Ein Paar geklebter Schuhe

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Foma Grigorjewitsch Petrow wusste, dass ihm das Universum übel mitspielte, als er am frühen Morgen des 31. Dezembers über einen toten Mann stolperte. Die Begegnung geschah ohne jede Vorwarnung, wie aus dem Nichts, und war ohne jeden Zweifel der geschmackloseste Scherz, den sich das Schicksal bis dato mit ihm erlaubt hatte. In dem einen Augenblick hatte sich Foma noch nichts ahnend über die müden Augen gerieben, gefangen in seinem üblichen Selbstmitleid, und im nächsten Moment war er über ein Paar lebloser Beine gestürzt. Die ungünstig im Weg liegenden Körperteile waren nicht einmal Fomas größtes Problem. Weit mehr Sorgen bereitete ihm der Mensch, der an besagten Beinen hing. Es war ein äußerst toter Mensch. Ein Mann, mittleren Alters, der ohne jeden Zweifel erfroren war. Mütterchen Russlands Winter waren nicht gerade für ihr Mitgefühl bekannt und bei den Minustemperaturen, die schon seit Tagen in Moskau herrschten, zwängten sich selbst Eisbären in warme Winterjacken. Der Tote hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt. Was einst mal ein Mann mit einem Leben gewesen war, saß nun als leere Hülle in sich gesunken gegen die Wand eines schäbigen Spirituosengeschäfts gelehnt und versaute Foma mächtig den Feierabend.

Immerhin war das hier sein schäbiger Laden, den der Tote als geschmacklosen Grabstein missbrauchte. Foma hatte schon unzählige Geschichten darüber gehört, dass irgendjemand einen toten Obdachlosen gefunden hatte. Einen namenlosen Landstreicher. Man hörte es von den zu neugierigen Nachbarn. Man fand Berichte darüber in der Zeitung, die man von der Welt völlig unberührt in der überfüllten Metro las. Und dennoch. Foma hatte niemals damit gerechnet, plötzlich selbst einer dieser Pechvögel zu sein, die zur falschen Zeit über den falschen Körper stolperten. Er würde die Polizei rufen müssen. Diese Idee schmeckte ihm nicht. Foma traute den russischen Beamten nicht weiter, als er spucken konnte. Natürlich, die neue Polizei war moderner. Durchschaubarer. Man hatte eifrig am Image gefeilt. Es war jetzt immerhin die Polizei. Nicht mehr die Miliz. Aber ein mies bezahlter Psychopath blieb nun einmal ein Psychopath. Ob man ihn jetzt Iwan oder Wanja nannte. Am Ende machte es keinen Unterschied.

Foma starrte noch kurz auf den Toten, dann zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche. Er musste seinen Fund melden. Auch wenn der Mann nur ein weiteres namenloses Gesicht in einem Meer aus Menschen war, welches sicher niemand vermisste, musste Foma jemanden informieren. Natürlich, er könnte auch einfach verschwinden und nach Hause gehen. Noch etwas schlafen, bevor er am Nachmittag wieder das Geschäft öffnen musste. Sollte der Tote doch sonst wem zur Last fallen. Ja, es wäre tatsächlich unkomplizierter, wenn Foma hier und jetzt die Beine in die Hand nehmen und einfach laufen würde. Jedoch lehnte der Tote gegen die Mauern seines Geschäfts. So anspruchslos wie die Gegend hier auch war, so heruntergekommen und vergessen, so war eine Leiche vor der Tür nicht gerade verkaufsfördernd. Der kleine Spirituosenladen war alles, was Foma hatte. Sein ganzer Besitz. Es stand schon schlecht genug ums Geschäft. Es war einzig und allein den zynischen Senioren zu verdanken, dass sich der Laden gerade noch so halten konnte. Die Alten trafen sich selbst bei schlechtem Wetter vor Fomas Geschäft, um gut mit Schnaps und Wodka versorgt unter freiem Himmel über Politik und Literatur zu diskutieren. Über nichts ließ sich besser streiten als über Puschkin und Gogol.

Foma hatte sich längst an die auf Krawall gebürsteten Rentner gewöhnt. Auch an die Betrunkenen, die mal mehr oder weniger zurechnungsfähig waren und über Dinge philosophierten, von denen sie weder betrunken, noch nüchtern eine Ahnung hatten. Foma hatte in den unzähligen Jahren hinter der Kasse zwar nicht viel erlebt, dafür aber umso mehr gesehen. Von grün und blau geschlagenen Frauen bis hin zu größenwahnsinnigen Verrückten, die von Moskaus Nächten angezogen wurden wie die Motten vom Licht. Die Jahre als Ladenbesitzer hatten ihn abgehärtet. Ihm ein dickes Fell verpasst. Ihn zu einem Überlebenskünstler werden lassen, welcher sich an alles gewöhnte. Aber an Tote konnte man sich nicht gewöhnen. Die Leiche musste da weg. Keine Frage. Jetzt sofort, wenn möglich. Foma atmete tief durch, dann wählte er die Nummer des Notrufs. Er wusste nicht, ob ein Toter ein Notfall war, aber zur Hölle damit. Es klingelte recht lange, ehe sich eine gereizte Frauenstimme meldete. Foma schilderte kurz und knapp die Situation und wurde mit der kühlen Anweisung allein gelassen, sich nicht vom Fundort wegzubewegen, da man ihn noch befragen wollte. Um den Toten würde man sich kümmern. Wann? Keine Ahnung. Die Frau legte ohne Abschied auf. Foma starrte stumpf auf sein Mobiltelefon, dann auf den toten Körper, der sehr zu seinem Ärger seinen längst überfälligen Feierabend ruinierte. Plötzlicher Zorn überkam ihn. Brennende Wut darauf, dass der Alte von allen Ecken Moskaus ausgerechnet hier hatte sterben müssen. Darauf, dass ein Fremder plötzlich zu Fomas Problem geworden war. Ein Mann, bei dem es sich seiner schäbigen Kleidung nach zweifelsohne um einen Obdachlosen handelte. Der Tote trug einen ausgefransten Mantel, eine dreckige Hose und alte Turnschuhe, die vor Jahren vermutlich einmal weiß gewesen waren, jedoch längst ergraut waren. Silberfarbenes Klebeband war das einzige, was die müden Sohlen noch zusammenhielt. Eine verzweifelte Notlösung eines verzweifelten Mannes. Ein Leben ohne ein Dach über dem Kopf war hart, aber ein Leben ohne Schuhe? Ein einziges Elend.

