Ein neues Zeitalter

Michele.S

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Paul hätte nicht so viel von den Spiegeleiern essen sollen. Jetzt war ihm schlecht. Aber seine Mutter, Beate, genoss es eben, ihm morgens riesige Mengen Gebratenes vorzusetzen. Spiegeleier, Milchreis, Pfannkuchen und vieles mehr. Früher hatte Paul morgens nie etwas gegessen, doch seit seine Mutter vor einem Jahr aus ihrem Beruf ausgestiegen war, lies sie es sich nicht nehmen, ihren Sohn kulinarisch zu verwöhnen.
Da Paul schon spät dran war für die Schule, ließ er einen Rest auf dem Teller zurück, rutschte schnell in seine Schuluniform, verabschiedete sich von seiner Mutter und schwang sich aufs Fahrrad.


Zehn Minuten später betrat er die Aula. Dort wartete bereits sein bester Freund Johannes an der Eingangstür auf ihn.
"Morgen" begrüße Paul ihn mit einem breiten Lächeln und küsste ihn auf die Wange.
Seit letztem Jahr versammelten sich hier morgens alle Schüler um gemeinsam zu beten.
Seit die Partei bibeltreuer Christen (PBC) die Wahlen im September 2043 gewonnen hatte und nach langwierigen Koalitionsverhandlungen zusammen mit der CDU/CSU und der AfD eine Regierung bildete, hatte sich einiges an Pauls Schule verändert.
Die auffälligste Neuerung war wohl, dass Jungen und Mädchen jetzt getrennt unterrichtet wurden.
Da Paul sich noch nichts aus Mädchen machte und auch noch nie wirklich mit einem Mädchen befreundet gewesen war, hatte ihn diese Änderung nicht groß gestört. Einige der frühreiferen Jungen hatten natürlich gestöhnt, aber mittlerweile hatten sich alle an die neue Situation gewöhnt.
Der Lehrplan war völlig umgekrempelt worden. Mathematik und Naturwissenschaften waren zu Nebenfächern degradiert worden. Auch Englisch hatte an Bedeutung verloren. Stattdessen wurde ein größerer Wert auf die Geisteswissenschaften gelegt. Deutsch, Geschichte und Religionslehre waren nun die wichtigsten Fächer. Pauls Notenschnitt hatte sich seitdem deutlich verbessert.


Als es zur ersten Pause klingelte, nahm Paul seine Jacke und wartete auf Johannes. Wie üblich nutzten sie die Zeit, um händchenhaltend ein paar Runden auf dem Pausenhof zu drehen. Dabei fielen sie nicht weiter auf. Seit es keine Mädchen mehr auf der Schule gab, hatten sich viele solcher Freundschaften gebildet.
"Noch vor zwei Jahren wäre so etwas unmöglich gewesen", dachte Paul glücklich. "Man hätte uns als schwul abgestempelt". Aber vieles hatte sich verändert. Mobbing gab es praktisch nicht mehr, genau sowenig wie Macho-Getue. Jetzt wo die Mädchen fehlten, schien es keinen Grund mehr für einige Jungen zu geben, sich als Alphatiere aufzuspielen.
Als sie auf das Eingangstor zuliefen, trafen sie ihren Klassenkameraden David.
"Hey, was geht?", fragte er die beiden. "Wir gehen heute Nachmittag zum Badesee, kommt ihr mit? Fast die ganze Klasse hat schon zugesagt"
Früher wären die beiden wohl nicht zu einem solchen Treffen eingeladen worden. Doch nun gab es keine Außenseiter mehr. Es war nicht ungewöhnlich, dass die gesamte Klasse nach der Schule gemeinsam etwas unternahm.
Freudig sagten sie zu und betraten dann gemeinsam das Schulgebäude.


Um 13 Uhr kam Paul nach Hause. Aus der Küche roch es bereits nach Rouladen und Rotkraut und der Tisch war für drei Personen gedeckt worden.
Zehn Minuten später begannen Paul, seine Mutter und seine Schwester, Maria, mit dem Essen.
"Wie war es in der Schule?", fragte Beate.
"Toll", antwortete Maria stürmisch. "Es ist jetzt viel besser seit die Jungs weg sind. Keine Zickenkriege mehr, keine Streitereien um irgendwelche Typen und ich muss nicht jeden Morgen überlegen, was ich anziehen soll"
"Ja, es scheint wirklich ein neues Zeitalter angebrochen zu sein", erwiderte Beate nachdenklich. Sie hatte bereits ihr zweites Glas Wein getrunken.
"Schade nur, dass euer Vater nicht da sein kann".
Ihr Vater, Bernd, war die letzten vier Jahre arbeitslos gewesen. Nachdem er mit 42 Jahren seinen alten Job verloren hatte, hatte es sich als fast unmöglich herausgestellt, eine neue Stelle zu finden.
Seit die neue Regierung an der Macht war, die die Steuergesetzte dramatisch geändert hatte, waren aber die meisten Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgestiegen, so auch Beate. Seitdem herrschte im Land praktisch Vollbeschäftigung.
Beate ließ den Kopf hängen. Leise fing sie an zu weinen.
"Was ist denn los, Mama?", fragte Paul erschrocken. Er hatte seine Mutter seit Jahren nicht mehr weinen gesehen.
"Nichts, nichts, es geht schon wieder", antwortete sie schnell und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. "Ich bin glücklich, wenn ihr es seid"
 
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