Ein Paar neue Stiefel


Kornelius lief, er lief so schnell er konnte, er lief um sein Leben. Die ersten zwei Kilometer war er gekrochen, dann hatte er sich langsam aufgerichtet und ängstlich gelauscht, aber das russische ,,Halt, ich schieße“ war aus dem Wachturm ausgeblieben. Er hatte noch gut drei Kilometer kahler Steppe vor sich, bevor der rettende Wald begann und nun gab er alles, war sein geschundener Körper noch an Reserve hatte.

Die Flucht hatte Kornelius von langer Hand geplant, schon am ersten Tag wusste er, dass er den kommenden Winter nicht durchhalten würde, er würde eingehen und nie mehr nach Hause kommen , nie mehr Renate sehen können.

Er wurde im April, kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag in den Gulag, nach einen Woche Fahrt im Viehwagon, gebracht. Die Männer, alles Deutsche, waren hier zwischen fünfzehn und dreißig Jahre alt und alles Volksverräter. Ihnen wurde ihre Nationalität zu Last gelegt und unterstellt Hitlers Handlanger zu sein. In der Baracke hatte Kornelius eine nackte Holzpritsche zugewiesen bekommen, denn eine Matratze, Decke und Kissen stand einem Häftling nicht zu. Sie hatte nur die Kleidung die sie am Leib trugen, damit gingen sie zur Arbeit und darin schliefen sie auch. Kornelius Nachbar war ein Russe, eine Ausnahme, denn straffällig gewordene Russen kamen in andere Lager mit milderen Haftbedienungen. Wasili, so hieß der Russe, war Grundschullehrer gewesen und hatte das Pech gehabt bei einer Feier, den Genossen Stalin nachzuäffen. Der russische Führer stammte aus Georgien und sprach mit einem starken Akzent. Die Gäste fanden es lustig, aber am nächsten Tag wurde Wasili von den Milizmännern (NKWD) abgeholt. Wasili hatte blaue Augen, die Kornelius an die Kornblumen erinnerten, die Renate so mochte, ein sommersprossiges Gesicht und feuerrote Haare. Sie musste jeden Tag um sechs Uhr in den Schacht steigen, mit der Spitzhacke Kohle abbauen und abends, wenn es längst wieder dunkel war, durften sie aus dem Stollen raus. Wenn jemand die Norm nicht rausgearbeitet hatte, wurde ihn die Essensration gekürzt. Und was blieb von 100 Gramm Brot und einem Teller Suppe, bei einer Kürzung über? Wasili, der als privilegierter Bürger gelebt und immer genug zu essen hatte, verlor sehr schnell an Gewicht und wurde immer schwächer .Eines Morgens , als Kornelius ihn zum Appel wecken wollte, war Wasili nicht mehr ansprechbar und abends war seine Pritsche leer gewesen. Ein paar Tage später, Kornelius war grade an der Grube angekommen, wo die Häftlinge ihre Notdurft verrichten mussten, sah er aus dem Unrat ein Buschel feuerrote Haare aufsteigen. ,,Das ist nur ein Fuchs, ein Fuchs der hier verendet ist“- redete Kornelius sich ein.

Es war September geworden und auf diesen Monat hatte Kornelius gewartet und darauf, dass der Dauerregen einsetzte würde und dass ein ganz bestimmter Aufseher Nachtwache hatte. Der Aufseher, mit einem blutrünstigen Hund, der sich nach dem ersten Befehl seines Herrchens am Hals des Häftlings festbiss uns so lang dran blieb, bis der Hals nur noch aus Fetzen bestand, war ein aggressiver Russe und ging nach der ersten Runde in die Nachbarbaracke, um da deutsche Mädchen und junge Frauen zu vergewaltigen.

Und nun lief Kornelius Richtung Wald, er hatte für diese Strecke eine Stunde eingeplant, die müsste nach seiner Rechnung schon längst vorbei sein. Wer weiß, wie lange der Aufseher sich noch vergnügen würde und dann Gnade ihm Gott. Seine Lunge drohte zu platzen, seine Beine zu versagen, die Angst nahm Besitz von ihm, dann tat sich plötzlich die Regenwand auf und der dunkle Wald massiv erschien.

