Ein Papierhaufen von Wien

Leise betrat sie die Flat, sie sah den Notizer in der Diele blinken. Scheinbar war Niklas nicht da. Dann konnte sie in Ruhe die Karten studieren. Meike schleppte die Holzkiste zum Tisch im Lebensraum.
"Licht 75 %, Tisch", befahl sie dem Homevisitor, dann breitete öffnete sie die Kiste und legte die erste Karte auf den Tisch. Mit dem Licht sprang auch der Notizer an und sie hörte Niklas Stimme durch die Flat hallen: "Liebste, ich kaufe ein. Essen ist im Mikroherd. Bis spätestens 18 Uhr bin ich zurück."
"Uhrzeit?", fragte Meike.
"Es ist 17 Uhr und 31 Minuten", surrte die männliche Stimme des Homevisitors.
"Oh Mist." Eine Hand stemmte sie rückwärtig in ihre Taille und richtete sich auf. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, sie wollte ihren Lebenspartner noch eine Weile beschäftigen.
"Telefon. Anruf Niklas Handy." Sie kramte aus der Kiste eine weitere Karte wahllos heraus, auf dieser stand Belgien.
"Ja, Meike?" Niklas klang überrascht.
"Hallo Niklas. Bring mir doch bitte Nektarinen mit."
"Nektarinen?"
"Ja."
"Die musste ich in Auftrag geben, die sind frühestens in drei bis vier Tagen fertig. Also, die stehen noch nicht zur Verfügung, Liebste."
"Niklas, ich will Nektarinen. Nein, ich brauche sie. Ich kann jetzt ohne nicht sein. Bring mir welche mit."
"Nektarinensaft? Joghurt mit Nektarinenpüree?", bot er an.
"Bitte Niklas, ich hab dir das schon einmal erklärt. Du verstehst das nicht, aber ich brauche Nektarinen."
"Okay, okay. Ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde suchen. Dann werde ich etwas mehr Zeit brauchen."
"Ist gut."
"Wirklich?"
"Ja, ist okay. Telefon Ende."

Meike wand sich wieder den seltsamen Karten zu, die allesamt brüchig, graubraun und staubig in der Kiste lagen. Wahllos faltete sie die erste auseinander. Deutschland hatte außen auf der Karte gestanden. Löcher wies die Karte auf. Deutschland, dachte Meike. Seit der Wende gab es nur noch Zentralstaat Europé, kurz ZSE. Eine andere Karte zeigte wohl Belgien, aber wo läge heute Belgien, fragte sich Meike. Sie las die Titel der Karten: Strassburg, France, Luxemburg, Italien. Ausgebreitet stellte sie fest, dass Italien zur Hälfte verschwunden war.
Oma hatte gesagt, dass sie die Karten aufgehoben hatte, weil sie sich von der Vielfalt der Länder hatte nicht trennen können, die es einst gab. Ihr waren diese Karten als Symbole lieb und teuer gewesen, wenn sie auch ihr Fernweh nicht gestillt hatten. Und jetzt hatte sie diese Kiste von Schätzen. Wenn sie diese Karten überhaupt nutzen wollte, müsste sie einen Weg finden, sie zu sichern. Viel wichtiger aber noch war, dass sie herausfinden musste, wie man Karten überhaupt las. Sagte man überhaupt "Kartenlesen"?
Sie starrte mit kindlichem Glanz die eigenartig gedruckten Bögen Papier vor sich an. Überall standen Namen. Ein

Raster aus Quadraten lag über der willkürlichen Mixtur von grünen, weißen und rosafarbenen Flächen. Rote, gelbe und blaue, dünne und dicke Striche durchkreuzten in einem Durcheinander diese Flächen.
Vorsichtig klappte sie die Karten wieder an der Falz zusammen und legte sie behutsam in die Kiste zurück. Ausgerechnet die letzte Karte – Wien stand darauf – zerbröckelte in viele tausend Teilchen. Nichts blieb zu retten.
Sicher kommt Niklas gleich, dachte Meike und räumte zunächst schwerfällig die Kiste in ihren Schrank.
Männern war es nicht erlaubt, den privaten Schrank zu durchwühlen; es sei denn, es diente ausdrücklich der Sicherheit des Zentralstaates Europé. Einige Männer hatten sich des Verbotes schuldig gemacht und die Konsequenzen zu tragen. Letztlich wurden sie von ihrer Partnerschaft entbunden und fanden in der Regel keine Frau mehr. Sie teilten das Schicksal mit den Fruchtlosen. Das hatte die Männer vorsichtiger werden lassen.
Meike wollte Niklas nicht misstrauen, doch gab es Dinge, die ihn zu sehr aufregten, zu sehr belasteten. Er war gesetzestreu, und das führte seit einigen Monaten nun zu vermehrtem Niederschlag, Nebel und Bodenfrost. Immer wieder legte sie ihm dar, was sie sich für eine gemeinsame Zukunft vorstellte. Er konnte sie nicht verstehen. Das war auch nicht einfach, denn dieses Bild von einer Zukunft formte sich noch aus, veränderte sich oft noch stark. Ihre Ansichten klangen ihm allzu oft zu aufrührerisch. Er wollte eine normale gesunde Familie, seinetwegen auch mit dieser altmodischen Frau und ihrem Oma-Tick.

Sie hatten sich bei einem der üblichen Tanzgelegenheiten kennen gelernt und beschlossen, gemeinsam die zweijährige Elternausbildung zu absolvieren, so als Probezeit. Sie fand an ihm bemerkenswert, dass er zwar wie die meisten Männer sehr feminine Bewegungen hatte, dabei jedoch einen strafen Körper und eine tiefe maskuline Stimme besaß. Immerhin war sie damals inzwischen 24 Jahre alt, da musste Meike an ihre berufliche und familiäre Weiterentwicklung arbeiten und gab Niklas eine Chance. Nach dem Abschlusspraktikum an einem der Kinderlernparadiese holten sie sich dann übereinstimmend die Erlaubnis ein, gemeinsam Kinder zu zeugen. Mittels Hormone wurden ihre Eierstöcke erstmalig animiert, Eier zu produzieren. Niklas selbst bekam ebenfalls eine Hormontherapie, damit die Samenproduktion angeregt wurde. Mit 26 Jahren bekam Meike ihre erste Regelblutung und fiel in das Loch der Pubertät. Als sie dann nach knapp einem Jahr erfolgreich schwanger war, konnten Niklas und Meike als anerkannte Lebenspartnerschaft zusammenleben. Es fiel Meike sehr schwer, mit einem Mann zusammen zu leben. Seit dem sich ihr Körper und ihr Leben veränderten, durchzogen ihr Gehirn befremdliche ungewohnte Gedanken wie Giftschlangen; sie vermehrten sich unersättlich wie kleine Nager.
Niklas wollte geduldig sein. Seine Freunde hatten ihn darauf vorbereitet, dass Frauen eigenartig seien. Doch allmählich verlor er an Zuversicht und Geduld.
Gerade als Meike das Kerrblech mit den Kartenresten in den Müll auskippen wollte, vernahm sie Schritte vor der Tür.

Ein Papierhaufen von Wien - Teil 3
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Ein Papierhaufen von Wien - Teil 6 - Ende
Ein Papierhaufen von Wien - Teil 2
 

flammarion

Foren-Redakteur
eine

ganz tolle fantasie, zwar nicht neu, aber gut umgesetzt. bin gespannt, wie es weitergeht. nur ein harter stolperstein - Kerrblech. Kehrblech bitte. und wie hatte sie es hinübergerettet in diese zeit? da gibt es doch bestimmt reinigungsroboter, die aus ihren halterungen schießen, sobald ein stäubchen zur erde fällt . . .
lg
 
danke danke, flammarion, du hast recht ... Mist ... die hatten kein Kehrblech mehr ... klar ... lass mir was einfallen.

Hoffe dir fallen noch andere Ecken und Kanten auf ... :)

Grüsse
Scarlett
 



 
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