Es war Abscheu, die Foma empfand. Abscheu und Wut, aber auch eine schwache Regung hoffnungsloser Sympathie. Tief unter all dem ganzen Ärger und müden Frust war ein Funke trauriger Anteilnahme vergraben. Stummes Selbstmitleid, welches sich als falsche Berührung tarnte. Vermutlich lag es an den traurig geklebten Schuhen, dass Foma an Ort und Stelle verharrte und nicht davon lief, wie es sein erster Impuls gewesen war. Der Obdachlose war nicht der erste Tote, den Foma zu Gesicht bekam. Da hatte es bereits einen Großvater und eine Tante gegeben, die von der Zeit dahin gerafft worden waren und von denen er sich, wie es der Anstand verlangte, auf den sorgsam geplanten Beerdigungen verabschiedet hatte. Aber das hier, diese schaurige Begegnung, war spürbar anders. Hier starrte Foma nicht bemüht gerührt auf einen toten Körper hinab und dachte dabei stumpf ans Ende dieser ermüdenden Prozedur, sondern sah sich mit der unangenehmen Frage konfrontiert, wann er wohl an der Reihe war. Wann war er es, der als reglose und tote Hülle zurückblieb, während die Lebenden auf sein Wohl tranken?

Würde man überhaupt auf ihn trinken? Von ihm Abschied nehmen? Mit den Eltern heftig zerstritten und ohne Geschwister, waren Fomas Chancen auf eine gut besuchte Beerdigung eher gering. Seine Cousins? Die verabscheute er. Freunde? Hatte er keine. Sämtliche Kontakte waren bereits vor Jahren im Sand verlaufen. Es gab niemanden, der ihn vermissen würde. Foma war allein. Selbst seine Stammkunden, die seit Jahren schon bei ihm ihren billigen Fusel kauften, Nacht für Nacht mit zerknitterten Geldscheinen bei ihm zahlten, würden sich nicht groß um sein Verschwinden kümmern. Diese abhängigen Nachtwandler bekamen ohnehin nichts mehr mit. Die Sinne waren längst verkümmert. Das eigene Selbst abgestumpft. Die Gefühle abgeschaltet. Foma war lediglich ein Verkäufer. Ein müdes Gesicht hinter einer Kasse, eingetaucht in krankes Neonlicht. Es gab niemanden, der ihn zu Hause erwartete. Was unterschied ihn, Foma Grigorjewitsch Petrow, also von dem Toten, der dort ohne Namen und Gesellschaft verendet war? Seine warme Kleidung, höchstens. Die gut gefütterte Winterjacke. Seine stabilen und sogar recht neuen Schuhe, ganz ohne Klebeband. Das war es, was beide Männer unterschied. Nicht mehr - und nicht weniger.

Das Geräusch einer laut zuknallenden Autotür schreckte Foma aus seinen Gedanken auf. Foma stolperte hektisch vom Toten weg, nur um sofort wieder einen großen Schritt nach vorne zu machen. Seine Zunge kribbelte, als würden auf ihr unausgesprochene Worte tanzen. Da waren sie also, der Tote und er. Zwei Fremde, die sich niemals zuvor getroffen hatten. Ein Landstreicher und ein Verkäufer. Beides unpersönliche Gesichter in einer völlig überfüllten Stadt. Über elf Millionen Menschen lebten in Moskau - Tendenz steigend. Niemand würde ihn vermissen. Den toten Mann, der aus dem Nichts gekommen war. Niemand kümmerte sich um ein Paar geklebter Turnschuhe. Niemand kümmerte sich überhaupt um irgendwas. Foma rieb hektisch seine kalten Hände aneinander. Seine Finger fühlten sich taub an. Leblos. Wo blieben nur diese verfluchten Beamten? Er hatte immerhin nicht ewig Zeit.

Und es war verdammt kalt.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Naduschka,
Ich war überrascht! Die Geschichte die du erzählst, dein Schreibstil, die Sprache, hat mir alles sehr gut gefallen. Dein Text schafft viel Nähe, ich stand neben dem Prot, konnte seine Gedanken nachempfinden. Hab den Text sehr gern gelesen.
Mit Gruß, Ji
 



 
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