Ein Rückblick oder was ich nie sein wollte

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Ich sehe das Foto noch vor mir
In Schwarz-Weiß
Ein Klassenfoto
An meinem ersten Schultag
Ich trug Brille und eine
Graue Strumpfhose
Und hatte kurze Haare
Die ganze Zeit in der Grundschule
Trug ich kurz
Meine Mutter sagte immer
Als ich sie viel später fragte
Warum sie mir die Haare so
Kurz schneiden ließ
Kurz sei in den 60ern so modern gewesen
Aber keine anderen Mädchen auf dem Bild
Haben so kurze Haare
Oder so häßliche graue Strumpfhosen
Heike trägt sogar einen Minirock
So etwas besaß ich gar nicht
Obwohl das in den 60ern wirklich modern war
Aber mir war es damals egal
Am ersten Schultag noch
Ich war nur scharf aufs Lesen lernen
Ich war kein Spiegelkind
Das kam viel später
Irgendwann fand ich mich hübsch
Da waren auch die Haare gewachsen
Und man sah endlich
Dass ich ein Mädchen war
Nur war ich immer größer als alle anderen
Auch größer als die Jungs
Hat mich nicht wirklich gestört
Ich kam an alle Regale
Die die anderen Kinder nicht erreichten
Aber bei Theateraufführungen war
Es doch irgendwie blöd
Immer den Jungen spielen zu müssen
Ich hatte mich nie dafür gemeldet
Es kommt doch auch gar nicht auf die Größe an
Sagt man immer
Aber beim Krippenspiel zu Weihnachten
Musste ich den Hirten spielen
Neben vier anderen Hirten
Das waren alles wirklich Jungs
Und später in der Realschule
Spielte ich einen Typen im Theaterstück
Zur Abschlussfeier
Weil wir so wenig Jungs
In der Klasse hatten
Noch einer gebraucht wurde
Und eine Klassenkameradin meinte
Die Klamotten würden mir passen
Da traute ich mich nicht
Zu widersprechen
Zu dem Zeitpunkt
Hatte ich sogar lange Haare!
Ich widersprach nicht
Widersprechen wäre wirklich männlich gewesen
Und Heike spielte meine sexy Frau
Ich beneidete sie
Ich hasste sie für ihre Rolle
Und überhaupt
Sie war ein Mädchen und durfte ein Mädchen sein
Ich muss schon sagen
Ich mag es nicht
Ich mochte es nie
Das andere Geschlecht zu sein
Es wurde mir aufgezwungen
Und ich hasste es
Aber ich widersprach nie
 
Zuletzt bearbeitet:

Max Neumann

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

danke für die Ehrlichkeit deiner Wörter. Du hast ein Gedicht geschrieben, in dem Menschen wie du und ich sich wiederfinden, ohne dass die Zeilen darauf schielen, verstanden zu werden.

Deine lakonische Empathie gefällt mir.

Viele Grüße
Max
 
Probleme?

Das ist ein ziemlich langweiliger selbstmitleidiger Prosatext, kein Gedicht.
Hallo mondnein,

mit so einer Reaktion habe ich gerechnet.

Ich nenne es Erzählgedicht.

Selbstmitleidig ist man wohl von vornherein, wenn man nicht mit allem einverstanden ist, was einem so im Leben widerfährt. Die Zeiten sind halt so, auch das hatte ich nicht anders erwartet.

Hallo SilberneDelfine,

danke für die Ehrlichkeit deiner Wörter. Du hast ein Gedicht geschrieben, in dem Menschen wie du und ich sich wiederfinden, ohne dass die Zeilen darauf schielen, verstanden zu werden.

Deine lakonische Empathie gefällt mir.

Viele Grüße

Max
Hallo Max,

vielen Dank! Freut mich, dass dich meine Zeilen erreicht haben.


