Ein Messer im Dunkeln

Ein Messer im Dunkeln

»Du dreckiges, nichtsnutziges Miststück!«
Die Worte dröhnten in Myraidas Kopf. Trotz des mit unreinem Stroh gefüllten Kissens, das sie über beide Ohren gestülpt hatte, drang der Streit deutlich vernehmbar durch die Dielen bis zu ihrer Schlafstatt am Dachboden der elterlichen Kate.
Fortwährend wiederholten sich die Worte in ihren Gedanken. Sie sah die wutentbrannten Gesichter ihrer Eltern vor sich. Viel zu oft hatten sich ähnliche Szenen abgespielt.
»Glaub ja nicht, dass Du mir noch einmal einen solchen Fraß vorsetzen kannst!«
»Warum bleibst du nicht gleich an deinem Lieblingsort, dem Wirtshaus, wo du unser ganzes Geld verprasst. Du weißt genau, dass wir uns seit Tagen nichts Besseres als diese muffige Kohlsuppe leisten können.«
Myraida schätzte ihre Mutter für die innerliche Stärke, mit der sie der Welt trotz widrigster Umstände begegnete. Doch heute war etwas anders, nur eine Kleinigkeit. Eine Unsicherheit in der Stimme ihrer Mutter, die Myraida aufhorchen ließ.
»Zu nichts zu gebrauchen. Und sieh dich an. Warum glaubst du, schufte ich den ganzen Tag und renne jeden beschissenen Abend in die Schenke. Doch nur, weil ich dein hässliches Gesicht nicht länger ertragen kann!« Myraida hörte ihre Mutter schreien. Polternde Geräusche verrieten ihr, dass ihre Eltern dazu übergegangen waren, die letzten verbliebenen Teller des ohnehin spärlichen Hausstandes zu zerdeppern.
Einmal zu oft hatte er die Mutter beleidigt. Myraida schälte sich aus ihrem Bettzeug und stieg heimlich die knarzende Treppe hinab. Sie achtete sorgsam darauf, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Am Treppenabsatz angelangt, spähte sie in die Wohnstube, in der sie im Schein einer ölgetränkten Sturmlampe nur ihren Vater erkennen konnte, der gerade wankend zurücktaumelte und sich an einem Stuhl festhielt.
Sie schätzte ihren Vater sehr, doch oft genug weilte er der schlechten Ernte geschuldet auf den Gerstenfeldern oder verbrachte tagelange Schwerstarbeit beim Fällen der Bäume im Holz der Familie, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Dem Alkohol zugeneigt, saß er nach getaner Arbeit gerne in der Taverne und begoss die kargen Zukunftsaussichten mit einer Kanne roten Weins. Beständige Dürren und Missernten hatten den ehemaligen Instrumentenbauer dazu gezwungen, sich von filigraner Arbeit zum Bauernhandwerk zu bekennen. Niemand konnte und wollte sich noch teuere Flöten, Fideln oder Lauten leisten.
Die Eltern hatten sie nicht gehört. Sie waren viel zu beschäftigt mit sich selbst und warfen sich wahllos Vorwürfe an den Hals, die zur heftigsten Auseinandersetzung der letzten Tage geführt hatten.
»Du bist ein richtiger Hornochse!«, brüllte ihre Mutter. Sie trat einen Schritt ins Licht, was Myraida dazu bewegte, die Hand vor den Mund zu schlagen, als sie der aufgeschlagenen Lippe und den dunklen Augenringen gewahr wurde.
Sie hatte ihre Mutter immer bewundert für die Stärke und das Selbstbewusstsein, dass sie an den Tag legte. Doch heute änderte sich alles. Gerade noch stand sie stolz und aufrecht vor ihrem Ehemann, die Augen von heißen Tränen gerötet, nur um sich kurze Zeit später zitternd als wimmerndes Häuflein Elend kriechend und blutspuckend auf dem Boden wiederzufinden.
Myraida hatte den Schlag kommen sehen. Die Schulter ihres Vaters hatte sich nicht bewegt und doch hatte die Faust mit voller Wucht getroffen. Das laute Knacken, das sie hörte, musste der Kieferknochen gewesen sein, als er aus der Verankerung des Gelenks gebrochen war.