Die erste, die gefährlichste Etappe seiner Flucht war ihm gelungen. Kornelius hatte darauf spekuliert, dass wenn die Suche nach ihm in Kürze starten würde, und das wird sie, könnte man ihn im Wald nicht so schnell ausmachen, der Regen würde seine Spuren verwischen und die Hunde würden nicht anschlagen können. Höchstwahrscheinlich würde man dann die Suche abbrechen und ihn zur Fahndung, als einen Deserteur, ausschreiben.

Kornelius achtete darauf, dass er nie in die Nähe eines bebauten Gebiets kam, er lief überwiegend nachts und am Tag versteckte er sich im Unterholz, er aß das was der Wald hergab; Früchte, Beeren, Wurzeln. Einmal ist er im Wald mit einem alten Imker zusammengestoßen und zu Tode erschrocken. Der alte Mann hatte ihm ein Stück Wabe gegeben und gesagt er solle verschwinden. Noch tagelang danach saß Kornelius die Angst in den Knochen, der Imker würde ihn verraten, aber nichts passierte.

Sara hatte Nachtschicht, sie arbeitete im Kuhstall und musste aufpassen, dass die Geburten, die Kälber kamen jetzt vermehrt zur Welt, komplikationslos verliefen. Wenn es mal Probleme geben sollte, hatte sie den Auftrag den Tierarzt kommen zu lassen. Sara hatte bis jetzt noch nie den Veterinär holen müssen, denn sie war vor dem Krieg Hilfsschwester auf einer Entbindungsstation gewesen und hatte viel Erfahrung auf diesem Gebiet. ,,Eine Geburt ist eine Geburt"- sagte sie immer-" die ist bei Mensch und Tier gleich“. Als Sara sich kurz vor Tagesanbruch einen Caro Kaffee machte, kam ein Mann in den Aufenthaltsraum. Er trat blitzschnell von hinten an sie heran und begrapschte ihre Brüste. Sara goss Kaffee über seine gierigen Hände, der Mann fluchte und ließ von ihr ab. Es war nicht das erste Mal, dass er sie belästigte, er wusste dass ihr Mann und Sohn im Lager waren und ließ keine Gelegenheit aus, sie ins Bett zu kriegen. Dieser Mann war im Dorf als Spitzel bekannt und meldete jede Kleinigkeit der Miliz. Da er sich im Schutz der Miliz wähnte, konnte er tun und lassen was er wollte und er wollte Sara. Bald darauf kamen die Melkerinnen zur Arbeit und Sara durfte nach Hause gehen. Als sie an ihrer Haustür ankam und diese aufmachen wollte, trat eine lange Gestalt aus der Dunkelheit heraus. ,,Nicht schon wieder“ dachte Sara und suchte nach einem passenden Gegenstand um den Spitzel zu vertreiben, da erreichte ein vertrautes ,,Mama“ ihr Gehör.

Noch bevor es draußen hell wurde, hatte Sara ihrem Sohn die Haare geschoren, ihn gewaschen und seine Lumpen, die Schuhe und die Haare im Ofen verbrannt. Alles war von Ungeziefer befallen gewesen. Die Kleidung, die Kornelius vor dem Lager getragen hatte, hing jetzt wie an einer Stange an ihm herunter.

Am nächsten Tag begannen sie ein Versteck zu bauen. In der großen Stube stand seit Saras Heirat eine große Holztruhe. Die Bodenbretter wurden gelöst und ließen sich dann problemlos zur Seite schieben und unter der Truhe gruben die einen Tunnel, der unter dem Haus bis zum baufälligen Schuppen führte. Die lose Erde schaffte Sara in den Keller, denn jede Aktivität konnte Fragen aufwerfen. Und so saß Kornelius am Tag unter der Erde und nachts schlief er am warmen Ofen. Aber als im Dezember der sibirische Frost die Erde hart frieren ließ und die Kälte ins Erdreich kroch, blieb Kornelius auch am Tag im Haus. Sara musste höllisch aufpassen, um keine Veränderungen in ihrem Verhalten zu zeigen. Eines Tages, als sie zweimal hintereinander Brot backte, fragte der Spitzel sie auf der Straße ob sie Mittesser habe. ,, Nein"-hatte Sara gemeint- ,,meine Kuh fraß schlecht und da habe ich ihr jeden Morgen eine Scheibe Brot mit Salz bestreut gegeben.“
,,Und ,hat es geholfen?-„ wollte er wissen. ,,Klar doch“- war ihre Antwort gewesen.

Das nächste Mal hatte sie ihren Sohn beinah verraten, in dem sie im Laden Stiefel kaufen wollte, Kornelius besaß keine Schuhe, er trug nur Socken an den Füßen und so hatte sie, ohne darüber nachzudenken, ihm welche kaufen wollen. Erst als ihre Nachbarin sie anschubste und fragte was sie denn mit Männerstiefeln wolle, ließ sie von ihrem Vorhaben ab.

Kornelius ging es gesundheitlich immer besser, seine fahle Haut hatte eine gesunde Farbe angenommen, seine Haare waren nachgewachsen, er hatte zugenommen und war ein schöner, junger Mann geworden. Die Fenster und Türen blieben immer geschlossen, wenn mal jemand vorbei kam , musste er klopfen und Kornelius hatte genug Zeit um im Tunnel zu verschwinden. (Die verriegelten Türen waren bei Saras Arbeit legitim). Im April, zu seinem achtzehnten Geburtstag, bat er Sara Renate einen Gruß von ihm auszurichten. Sara weigerte sich, sie versuchte ihn umzustimmen- vergebens. Kornelius gab keine Ruhe, er wollte nur, dass Renate Bescheid wusste. Noch am gleichen Abend kam Renate vorbei, zu Hause hatte sie gesagt Sara habe sie gebeten ihr beim Osterbrotbacken zu helfen. Danach kam sie fast jeden Abend vorbei, schenkte ihm ein paar fast neue Stiefel, (die passten ihrem Bruder nicht mehr) und saß stundenlang mit Kornelius, händchenhaltend, auf der Truhe. Diese Besuche hatten dem Spitzen ausgereicht, um tätig zu werden.

Als die Milizmänner die Tür aufbrachen, schaffte Kornelius es noch grade seine Renate in den Schrank zu stecken, er konnte seinen Fluchtweg jedoch nicht mehr antreten.

Es fing an zu schneien, als Kornelius am nächsten Abend auf dem Appellplatz des Gefängnisses stand. ,Wahrscheinlich der letzte Schnee in diesem Jahr“- dachte Kornelius.

Ein Aufseher, der seinem Feierabend entgegenging, blieb vor Kornelius stehen und forderte ihn auf seine Stiefel auszuziehen. Kornelius hatte einen Moment zu lange gezögert und der Kolben des Gewehrs traf ihn mit voller Wucht am Kopf. Eine halbe Stunde später verließ der Aufseher fröhlich pfeifend mit ein paar fast neuen Stiefeln unter dem Arm, das Gefängnisgelände.

Die Schneeflocken, groß und nass, bedeckten nach und nach Kornelius‘ nackte Füße, setzten sich auf seinem Körper, in seinem Haar fest, tanzten über sein Gesicht und versuchten das rote Rinnsal, das aus seinem Mund geflossen war ,mit ihrem unschuldigen weiß zu überdecken.

Sara hatte im Norden, in einem der härtesten Gulags der Sowjetunion überhaupt, einen Brief von Renate bekommen. Sie schrieb, dass jemand das Haus des Spitzels angezündet habe und weil die Tür von außen verriegelt gewesen war, er verbrannt sei. Nur noch verkohlte Knochen waren von ihm übrig geblieben. ,,Was er verdient hat, das hat er auch bekommen“-mit diesem Satz endete der Brief.

Sara, von der nur noch ein wanderndes Gerippe übrig geblieben war, ließ diese Nachricht kalt. Eine tiefe Gleichgültigkeit hatte von ihrem Körper und ihrem Geist Besitz ergriffen.
 
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petrasmiles

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Liebe Anna Wilms,

Du hast noch gar keine Reaktionen auf Deinen Text bekommen, und das wunderte mich.

Die Frage ist für mich nicht, ob Deine Erzählung gut geschrieben ist, ob sie glaubwürdig ist oder die Charaktere überzeugen.

Es geht für mich darum, dass ich nach der 'Atemschaukel' keine Lagergeschichten mehr lesen mag. Und ich frage mich, was einen bewegt, so eine Geschichte zu schreibe. Was der Auslöser war, dass diese Geschichte geschrieben weren wollte - und am besten frage ich Dich!

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra,
ihre Frage bez. des Auslösers für diese Geschichte ist einfach zu beantworten; ich wollte den Menschen, die mir am Herzen liegen, eine Stimme geben. Für alle Opfer, die in den Gulags ermordet wurden, reicht eine Stimme nicht aus, aber für ein paar Menschen schon. Diese Lagergeschichte beruht auf wahren Begebenheiten und es ist mir wichtig sie zu erzählen. Denn dass, was Hitler den Juden angetan hatte, hat Stalin mit den Deutschen gemacht. Aber, weil es in Russland angeblich keine Deutschen gab, schweigt man über Stalins Gräueltaten.
Zum Glück bietet die Leselupe eine große Auswahl an Geschichten, da kann jeder lesen was er mag.
Gruß
Anna
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Anna,

an Deiner netten Antwort merke ich erst, dass meine Frage doch recht merkwürdig war - quasi wie eine Rechtferigungsanforderung. Aber so war es nicht gemeint - und das hast Du auch verstanden. Danke dafür.
Ich glaube nicht, dass Stalins Gräueltaten verschwiegen werden - sie sind nur eher in den Händen der Historiker. Stalin ist dafür berüchtigt, keinen Unterschied zwischen der Vernichtung von Freunden und Feinden gemacht zu haben. Aber wer ist 'man' - die Menschen in Deutschland oder in Rußland?
Aber Du hast vollkommen recht, dass Dein Bedürfnis des Aufschreibens Grund genug ist für diesen Text.

Liebe Grüße
Petra
 

Anton Maurer

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Ich hab die Geschichte gern gelesen.

Allerdings frage ich mich, warum die Familie des deutschen Gefängnisinsassen in Sibirien wohnt?

Kornelius achtete darauf, dass er nie in die Nähe eines bebauten Gebiets kam, er lief überwiegend nachts und am Tag versteckte er sich im Unterholz, er aß das was der Wald hergab; Früchte, Beeren, Wurzeln. Einmal ist er im Wald mit einem alten Imker zusammengestoßen und zu Tode erschrocken. Der alte Mann hatte ihm ein Stück Wabe gegeben und gesagt er solle verschwinden.
Hier scheint mir mit den Zeiten was nicht zu passen (Präteritum-Perfekt-Plusquamperfekt).
 
Hallo Anton Maurer, habe mich sehr darüber gefreut, dass Sie die Geschichte gelesen haben. Die Tatsache, dass die Deutschen in Sibirien wohnten, ist der Einwanderungswelle (1789)aus Preußen in die Ukraine geschuldet. Die deutschen Siedler bekamen bestimmte Privilegien zugesichert wie z.B. ihre Religion frei ausleben, ihre Sprache sprechen, Land günstig erwerben zu können. Der erste Weltkrieg brachte die stabile Welt der Deutschen in Russland ins Wanken. Ab da begann die Verfolgung und Vertreibung, unter Anderem, nach Sibirien.
Gruß A.W.
 



 
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