Ein Sommer in der Stadt

memo

Mitglied
Die Schwüle der Nacht drang ins Zimmer. Ihr Körper glühte. Sie konnte nicht aufstehen. Immer wieder sagte sie sich: „Morgen wird es besser sein.“ Aber es wurde nicht besser. Die Hitze ließ nicht nach und das Fieber stieg. Als sie vor zwei Wochen, nach langer Überwindung, im Wartezimmer des Arztes saß und ihre Schwäche sie durch die Gesichter und Stimmen nur mehr in eine raumlose Leere blicken ließ, auf einen unbekannten Punkt, einen Buchstaben auf dem Informationsplakat auf der Wand, dachte sie: „Morgen wird es besser sein.“ Aber es wurde nicht besser. Sie nahm die Medikamente. Die Erschöpfung blieb. Sie hoffte auf die Nächte. Die Sonne ging über den Dächern der Altstadt unter. Die Wärme blieb. Der Arzt sagte, sie müsse viel trinken. Die Freundin sagte, sie müsse nun viel Geduld haben, es „ganz langsam angehen lassen“. Der Vater meinte am Telefon, sie müsse aufstehen, der Kreislauf müsse „in Schwung kommen“.
Wenn sie ins Bad ging, schlich sie vorsichtig die Wände entlang. Station für Station. Der Türrahmen. Der Stuhl im Wohnzimmer. Die Wand im Vorraum. Der Schwindel war undefinierbar. Er kam und ging. Es war eine plötzliche Schwärze. Es waren winzige Funken. Es war eine allgemeine Unsicherheit. Den Rückweg wollte sie nützen, um sich ein Glas Wasser mitzunehmen, aber sie vergaß es regelmäßig. Sie fürchtete noch einmal aufstehen zu müssen. Sie konnte nicht schlafen. Der Schweiß rann in kleinen Bächen an den Schläfen und im Nacken. Wenn sie manchmal einnickte, erwachte sie durch die unangenehme Nässe auf ihrer Brust. Sie war zu schwach, das dünne Nachthemd auszuziehen. Manchmal zog sie es über den Kopf und ließ es einfach auf den Boden fallen. In Momenten, wenn der unangenehme Gedanke an die feuchte Kleidung und die Bettwäsche stärker war als die Erschöpfung des Körpers, suchte sie nach trockenen Sachen. „Wie auf Wolken“ hatte sie einmal gehört. Diese Redewendung fiel ihr jetzt immer ein. „Wie auf Wolken“ sagte sie leise, wenn sie wieder ins Bett sank. „Morgen wird es besser,“ dachte sie und nickte ein.
Es läutete. Sie hatte ihrer Schwester einen Schlüssel gegeben. Diese meinte, sie müsse etwas essen. Sie hatte noch etwas Milch und Joghurt im Kühlschrank und Brot. Sie hatte ihr einen Schlüssel gegeben, damit sie nicht aufstehen musste. Aber sie läutete. Nach einigen Minuten hörte sie die Stimme: „Darf ich hereinkommen?“
Sie dachte, sie hatte ihr einen Schlüssel gegeben, damit sie nicht aufstehen musste. Sie erschrak immer, wenn es läutete. Schweiß trat gleichzeitig auf ihre Stirn. Sie wollte sich aufsetzen. Sie hatte Angst vor dem Reden mit der Schwester, die sehr freundlich war und hilfsbereit und ohne die sie wohl seit Tagen nichts gegessen und mit niemanden mehr gesprochen hätte. Manchmal hatte sie Angst alleine zu sein. Wenn sie hinfallen würde und sich am Kopf verletzten ..., wenn plötzlich in der Nacht ihr Herz stehen bliebe, wenn sie im Schlaf aufhören würde zu atmen ... Die Schwester stand in der offenen Schlafzimmertür, ohne, dass sie es bemerkt hatte. „Wie geht es dir?“, fragte die Schwester leise und vorsichtig. „Wie auf Wolken“ flüsterte sie. „Du musst aufstehen“, sagte die Schwester, „der Schwindel kommt nur daher, weil du zuwenig aufstehst. Du musst viel trinken und etwas essen. Wir machen uns Sorgen um dich. Es kann ja nicht so weiter gehen, hat Papa gesagt. Er lässt dich schön grüßen. Es muss ja wieder besser werden, es kann ja nicht so weiter gehen.“ Die Schwester hantierte mit einigen Lebensmitteln. Sie legte frische Wäsche auf den Tisch nahe der Tür. „Danke.“

