Ein Schwein im Schrein

4,00 Stern(e) 1 Stimme

XRay

Mitglied
I
Der Zahn war trocken.
Nach der Extraktion vor einer Woche hatte mir Dr. N. angeboten, die Goldkrone für einen guten Zweck zu spenden. Ich hatte das abgelehnt und ihn, in ein Plastiktütchen verpackt, mit nach Hause genommen.
Dort hatte ich im Bad die blutigen Gewebereste um die Wurzeln mit einer Pinzette entfernt, abgespült und zum Trocknen auf den Fenstersims gelegt. Jetzt konnte ich ihn in die kleine Schublade im Sekretär meines Urgroßvaters setzen, die ich mit „Alte Beißer“ beschriftet hatte, als sie nach dem Tod meines Vaters in meinen Besitz kam.
Uropa hatte aus irgendeiner kauzigen Idee heraus angefangen, seine ausgefallenen oder herausgebrochen Zähne aufzubewahren, und sie in einer besonderen Schublade seines Schreibtisches zu sammeln. Ein Tischler hatte durch Einsetzen von dünnen Brettchen die Schublade so unterteilt, dass sich neun quadratische Fächer ergaben, die mit Namen, Lebensdaten und einer Nummer beschriftet waren.
Die Sammlung begann mit hinten links mit der Nummer 0. Dieses Fach trug die Bezeichnung „Unbekannter Vorfahr“ und enthielt zwei Schneidezähne. Möglicherweise hatte demnach mein Urgroßvater nur fortgeführt, was einer seiner Vorfahren bereits begonnen hatte. Es folgten die Nrn. 1 und 2, in denen Zähne meines Urgroßvaters und meines Großvaters lagen. In der mittleren Reihe waren in Nummer 3 und 4 die Zähne meines Vaters und meine eigenen. Hierhinein legte ich jetzt den goldüberkronten Zahn, der mehr vor einer Woche entfernt worden war. Nummer 5 vorne links hatte ich selbst mit dem Namen meines ältesten Sohnes beschriftet und dort schon seine Milchzähne deponiert. So war aus dieser Marotte - wohl von vornherein so beabsichtigt - eine Familientradition entstanden.
II
Um vier Uhr ging ich in meine Praxis, um meine Nachmittagssprechstunde abzuhalten.
Der erste Patient war Clifford D., ein befreundeter englischer Archäologe, der ein Wiederholungsrezept für seine Asthma-Medikamente brauchte. Er hatte in Cambridge Kunstgeschichte und Archäologie studiert und nach seiner Promotion zwei Jahre in Rom bei Ausgrabungen im Vatikan praktische Erfahrungen gesammelt. Im Sommer des vergangenen Jahres war er als Nachfolger von Professor B. neuer Leiter des Teams geworden, das die Geschichte der Immunität rund um den Dom in X. erforschte.
Er hatte mich aufgesucht, um einen Kontrolltest seines chronischen Asthmas durchzuführen, das sich in letzter Zeit verschlimmert hatte. Einmal musste bei einem heftigen Anfall der Notarzt gerufen werden.
Auf meine Frage, warum ein Brite jetzt Chef der hiesigen Archäologen geworden sei, hatte er in stark britisch gefärbten Deutsch lächelnd geantwortet: „Weil wir, was moderne Untersuchungsmethoden angeht, wesentlich weiter sind, als ihr hier.“
Ich erfuhr, dass die Datierung von Knochenfunden durch Anwendung neuer bio-physikalischer Verfahren wesentlich genauer geworden sei; Isotopenuntersuchungen der Zähne ermöglichten sogar die geografische Herkunftsbestimmung eines Individuums.
Im Hauttest zeigte sich eine ungewöhnlich starke Reaktion auf Schimmelpilze. Da eine Desensibilisierung bei diesem Befund nicht aussichtsreich war verordnete ich Sprays Antihistamine und Kortison für den Notfall.
Die Testergebnisse hatten ihn überrascht, da er bereits in England mehrfach getestet worden war, ohne dass man etwas Auffälliges gefunden hatte.
„Was die modernen Methoden der Allergiediagnostik angeht sind wir offensichtlich weiter als ihr da drüben“, hatte ich süffisant kommentiert.
Wir hatten beide gegrinst und und gewusst, dass wir gut miteinander auskommen würden.
III
Im Oktober des vergangenen Jahres fand eine sogenannte „Große Tracht“, zur Feier des 750-jährigen Jubiläums des Domes statt, ein seltenes Ereignis, das zuletzt vor fast 50 Jahren stattgefunden hatte.
