Ein Mensch, (k)ein Superspreader

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Feierabend. Ich warte an der Bushaltestelle, trage vorschriftsmäßig Maske. Wie immer weiß anscheinend keiner außer mir, dass auch an der Haltestelle die Masken über Mund und Nase getragen werden und nicht heruntergezogen unter dem Kinn baumeln sollten. Die Regel gilt übrigens schon ziemlich lange. Aber wie gesagt: Niemand scheint es zu wissen. Wenn überhaupt jemand hier dumm angeguckt wird, bin ich das. Immerhin: Gestern habe ich (zum ersten Mal, vorher können sie noch nicht da gewesen sein) an der Bushaltestelle Schilder gesehen, auf denen „Hier herrscht Maskenpflicht!" steht. Wurde ja auch mal Zeit.
Der Bus kommt. Aufatmend steige ich ein. Jetzt ist er noch völlig leer, und ich verziehe mich auf meinen Lieblingsplatz weit hinten, zücke mein Handy und studiere die neuesten Schlagzeilen. Wieviel Infektionen in welchem Bundesland, wieviel Infektionen in ganz Deutschland? Wieviel Plätze auf den Intensivstationen sind belegt? Obwohl mich das Lesen der ganzen Meldungen nervös macht, kann ich es nicht lassen. Derweil füllt sich der Bus - der Sitz neben mir bleibt zum Glück leer, aber es dauert nicht lange, bis jemand vor mir und jemand hinter mir Platz genommen hat. Ich verziehe das Gesicht. Das sind doch keine 1,50 m Abstand. Müssen die sich unbedingt dahin setzen? Vor allem der Typ, der zuletzt eingestiegen ist und hinter mir Platz genommen hat. Der sah doch aus wie ein Superspreader, oder etwa nicht? Und jetzt klingelt sein Handy. Jetzt muss er auch noch reden und Aerosole freisetzen.
„Hallo? Ja, das war gestern", höre ich ihn. Auch wenn ich gar nicht zuhören will.
„Ich hatte schon Angst", spricht er weiter. „Also bei meinem Vater wurde da was im Kehlkopf festgestellt. Habe mir schon Stress gemacht, es könnte Krebs sein. Aber wahrscheinlich ist es doch nicht so schlimm, sondern was anderes ... Hoffentlich... Klar, er wird behandelt... Ja, bis dann."
Er legt auf und in meinem Kopf wirbelt alles durcheinander. Ich schäme mich in Grund und Boden dafür, was ich in dem Fahrgast hinter mir ausschließlich gesehen habe - so etwas wie einen potentiellen Infektionsträger und sonst nichts.
In erster Linie ist jeder ein Mensch.
 
Zuletzt bearbeitet:
Liebe Delfine, den inzwischen gelöschten Text habe ich wiederholt gelesen und zwischenzeitlich einige Male darüber nachgedacht. Mir war in ihm zu viel Gefühl und zu wenig Ratio. Die schlichte Alltagsvernunft konnte einem doch Folgendes sagen: 1. Jeder kann auch mit Maske telefonieren, man sieht es allerorten. - 2. In der besonderen Situation des jungen Mannes war das Telefonieren ohne Maske verständlich und entschuldbar. - 3. Keiner kann sich ein reales Bild von dem hinter ihm Sitzenden machen, wenn er ihn nicht in Augenschein genommen hat. Man braucht also keine Schuldgefühle dafür zu entwickeln, wenn man sich ganz kühl und vielleicht nur etwas besorgt fragt, ob hinter einem alles mit rechten Dingen zugeht. Nachträgliche Selbstkritik wäre nur angebracht, hätte man sich unangemessen verhalten oder wäre in unbegründete Panik geraten. - 4. Tatsächlich ist jeder Superspreader auch ein Mensch, das ist nur banal. Diese Begriffe jedoch gegeneinander zu stellen, halte ich für irrrational.

Ich weiß, es ist nicht üblich, gelöschte Beiträge nachträglich noch zu kommentieren. Verzeih diese eine Ausnahme, ich habe lange darüber gegrübelt und wollte die Früchte davon noch abliefern.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 
Lieber Arno,


damit für andere Leser dein Kommentar nachvollziehbar ist, habe ich den Text noch einmal eingestellt. Auf den Kommentar eingehen werde ich später noch.
(Habe gerade nicht das richtige Equipment zum ausführlichen Tippen.)

LG SilberneDelfine
 
Lieber Arno,

Mir war in ihm zu viel Gefühl und zu wenig Ratio.
Ja, das wollte ich auch rüberbringen: dass ich manchmal absolut nicht mehr rational in Bezug auf das Virus reagieren kann. Jeder wird zum Feind. Er könnte ja das Virus haben und mich anstecken. (Eine Neurose bezüglich Händewaschens habe ich inzwischen schon lange weg.)
Deswegen hatte ich mir das aufgeschrieben, um mich selbst zu bremsen - und mir ins Gedächtnis zu rufen, dass andere Menschen eben auch Sorgen und Probleme haben und dass es im Leben nicht allein darum geht, ob sie mich anstecken könnten oder nicht. Dass sie eben keine Feindbilder abgeben sollten.
Ich fand den Text für die LL dann doch nicht so geeignet und habe ihn deshalb gelöscht. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass sich jemand damit beschäftigt hat. Aber das macht nichts, dass du einen Kommentar dazu geschrieben hast :)


Keiner kann sich ein reales Bild von dem hinter ihm Sitzenden machen, wenn er ihn nicht in Augenschein genommen hat.
Richtig. Aber ich baute sofort ein Feindbild auf. Und das war ganz und gar nicht richtig.

LG SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:
Liebe Delfine,

solche Situationen wie die von dir beschriebene, in denen man sich innerlich zur Ordnung ruft, habe ich auch schon an mir wahrgenommen. Ich würde es eben nur nicht in einem Text über eine Alternative Mensch oder Superspreader verarbeiten. Das ist dann ähnlich plakativ wie das häufig hingesprühte "Kein Mensch ist illegal" - natürlich nicht, es sind immer Handlungen von Menschen, die als solche differenziert zu betrachten sind. Der in einen Bus steigende Mitmensch ist zunächst einmal Fahrgast, Mitpassagier und kann solange ohne schlechtes Gewissen nur unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden, bis eben weitere auftauchen.

Was die Situation in Verkehrsmitteln angeht, hier noch ein aufschlussreiches Zitat aus dem Kundenmagazin "Plus" der BVG (als größtes deutsches kommunales Nahverkehrsunternehmen für U-Bahn, Straßenbahn, Bus und Fähren in Berlin da), Ausgabe November 2020:

" ... stehen Sie sich im Fahrzeug nach Möglichkeit nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber ..."

Das war mir so neu. Es verrät, wie der Betrieb die Risiken und deren mögliche Minimierung beurteilt.

Übrigens habe ich an der Form deines Textes nicht das Geringste auszusetzen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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