Am frühen Abend hörte sie Musik vom nahem Hauptplatz. Sie hätte gerne die Fenster geöffnet, in der Hoffnung auf kühlere Luft, aber die Lautsprechen waren zu laut. Sie weinte. Das Fieber stieg. Die Stimme des Sängers vom Alten Markt gefiel ihr. Er spielte Gitarre. Die Zuhörer klatschten begeistert. Sie freute sich mit ihnen. Sie überlegte, wie es sein würde, wenn sie aufstehen und hinuntergehen könnte. Einfach an einem Tisch sitzen und ein Glas kühles Getränk trinken. Eines jener mit Minze und Zitrone und Eiswürfeln. Sie dachte an die renovierten Häuser der Altstadt, die vielen neuen Geschäfte und Lokale. Immer musste sie daran denken, dass früher, als sie noch ein Kind war und sie noch selten in „die Stadt“ fuhr, noch nicht so viele Tische am Hauptplatz waren. Jedes Mal wenn sie in den letzten Jahren über den Hauptplatz ging, musste sie daran denken, dass der Platz wie in einer Stadt am Meer aussah. Heuer in dieser südlichen Hitze war dieser Eindruck besonders stark. Sie beobachtete an sich selbst, dass sie sehr an etwas erinnert wurde. Sie erinnerte sich. Oft erinnerte sie sich bei scheinbar völlig unwichtigen Dingen an die Worte, die ihre Mutter immer sagte, genau bei dieser oder jener Begebenheit. Und jedes Mal, wenn sie zum Beispiel in der kleinen Seitengasse am Jesuitendom ging, dachte sie bei einem Eckhaus an das Farbengeschäft, in dem ihre Mutter Ölfarben und die Leinwand einkaufte. Es war immer etwas Besonderes, wenn die Mutter mit ihr mit dem Zug in „die Stadt“ fuhr. Auch wenn sie in der Küche Essen zubreitete, sagte sie dann immer laut: „Mama sagte, Champion oder Spinat darf man nicht aufwärmen. Aber es macht nichts, wenn das Joghurt schon abgelaufen ist, es ist meistens immer noch gut.“ Sie musste jedes Mal an den Geruch der Farben und des Terpentins denken, wenn sie an dem Bild im Vorhaus vorbei ging. Es waren unzählige Dinge, an die sie sich erinnerte. Sie erinnerte sich nicht nur. Es kam sozusagen von selbst. Die Gedanken tauchten auf, obwohl sie es schon so oft getan und gesagt hatte. Immer kamen sie wie frisch geboren aufs Neue, als wären sie das erste Mal gedacht. Und immer musste sie es aufs Neue denken oder laut aussprechen, wenn jemand neben ihr stand. „Ich weiß, ich sage das immer.“ Wenn sie gekühlten Rotwein trank, dachte sie stets an ihre Schwester, die einmal gesagt hatte, dass ihr ein wenig gekühlter Rotwein besser schmeckte. Und sie dachte dann immer daran, dass sie sich gewundert hatte, da sie glaubte, nur Weißwein gehöre gekühlt und es wäre eher ein Unding Rotwein zu kühlen. Sehr oft dachte sie im Garten auch an die Worte ihrer Tante, die manchmal die Redewendung verwendete: „Du bist eine Perle.“ Sie bedankte sich auch jedes Mal überaus wortreich, wenn sie ihr bei einer Arbeit half und sie erinnerte sich an die Gefühle die sie dabei empfand. Sie wusste nie genau, ob die Tante es von Herzen ehrlich meinte oder es für sie eben eine „Redensart“ war. Vielleicht dachte sie, war es irgendwie eine Mischung aus Heuchelei und ehrlichem Herzen. „Machen wir eine Gartenrunde,“ sagte die Tante bei schönem Wetter vor dem Abendessen. Dann machte sie auf alle Veränderungen und auf das Wachstum des Gemüses aufmerksam. Es war für sie damals etwas seltsam, warum die Tante eine so große Bedeutsamkeit auf ihren Garten legte. Heute sind ihr selbst besonders die Blumen, die ihre Mutter so gerne mochte, von großer Wichtigkeit. Die Mutter hatte ihr jeden Sommer davon erzählt und wenn sie die Mutter besuchte, sollte sie staunen. Sie konnte es aber nicht in rechter Weise und jetzt tat es ihr sehr leid. Sie hatte nun selbst diese Blumen auf der Terrasse und machte ihre Kinder auf noch eindringlichere Weise auf die wunderschönen Blüten aufmerksam, mit Nachdruck und wiederholend, als müsste sie etwas gut machen. Es war eine endlose Kette von Erinnerungen und jene die schmerzten, kamen nicht in dieser Eindringlichkeit und so zahlreich, als jene, die von völliger Unbedeutsamkeit aufstiegen.

Seit diesen letzten Wochen, in denen sie nicht mehr aufstehen konnte, ist ihr Denken ermattet. Dieses endlose Erinnern ist durch die Erschöpfung abgeklungen. Sie dachte in einer anderen Form. Sie dachte nur mehr im Minutentakt und vergaß eigentlich mehrmals täglich, was sie kurz zuvor getan hatte oder tun wollte. Sie fand ihr Wasserglas nicht mehr oder stellte die Milch in den Kühlschrank zurück, die sie vor Sekunden in einen Becher leeren wollte. Das bereitete ihr manchmal etwas Mühe, da sie dann wieder aufstehen musste, um etwas zu holen, das sie vergessen hatte. Wenn sie lag, war sie jedoch zu schwach um aufzustehen.