Nach einer Festmesse, die vom Erzbischof von Köln zelebriert wurde, zog die Kirchengemeinde, angeführt von kirchlichen Würdenträgern und den Honoratioren der Stadt, in einer feierlichen Prozession zum Fürstenberg, wo der Heilige der Legende nach seinen Märtyrertod erlitten hatte. In der Mitte des Zuges wurde der vergoldete Schrein mit den Gebeinen des heiligen Viktor auf einem Katafalk durch die Straßen getragen, traditionell von Mitgliedern der St. Viktor-Bruderschaft.
Auftakt der Festlichkeiten war die Öffnung des Prunkschreins des heiligen Viktor, in dem in einem kleineren hölzernen Schrein seine Gebeine aufbewahrt wurden, für das Publikum.
Zwei Wochen vorher hatte mir Cliff mitgeteilt, er habe anlässlich der Öffnung des Schreins die Genehmigung für eine wissenschaftliche Untersuchung der Reliquien erhalten. Er bat mich, ihn zu begleiten, da er befürchtete, durch aufgewirbelte Schimmelpilzsporen einen Asthmaanfall zu bekommen. Meine Anwesenheit würde ihn sehr beruhigen.
Ziel seiner Untersuchung war eine möglichst genaue Altersbestimmung zweier Röhrenknochen, die bei früheren Öffnungen als ‚wahrscheinlich von den Märtyrern stammend‘ befundet worden waren.
Als ich fragte, wie das ablaufe, sagte er nur trocken:
„I´ll just take some of that stuff in the small box, first of all from the bone of the pig in there.“ *
Ich war perplex, obwohl ich seinen gelegentlich grenzwertigen britischen Humor inzwischen gut kannte.
„Was meinst Du?! Welches Schwein?!“.
„The pig in the box“, wiederholte er in Anspielung auf den Springteufel „Jack in the box“ und lachte.
Er sagte, der Inhalt des sogenannten „Kleinen Schreins “, der die Reliquien der Märtyrer enthalte, sei schon lange bekannt. Es handele sich um die Röhrenknochen von zwei erwachsenen Männern, die Beckenschaufel einer Frau, den Oberarmknochen eines Schweins und ein Kieferfragment ohne Zähne.
„Zwei Männer, das Becken einer Frau und der Knochen eines Schweins! Was soll man sich dabei denken, Cliff?“
Er verstand die beißende Ironie meiner Frage und antwortete:
„As you like it“.
Ich konterte seinen Shakespeare mit dem Hosenbandorden:
„Honi soit qui mal y pense“ **, und fuhr fort, „im Ernst, Cliff, wie kommen ein Schweineknochen und der Beckenknochen einer Frau in ein Märtyrergrab?“.
Er berichtete knapp, was man darüber wusste. Alle früheren Öffnungen des Schreins waren jeweils durch Dokumente belegt, die versiegelt in den Schrein gelegt wurden. In mehreren dieser Dokumente waren Änderungen an den Skelettteilen erwähnt worden. Die meisten waren allerdings verschollen, nachdem man sie im 30-jährigen Krieg an einen „sicheren“ Ort verbracht hatte. Lediglich zwei Knochen blieben in dem hölzernen Reliquienschrein. Wie der Beckenknochen der Frau und der Knochen des Schweines dort hinein gelangt waren war unbekannt. Möglicherweise handelte es sich um Grabschändungen oder Relikte von Grabräubern.
Ich hatte nicht nur aus medizinischen Gründen sofort zugesagt, ihn bei der Untersuchung zu begleiten. Ich selbst war zwar schon seit vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten, aber meine Familie war seit Jahrhunderten eng mit dem kirchlichen Leben in X. verbunden gewesen. Und soweit ich denken konnte waren alle männlichen Mitglieder in der Sankt Viktor Bruderschaft aktiv gewesen, einige, wie zum Beispiel mein Großvater, als Kapitäne der Bruderschaft.
IV
Am 10. Oktober, dem Patronatstag, war ich mit Cliff und einer Assistentin um acht Uhr abends in der Sakristei, wohin man den Schrein nach der Öffnung im Dom gebracht hatte.
Das Tableau war grotesk. Um die geöffnete Holzkiste herum stand eine ehrenwerte Gesellschaft, die mich an Rembrandts „Anatomie des Dr. Tulp“ erinnerte. Mit dem Unterschied, dass bei Rembrandt die Beteiligten überall hinschauen, nur nicht auf Leiche, hier aber alle in die offene Kiste starrten.
In der ersten Reihe standen der Bischof und der Dompropst, der Vorsteher des Gemeinderats und ein Vertreter der Stadt; dahinter einige Nonnen, ein Reporter der örtlichen Zeitung und der Kapitän der Schützenbruderschaft.
Nachdem Cliffs Kollegin einige Fotos gemacht hatte, entnahm er mit einem Bohrer Proben aus den Röhrenknochen und dem plumpen, S-förmigen Knochen des Schweins.