LG SilberneDelfine
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Hallo Silberne Delfine.....mich hat mal so nebenbei Dein Text auch erreicht..
Herzliche Grüße
stadtgeflüster
 

petrasmiles

Mitglied
Nein, selbstmitleidig würde ich das nicht nennen. Es ist halt eine Introspektion, dieses 'von was kommt sowas?' Aus welchem Material war (und bin) ich, dass das Leben mich hart oder weich geklopft hat.
Aber es ist irgendwie schade, dass die Protagonistin das sich wehren oder widersprechen als 'männlich' eingeordnet hat und wirft damit ein erhellendes Licht auf die Selbstbilder, die jungen Mädchen damals anerzogen wurden.
Woher soll man das heute wissen, wenn wir es nicht erzählt bekommen?
Danke für den Text!

Liebe Grüße
Petra
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Hey Petra,
das hast Du gut beschrieben...schließe mich Deinem Kommentar voll umgänglich an...
LG
stadtgeflüster
 
Hallo Silberne Delfine.....mich hat mal so nebenbei Dein Text auch erreicht..
Herzliche Grüße
stadtgeflüster
Dankeschön, stadtgeflüster, auch für die Sterne, auch dankeschön für die Sterne an Max.

Liebe Petra,

Aus welchem Material war (und bin) ich, dass das Leben mich hart oder weich geklopft hat.
Aber es ist irgendwie schade, dass die Protagonistin das sich wehren oder widersprechen als 'männlich' eingeordnet hat und wirft damit ein erhellendes Licht auf die Selbstbilder, die jungen Mädchen damals anerzogen wurden.
ja, das hast du richtig erkannt - danke für deinen Kommentar!
Ich beschäftige mich gerade mit meiner Kindheit und Jugend ...

LG SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 24962

Gast
Probleme?

Das ist ein ziemlich langweiliger selbstmitleidiger Prosatext, kein Gedicht.

Der obige Kommentar ist eine gute Grundlage für etwas Bildung am Samstag.

Liebe SilberneDelfine,

die Definitionen, was ein Gedicht ist, reichen von der Betrachtung der lyrischen Dichtung als eine Form, die sich durch Versform und Rhythmus auszeichnet, bis hin zur Bedeutung von Metrum, Reimschemen und poetischer Tiefe. Während einige Quellen die traditionellen Merkmale wie Reim und Metrum betonen, weisen andere darauf hin, dass moderne Gedichte auch von diesen Konventionen abweichen können. Und es gibt unzählige die das tun. Diese verschiedenen Sichtweisen zeigen, dass die Definition eines Gedichts sowohl von seiner strukturellen Komposition als auch von seiner inhaltlichen Ausdrucksweise abhängt.
(Quellen: studyflix, definitionen Online, DWDS).

Hier ist ein englische Definition:

"According to Merriam-Webster, a poem is essentially a composition in verse. This definition encompasses a wide range of expressions, including anything that suggests a poem in terms of expressiveness, lyricism, or formal grace. This broad definition implies that poems are not strictly limited to written words but can also be embodied in other forms of artistic expression etc pp.".

Und eine weitere:

"Britannica offers a more expansive view, defining poetry (and, by extension, poems) as literature that evokes a concentrated imaginative awareness of experience or an emotional response through language chosen and arranged for its meaning, sound, and rhythm. This definition underscores the importance of the careful selection and arrangement of words in poetry, aiming to create a significant impact through both the literal and the auditory qualities of language. It highlights poetry's ability to communicate ideas, emotions, and experiences in a way that is distinct from ordinary speech or prose".

Dein Werk ist also ein Gedicht.

Jetzt ein kleiner Ausschweif: Was ist Betroffenheitslyrik?


