Ein Plädoyer für den Alkoholmissbrauch

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Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ein Plädoyer für den Alkoholmissbrauch

1
Der Rausch ist ein ungeduldiger Gast, ein unbeugsamer Gast. Er liebt es, die Ängste in Betrieb zu setzen, den Stromkreis auszudehnen und sich in Sekreten zu wälzen.
2
Zieht man die Delirien dem Asketismus vor, befällt der Wille zum Rausch das Atom, das Fleisch, das Du, das Bakterium. –
3
Eine Gymnastik des Verfalls. Ihr wohnt eine Leichtigkeit inne, eine anzügliche Erotik. Die emotionale Kastration befreit und macht milde, sie schenkt die meditative Leere, Lust, die in Ballettschuhen läuft, die ersehnte Christusgestalt.
4
Alles ist in Auflösung begriffen. Den Organen wird die Tätigkeit erschwert, dem Fleisch die Zukunft verbaut und die Knochen durchsetzen den Sack voller Abfall, der unablässig Geist produziert.
5
Der Geist? - Zwischen Epilepsie und Erlöschen schwankend, ist er, unfähig vor seiner Biographie zurückzutreten, schiffbrüchig.
6
Ein innerer Waschzwang, das Trinken. Und die Verdrängung ist das Exoskelett eines jeden Bedrückten - der Kranke ist ein ruinierter Engel.
7
Das spärliche Brusthaar der Disteln, die nikotingelben Finger der Sonne, das gefrorene Schwimmbad der Arktis - das Konkrete verschwindet, er defiliert abseits der Natur.
8
Mittags 13 Uhr - Alkohol. - Nichts auf nichts folgend, bis ein Knirschen auf das Knacken mit dem Knochen brechen, sich verschieben und neue Formen bilden. Nichts bis auf den Lärm, mit dem den Engeln Raubtiermäuler wachsen.
9
Die Fäuste des Alkohols, die in seinen vier Wänden randalieren.
10
Das Auge des Alkohols, das in ihm weint.
11
Explosionen, die durch seine Adern strömen, Schlaf, abgelagert in den Nervenbahnen, Stürze von Diät zu Orgie und umgekehrt.
12
Alle Liebe hat ihren Anfang hinter dem Horizont - er ist gezurrt in Horizonte?
13
Sein nachternährtes Blut.
14
Plötzlich das Bewusstsein, die Arbeit von Organen zu sein und die Sehnsucht, sie zu schikanieren.
15
Perversionen einer blitzartigen und negativen Erhellung - der Alkohol ist ein Beunruhigungsmittel, eine idiotische Medizin.
16
Das Trinken – also eine Schabe, ein Cello mit weit offenem Mund, die hungernde Leere und ihre Bestürzung.
17
Vergebliche Delirien, absaufen in Sanftmut, sich einnisten in biographischen Brüchen und nirgendwo stranden.
18
Die gedehnten Adern voller Illusionen - Schlagfluss der Verdrängungen - Sterne, die zu Herzen schrumpfen.
19
Trinken heißt: Erinnerung verfälschen, Illusionen stilisieren, Ängste verschütten, Schwärze anstreichen.
20
Man findet den Himmel nicht, indem man schürft.


Eine Reihe von Anrufungen für den Betroffenen.

1
Ihm werde das freie Vergessen zuteil und eine freiwillige Alzheimererkrankung sein Steckenpferd.
2
Möge sein Körper etwas sein, dass der Aufregung nicht wert ist. (Einen Fingernagel, ein Haar abschneiden, was tuts - Sie hatten nie Anteil an ihm, sie wurden nicht vom Ich infiltriert. Und dann? Das Konzept ausweiten: einen Finger, ein Organ weniger - ein Schulterzucken, ein unbeteiligter Blick.
3
Sein Leiden werde zum allgemeinen Prinzip. Nur die Individuation brennt, nur das Individuierte lebt.
5
Kaum ein stärkeres Unglück als die Empfindung, dass er frei ist. Er soll der erste, seiner Unfreiheit selbstbewusste, sich unfrei empfindende Roboter sein: dem Ich einen Neuanfang gönnen.
7
Die Beschränkung des Gewissens werde aufgehoben. Moralisch? Bloß aus Kalkül. Das Gewissen: unablässiges Rädern der Wünsche.
8
Reizaufwurf im Kontrollirrsinn und den Aufwurf in der Kontrollaufgabe in Trümmer schlagen, also alles in libidinöse Korrelationen setzen.
9
Es möge ihm das Gelingen zuteil werden das Licht zu verfestigen, es zu zerschneiden und Körper daraus zu bilden, die er erdrosseln kann.
10
Auf nichts terminieren - ein Hymnus ohne Inhalt sein





 

Johnson

Mitglied
Hallo Patrick,

die düstere Atmosphäre, gepaart mit der Symbolik, verleiht dem Werk meiner Meinung nicht Tiefe, sondern erstickt jeglichen Versuch einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Alkoholmissbrauch.

Statt einer Reflexion, präsentiert es sich für mich als ein Gewirr von Worten.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Das ist okay. Aber als (seit Jahren trockener) alkoholsüchtiger Mensch, weiß ich schon sehr gut, worüber ich spreche.
 

