Menschen wie alltags im Geschäftsviertel, nur unternehmender im Ausschreiten, auch ihren Mienen nach zu urteilen. Sie waren jetzt gut ausgeruht und darauf bedacht, den Rest ihres freien Wochenendes nutzbringend anzulegen. Zeit als Kapital musste auch Zinsen bringen. Das Geschäftsmäßige auf ihren Gesichtern verdross ihn. Und die Fassaden der Bars lockten mit immer denselben Attributen von Weiblichkeit: Busen, Beine, Hüften.
Dann war er drauf und dran, doch in ein Lokal hineinzugehen. Es war die Flamingo-Bar, sie war im Erdgeschoss eines soliden Steinhauses untergebracht, vielleicht seit langer Zeit. Er nahm den Unterschied zu den übrigen Lokalitäten instinktiv wahr, ohne ihn sich im Einzelnen genau erklären zu können. Es fehlte die sonst übliche aufdringliche Werbung mit Busen, Beinen, Hüften – war es das? Wie es schien, hatte man hier keine Reklame nötig, das Publikum stellte sich vermutlich von selbst ein, seines Zieles sicher. Er sah niemand hineingehen, auch keinen herauskommen. Lichtstreifen und Musikfetzen drangen durch die Ritzen der geschlossenen Läden. Man schien sich drinnen zu amüsieren. Er wollte sich vergewissern.
Jetzt wurde die Lokaltür einen Spalt geöffnet, vielleicht um frische Luft hereinzulassen, und er hörte eine betont weibliche Stimme laut auflachen. Es klang grell, aufgesetzt, und es stieß ihn ab. Er überlegte nicht und kehrte sofort um. Auch hier war er falsch. Dachte er und erfuhr Jahre später, er hatte sein Ziel damals glatt verfehlt. Doch jenes Lachen, es war ihm nach Berlin gefolgt und dort seitdem vertraut geworden.
Zufall und Notwendigkeit: Ein effeminiertes Verlegenheitslachen, zwischen zwei Zügen aus einer Zigarette herausgelassen, sagen wir, um zwanzig Uhr und neunundvierzig Minuten und zweiunddreißig Sekunden und nicht zehn Sekunden früher oder später – es hatte ausgereicht, den Gang seines Lebens entscheidend zu verändern. (Und er ahnte in diesem Augenblick nicht einmal etwas davon.) So ausgeliefert zu sein: Froh kann einen das im Rückblick nicht stimmen, nicht einmal dann, wenn man später die Bilanz gutheißt.
Ulf funktionierte wieder hervorragend, ein klug konstruierter und gut gewarteter Automat. „Hast du es auch gelesen, Ben? Da ist wieder ein Homo umgebracht worden.“ Er hatte keine Zeit gehabt, viel zu überlegen, bevor er fragte. Es kam spontan aus ihm, da war auch Mitleid im Spiel. Ulf war ein guter Kerl.
„Ach was“, sagte Andreas neugierig. „Wieder so ein Alter? Daheim in seiner Wohnung?“
„Nein“, sagte Ben, „diesmal nicht.“
Ulf fasste den Bericht für Andreas zusammen: „Er war erst fünfundzwanzig. Am Wiener Platz in der Bahnunterführung, da haben ihn Passanten gefunden. Hat noch gelebt.“
„Tja“, bemerkte Andreas. „und ist er deswegen umgebracht worden?“ Ulf zuckte die Schultern. „Frag die Polizei, woher sie weiß, dass er so war.“ Ulf war auch ein intelligenter Bursche.
Ben sagte: „Fortsetzung folgt, morgen oder übermorgen … Wo sind eigentlich hier in der Stadt Schwulenlokale?“ Ben hielt den Begriff sonst für herabwürdigend, er war es damals noch. Jetzt benutzte er ihn zur eigenen Tarnung. Die Frage war an beide gerichtet.
Andreas schwieg. Ulf gab gleich bereitwillig Auskunft: „Ich kann es dir nicht sagen. Früher gab es da mal ein Café Weiß, existiert aber nicht mehr … Irgendwo in der Altstadt wird es schon was geben … Aber ich weiß, wo eins in Berlin ist: ausgerechnet am Stuttgarter Platz.“
Ben kannte selbst eine Adresse in Berlin, nur für den äußersten Notfall, der allmählich näherrückte. Es war nicht am Stuttgarter Platz, und er behielt sein Wissen für sich.
„Karlsruhe ist auch ein heißer Tipp, das ist ihre Hochburg hier im Süden, hab ich gehört“, fing Ulf noch einmal an. Ben reagierte nicht, wartete ab. Es kam nichts mehr, Ulf hatte vermutlich alles preisgegeben, alles, was er mitteilen konnte oder wollte. Sie wechselten daraufhin das Thema.
Er ging noch immer mit Ulf und Andreas mittags hinüber zur Rathauskantine. Eigentlich lief er nur noch neben ihnen her. Ulf unterhielt sich seit einiger Zeit lieber mit Andreas. Ben dachte: Bin ich für ihn nur noch ein asozialer Schwuler? Bin ich es am Ende wirklich?
Vielleicht sollte er im Urlaub nach Berlin fliegen, zum ersten Mal. Es war nicht am Stuttgarter Platz, es war in der Kleiststraße, davon hatte er bloß gelesen. Es waren noch sechs Wochen bis dahin. Vielleicht kann er vorher einmal abends durch die Altstadt bummeln.
Am Sonntagabend fuhr Ben spontan mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof. Es hatte kaum geregnet und war unverändert warm. Man spürte auch jetzt, dass die Luft elektrisch geladen war. Es war noch weit bis zum Sonnenuntergang, die Gebäudekonturen zeichneten sich scharf in einem gelben, staubigen Licht ab.
Er begann damit, zuerst das Bahnhofsviertel nach Bars abzusuchen. Er fand nicht eine, es gab in dieser großen Stadt kein eigentliches Bahnhofsviertel, wenn man darunter eine billige Amüsiermeile verstand. Dann erinnerte er sich, schon vor Monaten in der Zeitung von einem Mord gelesen zu haben. Ein alternder Küchenhelfer hatte den jungen Täter in einem Lokal an der Theodor-Heuss-Straße kennengelernt. Liebe gesucht und den Tod gefunden. Ben folgte der Spur des Opfers und ging nach Südwesten.
Er umrundete drei Viertel des Stadtzentrums und fand keinen Ansatz, kein Zeichen, das ihm bedeutet hätte: Hier entlang geht es. Sein Erkundungsgang führte ihn einmal sogar nahe an das Amt heran, in dem er sich morgen früh wieder einzufinden hatte. So grau und behäbig wie ihr Behördenkasten und dabei dennoch trübselig, so sah das meiste hier aus. Wo war der Eingang zur anderen Welt?
Und dann gab es noch die Altstadt, er hatte bisher nur davon gehört. Er fand das Viertel, es unterschied sich krass von den anderen. Die Stadtverwaltung ließ seit Jahren unter ihm einen Tunnel für die U-Bahn bohren. Die Baustelle zog sich Hunderte Meter lang hin und bildete die Längsachse des Quartiers, sie war für den Autoverkehr gesperrt. Die meisten Geschäfte waren aufgegeben und standen leer, wenn die Häuser nicht schon abgerissen waren. Viele Bretterbuden füllten die entstandenen Zahnlücken in den Häuserzeilen notdürftig aus. Da waren Schnellimbisse, Bars und Nachtclubs. Ob er hier richtig war? Es sah aus wie eine noch nicht zu Ende gebaute Westernkulisse, als wären die U-Bahnbauer Goldgräber.
Die Wege belebten sich schon, der Fußgängerstrom schwoll in der einsetzenden Dämmerung allmählich an. Er sah den Entgegenkommenden neugierig ins Gesicht und stellte enttäuscht fest, es waren die gleichen Menschen wie alltags im Geschäftsviertel, nur unternehmender im Ausschreiten, auch ihren Mienen nach zu urteilen. Sie waren jetzt gut ausgeruht und darauf bedacht, den Rest ihres freien Wochenendes nutzbringend anzulegen. Zeit als Kapital musste auch Zinsen bringen. Das Geschäftsmäßige auf ihren Gesichtern verdross ihn. Und die Fassaden der Bars lockten mit immer denselben Attributen von Weiblichkeit: Busen, Beine, Hüften.
Dann war er drauf und dran, doch in ein Lokal hineinzugehen. Es war die Flamingo-Bar, sie war im Erdgeschoss eines soliden Steinhauses untergebracht, vielleicht seit langer Zeit. Er nahm den Unterschied zu den übrigen Lokalitäten instinktiv wahr, ohne ihn sich im Einzelnen genau erklären zu können. Es fehlte die sonst übliche aufdringliche Werbung mit Busen, Beinen, Hüften – war es das? Wie es schien, hatte man hier keine Reklame nötig, das Publikum stellte sich vermutlich von selbst ein, seines Zieles sicher. Er sah niemand hineingehen, auch keinen herauskommen. Lichtstreifen und Musikfetzen drangen durch die Ritzen der geschlossenen Läden. Man schien sich drinnen zu amüsieren. Er wollte sich vergewissern.
Jetzt wurde die Lokaltür einen Spalt geöffnet, vielleicht um frische Luft hereinzulassen, und er hörte eine betont weibliche Stimme laut auflachen. Es klang grell, aufgesetzt, und es stieß ihn ab. Er überlegte nicht und kehrte sofort um. Auch hier war er falsch. Dachte er und erfuhr Jahre später, er hatte sein Ziel damals glatt verfehlt. Doch jenes Lachen, es war ihm nach Berlin gefolgt und dort seitdem vertraut geworden.
Zufall und Notwendigkeit: Ein effeminiertes Verlegenheitslachen, zwischen zwei Zügen aus einer Zigarette herausgelassen, sagen wir, um zwanzig Uhr und neunundvierzig Minuten und zweiunddreißig Sekunden und nicht zehn Sekunden früher oder später – es hatte ausgereicht, den Gang seines Lebens entscheidend zu verändern. (Und er ahnte in diesem Augenblick nicht einmal etwas davon.) So ausgeliefert zu sein: Froh kann einen das im Rückblick nicht stimmen, nicht einmal dann, wenn man später die Bilanz gutheißt.
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