Das ganze dauerte etwa eine Stunde. Ich hatte glücklicherweise nicht eingreifen müssen, da C. viel zu aufgeregt war, um an sein Asthma zu denken. Mir dagegen war durch den schweren Weihrauchgeruch in der Sakristei etwas schwindlig geworden.
V
Während ich das Rezept ausdruckte sagte er, er habe jetzt endlich die Ergebnisse der DNA-Proben bekommen, die er damals entnommen habe.
„Bei den Proben der Märtyrerknochen handelte es sich um einen 35-45-jährigen Mann, der zwischen 240 und 381 nach Christus gelebt hatte und wahrscheinlich aus Nordeuropa stammte“. Diesen Befund hatte er wohl schon oft zitiert, denn er rasselte ihn mit ironischer Betonung herunter.
„Und was ist mit dem Schwein? Wie alt war es und vorher stammte es?“
„The execution of the pig was much later. He lived between 1690 bis 1790!“ Die „Hinrichtung“ des Schweins, eines Ebers! Typisch Cliff, dachte ich und sagte:
„Nordeuropa ist ein weites Gebiet. Kann man das nicht näher eingrenzen?“
„Give just one tooth of that guy, and I'll tell you exactly where he lived.“ ***
Es war mir nicht ganz klar, ob er den Märtyrer oder das Schwein meinte, aber ich verzichtete auf die Klärung dieser Frage und wir verabschiedeten uns.
VI
Am Abend beschäftigte ich mich mit meinem Hobby, die Geschichte meiner Familie. Ich suchte schon lange einen Beleg für den vagen Hinweis, meine Vorfahren seien vor etwa 300 Jahren aus England oder Irland eingewandert.
Mir fielen plötzlich die Zähne in der Schublade des Sekretärs ein. Der ‚Unbekannte Vorfahr‘ im ersten Fach! Ich sah eine Möglichkeit, diese Frage zu klären.
Ich rief Cliff an und fragte, wo die Untersuchung der Knochen des Märtyrergrabes durchgeführt worden war. Er nannte mir ein Institut in Nottingham. Nachdem ich per E-Mail die ungefähren Kosten einer DNA-Untersuchung geklärt hatte schickte ich einen der beiden Zähne des unbekannten Vorfahren dorthin.
Das Ergebnis bekam ich einige Wochen später. Es handelte sich um den Schneidezahn (Zahn 21) aus dem Oberkiefer eines 35-40-jährigen Mannes, der Ende des dritten Jahrhunderts nach Christus in England oder den Niederlanden gelebt hatte.
Ich war völlig überrascht und glaubte zunächst an einen Irrtum. Durch meine genealogischen Forschungen wusste ich sehr genau, dass meine Vorfahren zumindest in den letzten 250 Jahren hier in X. gelebt hatten! Irgendetwas stimmte hier nicht.
Es dauerte eine Weile, bis ich dahinter kam.
Wenn die Ergebnisse aus England nicht völlig fehlerhaft waren, was ich nicht glaubte, gab es nur eine Erklärung: in der Familie hatte es einen Reliquienräuber gegeben! Ganz schön raffiniert vom Uropa, das mit seiner Zahnsammlung zu vertuschen. Ganz gleich, ob er selbst zugegriffen hatte oder zumindest wusste, wer das gewesen war: die Zähne des „Unbekannten Vorfahren“ waren die Joker in einem falschen Spiel.
Meine Gedanken gingen noch weiter. Waren die beiden Zähne am Ende sogar nur der Rest einer noch größeren Beute aus dem Märtyrergrab, die man für gutes Geld verkauft hatte?
Ich beschloss, das Ergebnis der Untersuchung für mich zu behalten und das Ganze zu dieser Erzählung zu verarbeiten.
Das Pfarramt hatte mir letztes Jahr nach der „Grossen Tracht“ auf meine Nachfrage mitgeteilt, man habe den Inhalt des Reliquienschreins nicht verändert; alles sei so geblieben, wie man es vorgefunden habe.
Wenn die Kirche es schon mit der Echtheit ihrer Reliquien nicht so genau nahm, dann durfte ich mir das bei den Zähnen meiner Vorfahren wohl auch zugestehen. Es blieb auch bei mir alles so wie ich es vorgefunden hatte.

* Als C. nach X. kam war sein Deutsch noch schlecht gewesen. Wir hatten uns deshalb angewöhnt zwischen unseren beiden Sprachen zu wechseln und diese Gewohnheit beibehalten.
‚Ich nehme was von dem Zeug aus der kleinen Kiste, vor allem von dem Schweineknochen, der da drin ist.

** Ein Schelm, wer Schlimmes dabei denkt.
*** Gib mir einen einzigen Zahn von dem Burschen , und ich sage dir genau, wo der gelebt hat.
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten