Ein leichtes Geschlecht

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sufnus

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Ein leichtes Geschlecht

Die Straßen und ihre Bedeutung
fliehen aus der Stadt
und schleppen alle Ziele
als Beute mit sich fort.
Der Verkehr, das verwundete Tier,
stöhnt, wenn die Ampeln blinzeln.
Jeder Ausweg kommt mit der Empfehlung:
Bei der nächsten Möglichkeit bitte wenden.

Wie die Insassen dieser Mauern doch
den Brotkrumen ihrer Sprachlosigkeit folgen
auf dem Weg von Traum zu Traum!
Ihre Haltung ist eines sterbenden
Philosophen würdig, der
die Sonne verkündet und
den Wind, der uns trägt.

Wenn die Uhren ein Ende finden,
ist jeder der Erste.
Und nun hast Du das Wort,
und kein Räuspern der Menge
wird die Stille Deines Vortrags brechen,
und Dein Schweigen wird noch
die größten Säle füllen
und aller Seelen leeres Herz.
 

Perry

Mitglied
Hallo Sufnus,
etwas "geschlechterspezifisches" kann ich in den Zeilen zwar nicht finden, aber die "Stadtflucht" mancher Philosophen ist sicher nachvollziehbar. Als junger Mann war ich gern auf den betriebsamen Plätzen der Städte unterwegs, jetzt denke denke ich gern daran zurück und erfreue mich an der Stille der Natur.
Gern reflektiert und LG
Manfred
 

sufnus

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Hey Perry!

Lieben Dank für Deinen Kommentar.

Und... ich glaub der Titel ist echt verunglückt... gemeint ist natürlich das Menschengeschlecht und keinesfalls Männlein oder Weiblein oderoder.
Es spielt auf das Gedicht vom armen B.B. an, in dem die Wendung vorkommt:

"Wir sind gesessen, ein leichtes Geschlechte
In Häusern, die für unzerstörbare galten",

woraufhin der gute B.B. dann auf die "langen Gehäuse" des "Eilands Manhattan" hinweist, was man nach 9/11 ganz anders liest als zur Entstehungszeit des Gedichts vor fast 100 Jahren.

Na - wie dem auch sei ... meine Zeilen sollen noch etwas über das Thema Stadtflucht hinausgehen (bei Stadtflucht vs. Landflucht weiß ich übrigens nie wierum das dann fluchtrichtungstechnisch gemeint ist). Das soll hier eher ins grundsätzlich Dystopische spielen, aber auch ins individuell Existentielle hineinleuchten (-dunkeln?).

Naja... ich merk schon... das Ganze ist irgendwie noch ein Fragment.

Zerknirschte Grüße! :)

S.
 

fee_reloaded

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Für mich bildet jede der drei Strophen für sich ein eigenes Gedicht, lieber sufnus.

Als Einheit vermag ich den Text nicht ganz zu lesen, aber ich bin mir auch gar nicht sicher, ob nicht genau das beabsichtigt war. Es fühlt sich für mich so an, als würde jede der Strophen wie eine Ausfallsstraße in eine völlig andere Richtung fluchten, um dort einen ganz eigenen Bedeutungshorizont zu erschließen. Ein Gedicht also, das nach außen verzweigt anstatt auf einen zentralen Punkt zuzulaufen.
Das finde ich wirklich spannend!

Den dystopischen Charakter spür ich aber sehr wohl. Da ist der Wind, der durch die Fluchten der Stadt weht und Beute mit sich fort nimmt. Die Stille inmitten des Getöses, das die Sprache fortwischt. Das Konstruierte als Wesenselement einer modernen Großstadt und die Bedeutung der Dimensionen solcher Städte für die kleinen, leichten, so leicht fortgewehten Menschen.

Den alternden Philosophen bräuchte es für mich persönlich im Text nicht. Den empfinde ich als unnötiges, effekthascherisches Blattgold auf etwas, das allein durch seine ansprechende Form und den Inhalt doch ohnehin schon glänzt. Er bringt den Text nicht weiter und fügt ihm keine neue Dimension hinzu, wie ich es sehe.
Ähnlich geht es mir mit dem letzten Vers der letzten Strophe. Mit den leeren Herzen aller Seelen zu enden, ist schon very veeeery much. Die hätte man doch auch etwas früher mit weniger Pathos-Verdacht einbauen können. Das Schweigen, das die großen Säle füllt, als Abschluss des Textes verhallen zu lassen, würde m.E. viel viel länger (und lauter) nachwirken und wäre auch stimmiger - würde es die Aussage des Textes ja doppeln.

Das nur meine Gedanken zu deinem sehr ansprechenden Text. Gerne gelesen!

LG,
fee
 

sufnus

Mitglied
Hey Fee!
Vielen lieben Dank! Deine Idee einer verzweigten Struktur find ich sehr schön - ich hätts selbst gar nicht so benennen können, aber das triffts wirklich wunderbar! :) Beim sterbenden Philosophen hätt ich gehofft, dass es eher ironisch rüberkommt und weniger als Oberflächeneffekt, aber ich kann Deinen Einwand ungefähr nachfühlen... auf alle Fälle beim Schluss, der halt schon mit einem ordentlichen Klacks Pathosbutter serviert wird! :)
Ja... also irgendwie ist das so ein Text, der wahrscheinlich nie so richtig fertig wird... hab ja schon nach Perrys Kommentar angedeutet, dass das ganze mir jetzt beim wiederholten Lesen etwas baustellenmäßig anmutet...
Auf alle Fälle freut mich Dein Input sehr und ich lass ihn mal etwas sacken, ob er mir dann nicht noch zu einer Idee verhilft, was ich mit dem Teil jetzt anstellen könnt. :)
LG!
S.
 

fee_reloaded

Mitglied
... also irgendwie ist das so ein Text, der wahrscheinlich nie so richtig fertig wird... hab ja schon nach Perrys Kommentar angedeutet, dass das ganze mir jetzt beim wiederholten Lesen etwas baustellenmäßig anmutet...
Ach, solche Texte haben wir doch alle zuhauf in unseren Schubladen, lieber sufnus. ;)

Manchmal ist es hilfreich, sie gut abliegen zu lassen und mit größerem (zeitlichem und persönlichem) Abstand wieder draufzuschauen. Oft findet man dann eher den eigentlichen Kern bzw. die Idee, die man ursprünglich so drängend im Herz und in der Magengrube hatte, als man sich damals hinsetzte und zu schreiben begann.
Die geht ja gerne mal in diesem Prozess des Schreibens und Wortefindens verloren oder wird abgelöst von etwas, das sich dabei in den Vordergrund drängt. Und dann hat man eben schnell mal zwei, drei Gedichte in einem. Aber es ist ja auch das Weglassen und Verzichten so schwer....seufz....
Man hat so viele schöne Ideen beim Schreiben, dann finden einen neue Worte und damit neue Assoziationen...pointierte Lyrik zu schreiben ist in erster Linie eine Übung des Verzichts, wie ich es sehe. Manchmal aber will man es eben üppig und selbst ein wenig schwelgen. Ich kenn das nur zu gut und bin mir sicher, wir sind da nicht allein. :cool:

Ich finde alle drei Gedichte in diesem einen jedenfalls gut. (sorry, der musste raus... ;) ).

LG,
fee
 



 
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