Mimi

Mitglied
Aber als (seit Jahren trockener) alkoholsüchtiger Mensch, weiß ich schon sehr gut, worüber ich spreche.
Der Leser, dear Patrick, kann dem Autor bekanntlich nicht hinter die Stirn blicken, wie denn auch, wenn er keine telepathischen Fähigkeiten besitzt ...
Er kann nur mit dem "arbeiten", was der Autor ihm an Worte, Bilder, Klänge anbietet.

Was Du mir als Leserin hier anbietest, ist nicht wenig, es ist schon ein Bombardement aus inneren Bild- und Wortfragmenten, aber dieses scheinbare (oder oberflächlich betrachtete) Wort-Chaos, lässt sich trotzdem für mich als Ganzes thematisch zusammenfügen.
Nur als Plädoyer funktioniert es für mich eben nicht.
Ich bin mir nicht sicher, ob der Text vielleicht insgesamt betrachtet, eher überfordernd wirkt, es ist zumindest kein leicht verdaulicher Text.


Statt einer Reflexion, präsentiert es sich für mich als ein Gewirr von Worten.
Hmm ... das sind doch durchaus Reflexionen ...

Gruß
Mimi
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Lieber Patrick
Dein Text hat mich erinnert...vor Jahren hatte, ich ohne es zu wissen, einen Alkoholiker kennengelernt.
(Siehe Bat out of Hell).
Es waren wenige Monate, viele kleine Momente der Hölle, die ich miterlebt hatte.
Dein Text ergibt für mich einen kompletten Sinn.

Jedes einzelne Wort kann ich unterschreiben.
Danke dafür.
Herzlichst
Sue
 
Mich überfordern die Bilder. Bzw. vielleicht überfordern die Worte, nicht die Bilder - sie laden mich nicht ein, mich darauf einzulassen.
Vielleicht hätte ich auch, aufgrund des Titels, so etwas erwartet wie "nüchtern betrachtet war besoffen besser". Für mich steht die Qualität des Textes außer Frage, aber sie geht an mir vorbei. Warum äußere ich mich dann überhaupt dazu? Mag sein, diese Frage ist eine Antwort auf den Text.

MfG
Binsenbrecher
 
G

Gelöschtes Mitglied 28334

Gast
@Patrick Schuler

Ich hoffe, ich darf! :D

Ein arbeitsloser Donnergott, der sich an Hochspannung betrank.

Ob der alte Herr. L. mit seinem Haus eins wurde oder das Haus mit ihm, war schwer zu sagen: irgendwann war nur noch die verwilderte Flasche Korn und der Garten übrig, in dem die freundliche, stille Anwesenheit beider spürbar war.

Über der Oberfläche des Neutronensterns schwebte reglos ein Mann mit sechs Bierkästen. Er hatte die Augen geschlossen und schien vollständige Vereinigung mit der Ewigkeit erlangt zu haben.

Das Einzige, was man über Cathy mit Sicherheit zu sagen vermochte, war, dass sie von Raketeneinschlägen angezogen wurde und sich Explosionen einschenkte.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich sehe: es ist vielleicht wirklich etwas viel auf einmal ... hmmm ... es ist ja eigentlich ein Ableger der Olanzapin Philosophie, der mir aber nicht so gut gefallen hat, wie der Rest, daher wollte ich das Tagebuch nicht verunreinigen. Dennoch glaube ich, dass es vieles auf den Punkt bringt.

Vielleicht hätte ich zumindest die Reihe von Anrufungen raus nehmen sollen ...

Es ist übrigens nur deshalb ein Plädoyer, weil es in dem Kontext der OP um eine Art von Krankheitsverherrlichung geht. Allerdings konnte das hier natürlich keiner wissen.

Ich danke euch für die Rückmeldungen :)
Hat mir Klarheit verschafft, auch wenn ich mich im ersten Moment dagegen gewehrt habe.

PS: logi, wir müssen mal einen Thread zusammen machen ;)

LG euch
Patrick
 
Vielleicht muss die Perspektive des Erzählers geklärt sein, weil sonst falsche Erwartungen beim Leser geweckt werden?
Wie wäre es also z.B. mit der Überschrift
"Plädoyer eines Alkoholkranken"?
Aus dieser Perspektive kann der Leser die Bilder einordnen, sie sind in ihrer Wirrheit jetzt erwartbar.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Aus dieser Perspektive kann der Leser die Bilder einordnen, sie sind in ihrer Wirrheit jetzt erwartbar.
Die Texte sind überfrachtet, wirr sind sie nicht. Ich kann verstehen, wenn es den ein oder anderen überfordert, aber jedes Bild, jeder Satzbaustein folgt einer klaren Logik.
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Lieber Patrick, ich würde es nicht ändern...für mich liest sich alles logisch!!!
 
Du hast Recht, :wirr" ist der falsche Begriff. Überfrachtet finde ich es aber auch nicht. Die Sprache ist eben für den Leser so eindringlich wie das Verlangen des alkoholkranken Menschen nach Alkohol. Dass das unangenehm und überfordernd sein kann, liegt in der Natur der Sache. Für mich stimmig, bis auf die Überschrift, die aus meiner Sicht eine andere Erwartung weckt, im Sinne einer Rechtfertigung des Alkohilmissbrauchs. So lese ich den Text nicht.
 



 
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