Der Ursprung der Lyrik, speziell in ihrer Inkarnation als Betroffenheitslyrik, repräsentiert ein buntes Studienfeld, welches in die anthropologische Natur und Kultivität eindringt. Diese primitivste Form der Poesie postuliert vom Dichter nicht nur eine exzeptionelle Sensitivität und Empathie, sondern auch die Kapazität, introspektiv, also nach innen gerichtet, in das eigene Anima zu blicken und diese Erfahrungen in eloquente Verbalisationen zu transformieren.
In der Betroffenheitslyrik liegt der Fokus auf dem Expressis verbis von Affekten und Emotionen, häufig emergierend aus persönlichen Erlebnissen oder emotionalen Committment gegenüber den Erlebnissen Dritter. Dieser poetische Exkurs ist nicht lediglich ein Ludus mit Worten oder eine ästhetische Exerzitie, sondern eine tiefgründige Konfrontation mit den komplexen Stratifikationen menschlicher Experienz. Die Poeten dieser Gattung der Lyrik instrumentalisieren ihre Oeuvres, um ihre tiefsten Cogitationen, Gefühle und Desiderata zu kommunizieren, was ein hohes Maß an Selbstreflexion und introspektiver Potenz erfordert.
Die Herausforderung für den Dichter liegt nicht nur in der Comprehension und dem Erleben der eigenen Emotionen, sondern ebenso in der Fähigkeit, diese so in verba zu fassen, dass sie für den Rezipienten oder Auditor nachvollziehbar und erlebbar werden. Die Betroffenheitslyrik requiriert daher ein sensibles Equilibrium zwischen persönlichem Expressis verbis und universeller Comprehensibilität. Oder einfacher! Sie erfordert demnach eine feinfühlige Balance zwischen persönlichem Ausdruck und allgemeiner Verständlichkeit. Mein persönlicher Eindruck ist, warum viele diese Gattung in der Lyrik abwerten: Sie ist schwer zu schreiben und viele können es nicht. Deswegen geht man in die zeitgenössische Lyrik, wo man "frei" schreiben kann. Aber Achtung, dieses Gefühl der Freiheit trügt. Viele interessante Informationen lassen sich auch hier finden: http://www.lyriktheorie.uni-wuppertal.de/beiwerk/liste.html, bis 2022 gab es auch viele Informationen im Literaturinstitut Leipzig.

Alle Punkte sehe ich in deinem Werk gegeben, auch die vorherigen: Es ist ein Gedicht und erfüllt alle zeitgenössischen Merkmale! Und natürlich hat jedes Gedicht etwas zu erzählen.

Technisch hinkt dein Gedicht etwas: Manche Wiederholungen wie "Kurz" funktionieren nicht. Doch wie könnten Wiederholungen gut funktionieren? Hier greife ich zu einer Strophe von Michael Spyra:

Ein Mann geht Sonntagnachmittag spazieren
und trinkt ein Bier und noch ein Bier und noch
ein Bier und noch ein BIer und mit den vieren
im Bauch versinkt der Mann in einem Loch.
(Quelle: Amazon, Bubenreuther Literaturwettbewerb 2017, Michael Spyra Gewinner, frei zugängliche Leseprobe)

Ich muss schon sagen
Ich mag es nicht
Ich mochte es nie
Zwei "Ichs" zu viel.

Mein persönlicher Eindruck: Einen Preis wirst du nicht gewinnen, aber wie bei vielen anderen Gedichten aus deiner Feder, liegt viel Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Mühe in deinen Zeilen. Das gleicht, meiner Meinung nach, den Mangel an Technik aus. Die eher empathischeren Varianten von uns werden das sehen. Ich würde dir liebend gern fünf Sterne geben, wären die Wiederholungen etwas besser verwoben. Als Literaturempfehlung würde ich dir gerne die Texte von Selma Meerbaum empfehlen, vor allem das Gedicht "Poem".

Trotzdem habe ich dein Gedicht sehr gelesen.
Und Petrucci sagt, du sollst dich - bitte - nicht runterziehen lassen.

Lg Matze
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Lieber Matze,

vielen herzlichen Dank für diesen langen und informativen Kommentar! :)

Auch an Petrucci :)

Mit den Wortwiederholungen hast du recht.

Ich werde mich mal mit Selma Meerbaums Gedichten beschäftigen, danke für den Tipp.

LG SilberneDelfine
 



 
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