Überrascht vom wutentbrannten Antlitz ihres Vaters wollte sie ihrer Mutter in der Not beistehen, doch dann wurde sie Zeuge der schrecklichsten Tat in ihrem Leben.
Myraida wendete die Augen ab. Weinend schob sie den schweren Riegel der Haustür zurück und rannte nach draußen zu ihrem Lieblingsplatz am Wasser des künstlich angelegten Teichs. Ihre Augen brannten heiß, und sie versuchte vergeblich, den anhaltenden Strom der Tränen zum Versiegen zu bringen.
Es war eine sternenklare Nacht. Still und glatt lag das Wasser dar und das spärliche Licht der Abendstunden spiegelte sich in silbernen Streifen auf der Oberfläche.
Der Stein, auf dem sie nun saß, fühlte sich kalt an, und trotz der sommerlichen Temperaturen fröstelte sie.
Myraida vergrub die nackten Füße im Gras und zog das längliche Stück Leder etwas enger, dass ihr als Gürtelersatz diente und sowohl das zerlumpte Kleid als auch ihre schmale Taille zierte.
Das Kleid war ein Geschenk der Nachbarn und mit Dutzenden von Flicken unterschiedlichster Farbe übersät. Myraida wusste, dass die Nachbarsfamilie keinen Gebrauch dafür hatte, seit ihr einziges Kind vor einigen Monden an der Schwindsucht gestorben war.
Ihr Blick wanderte hinüber zu dem behauenen Stein, der die Grabstelle ihres Bruders unter einer mächtigen Linde markierte, auf deren Ästen sie früher als Kinder gemeinsam herumgetollt waren. Heute mied sie das Grab, das Erinnerungsmal an die Unglücksstelle, an der das Kind beim übermütigen Spiel ertrunken war.
Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Erneut schossen Tränen in ihre Augen. Bis heute beteuerte sie die Unschuld an seinem Tod, doch es war offensichtlich, dass Vater ihr den Verlust des Sohnes niemals verziehen hatte. Seit jenem qualvollen Tage versuchte sie, sich zu erinnern. Nacht für Nacht quälte sie sich durch die endlose Wiederholung desselben Traums. Die kleine weiße Hand, die verzweifelt versuchte, das Ufer zu erreichen. Dabei hatte sie den Ertrunkenen erst gesehen, als Vater den Leichnam aus dem Wasser gezogen hatte.
Wieder einmal fragte sie sich, ob ihr Verstand das Geschehene verdrängte, und wieder einmal fragte sie sich, ob nicht vielleicht sie der Stein des Anstoßes gewesen war, der den bekümmerten Vater so in Rage gebracht hatte.
Mutter hatte den Verlust des Jungen nicht verkraftet, weinte oft lethargisch in ihre Kissen, doch Vater zeigte die Trauer auf andere Weise. Er ertränkte den grausigen Alltag in Alkohol.
Myraida wühlte in den Taschen des zerschlissenen Kleides und zog ein kleines Messer daraus hervor, dessen Klinge mit rostigen Flecken übersät war. Sie benutzte es für gewöhnlich, um Hasenfutter zu schneiden. Die Spitze war abgebrochen, doch die Klinge war noch scharf genug, um das Fell eines Kleintieres sauber abzulösen.
Ihr linkes Bein zuckte und es hielt sie nicht länger auf ihrem Sitz. Noch immer liefen Tränen über ihre Wangen, als sie rastlos am Rand des Teichs auf- und abwanderte.
Es war so furchtbar kalt.
Myraida wischte sich Schweißtropfen von der Stirn und bemerkte den feuchten Film auf ihrer Haut, der das Kleid an ihrem Rücken kleben ließ. Der unappetitliche Geruch kalten Schweißes stieg in ihre Nase und ließ sie erschauern.
Der hölzerne Griff des Messers fühlte sich glitschig an. Es entglitt ihren Fingern und es dauerte eine Weile, bis sie die Klinge in der Dunkelheit wiedergefunden hatte und zitternd aufheben konnte.
Wie würde sich ihr Leben verändern?
Wie sollte sie nun, da das Geschehene passiert und nicht mehr rückgängig zu machen war, den nächsten Morgen überleben?
Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie den Mut fand. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Schritt für Schritt ging zurück zu dem Platz, an dem die abendlichen Ereignisse ihren Lauf genommen hatten. Sie ließ den Kopf gesenkt und starrte teilnahmslos zu Boden.
Sie überquerte den Hof des kleinen Anwesens und trat über die Schwelle der Eingangstür. Rechts von ihr lag die Wohnstube. Drei Schritte später lag der Raum vor ihr. Nichts hatte sich verändert. Alles sah genau so aus wie vor wenigen Minuten, als sie das Haus verlassen hatte. Sie hörte das unverständliche Brabbeln ihrer Mutter, die schluchzend nach wie vor am Boden lag.
Myraida wagte nicht, sie anzusehen, als sie auf sie zuging und ihr unbeholfen auf die Beine half. Ihre Mutter war viel größer als sie, und doch war der Körper mit den Armen federleicht, die sich um ihre Schultern schlossen.
Myraida spürte die Wärme ihrer Mutter, doch sie krümmte sich weg und versuchte das ekelige Gefühl zu vergessen, dass Schweiß und Blut an ihrer Wange hinterlassen hatte.
Sie ignorierte den rasselnden Atem und das unheimliche Stöhnen und trieb die abgebrochene Klinge des Messers tief in den Unterleib der Frau, die sie einst geboren hatte.
Myraida spürte, wie sich Gedärme an der abgebrochenen Spitze verhedderten. Eine Drehung nach links ließ sie reißen. Langsam zog sie die Klinge zurück und stach erneut zu. Tief rammte sie das Messer in die Brust. Wenn die Dorfwache morgen kam, mussten die Verletzungen willkürlich aussehen.
Das Stöhnen ihrer Mutter wurde bereits leiser. Die Arme, die sie um ihre Schultern gelegt hatte, lösten sich. Myraida wusste genug über den menschlichen Körper. Ein letzter Stich würde das Ende bringen.
»Er mag ein mieses Schwein gewesen sein, aber er war mein Vater«, flüsterte sie in das blutverkrustete Ohr.
Langsam, als hätte die Zeit für einen Moment angehalten, sank ihre Mutter zu Boden. Blaugelbe Flecken zierten ein ehemals hübsches Gesicht. Die linke Seite war blutverschmiert und über dem Ohr zeigte sich eine kahle Stelle, an der noch vor kurzer Zeit die dichten roten Locken gewuchert hatten, die ihre Tochter geerbt hatte. Wie oft hatte sie darin gewühlt, wenn die Furcht vor der Dunkelheit oder dem Vater über sie gekommen war?
Mit hängenden Schultern verließ sie den Raum, der für so lange Zeit ihre Heimat gewesen war. Jetzt würde sie mit ihm für immer den Gestank des Todes verbinden, den sie seit dem Betreten in der Nase hatte. Nur einmal drehte sie den Kopf und sah hinüber zu dem übel riechenden Haufen, der einst ihr Vater gewesen war. Glassplitter steckten in Kopf und Gesicht, wo die Lampe zerbrochen war und den öligen Inhalt auf Wams und Hosen verteilt hatte.
Die linke Seite vom Feuer entstellt, lag der gekrümmte Körper nur wenige Schritte entfernt von der angetrauten Ehefrau, die sein grausiges Schicksal nur kurze Zeit später mit ihm teilte.
Jetzt waren sie wieder vereint.
Myraida hatte die bangen Sekunden vor Augen, als ihr Vater wie eine Fackel leuchtend sich auf den Dielen wälzte, bis die Flammen gelöscht waren und nur noch feine Rauchfahnen von der Kleidung aufstiegen.
Sie hörte die entsetzlichen Schreie, die abrupt verstummten, als sich ein Splitter tief in die Seite des Halses bohrte und die Atmung versagen ließ.
Bei Anbruch des Morgens war sie ganz auf sich allein gestellt. Niemand würde mehr nach der Schuld am Tod ihres Bruders fragen. Nur sie wusste von den Gräueltaten, die sie den Rest ihres Lebens Nacht für Nacht verfolgen würden.

ENDE
 



 
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