Das Fieber ist erstmals gesunken. Die Nacht hat wieder keine Kühle gebracht und die Tage sind so heiß, dass sie nicht wagt nur einen Schritt auf die Terrasse zu treten. Sie schreckt vor dem Licht zurück und vor dem Schwindel, der sich auf ihren Kopf legt, sobald die Sonne schien. Aber auch im Liegen fühlt sie sich nicht wohl. Ihr wird oft übel und die Gedanken kreisen um ein Nichts, dass sie erregt. Dann wird die Erschöpfung selbst im Liegen fast unerträglich. Wenn sie jetzt sterben würde, denkt sie in diesen Augenblicken, wäre die Erschöpfung so sehr ein Trost, dass die Angst vor dem Tod den Schrecken verlor.

„Morgen wird es besser sein,“ sagt sie sich und alle sagten ihr das. Aber es wurde nicht besser. Die Hitze dringt in die Wohnung, in das Zimmer, in ihr Bett, in ihre Poren, in ihre erhitzten Erinnerungen. Das Fieber beginnt wieder zu steigen. Es war eine Mischung von Unruhe, Furcht und Gleichgültigkeit. Der Segen der völligen Erschöpfung legt sich wie ein Mantel über sie. Sie überlegt nichts mehr zu trinken, damit sie nicht ins Bad gehen muss.

Die folgende Nacht kühlt nach vielen Tagen endlich etwas ab. Sie öffnet die Fenster. Sie kann atmen. Das Fest ist zu Ende. Viele genießen auf den Straßen die ersehnte Kühle. Sie hört das Stimmengewirr. Sie weint. Aber in den Morgenstunden schläft sie langsam ein. Pünktlich um sieben Uhr beginnen die Renovierungsarbeiten am Nebenhaus. Mauern werden weggestemmt, Bohrmaschinen vibrieren. Sie erwacht in völliger Übermüdung, nachdem sie im Halbschlaf dahinträumend die undefinierbaren Geräusche zu verarbeiten versucht. Dann ist sie aber endgültig wach. Sie versucht langsam die Fenster zu schließen. Der Baulärm ist etwas gedämpft. Gleichzeitig bieten die Rollos Schutz vor der bald einfallenden Sonne. Sie hofft, noch ein wenig einschlafen zu können. Leider muss sie ins Bad. Sie seufzt. Je weniger sie trinkt, desto mehr fühlte sich ihr Kopf vom Schwindel betäubt.
Sie nimmt die Medikamente. Sie hat es aufgegeben den Beipackzettel zu lesen. Sie ist erleichtert, dass sie es schafft, denn sie weiß ja, dass alle beschriebenen Nebenwirkungen immer schrecklich sind und praktisch nie eintrafen. Sie wurden ihr auch immer gleichgültiger. Ihre einzige Hoffnung war die Milderung der Kopfschmerzen und die Sehnsucht nach Schlaf. Dieser unendliche Trost einer Nacht, die nicht durchwacht.
Vor wenigen Wochen konnte sie noch lesen, wenn sie ermattet auf dem Sofa lag. Nun erträgt sie keine Buchstaben, kein Licht, keine Hitze, keinen Lärm und – sie wagt es sich kaum einzugestehen – keine Gespräche mit den wenigen Menschen, die es „wirklich gut mit ihr meinten“, wie man es so gerne ausdrückt. Die Schwester kommt nach einigen Tagen. Sie läutet. Sie hat ihr einen Schlüssel gegeben, damit sie nicht läuten muss, denkt sie unentwegt. Sie hat Angst vor dem Aufstehen. Fast wäre sie diese Nacht gestürzt. Eigentlich will sie nie wieder aufstehen. „Du musst Dir sehr viel Zeit lassen. Ruhe ist nun wichtig. Du musst Loslassen. Übe Dich in Gelassenheit, mir hat das sehr geholfen,“ sagte ihr die Freundlich am Telefon. Die Schwester stand wieder völlig unerwartet im Zimmer. „Du musst etwas essen,“ sagte sie besorgt. „ der Vater ist sich sicher, du musst aufstehen. Der Kreislauf muss wieder in Schwung kommen. Es ist nur der Kreislauf, vom Liegen.“ - „Wie auf Wolken.“ - „ Hast Du mich verstanden? Es kann doch so nicht weiter gehen.“ Die Schwester wirkte etwas streng. „Jetzt wein doch nicht,“ beruhigte die Schwester hilflos ungeduldig. Ihr Weinen wurde laut und haltlos. Dann wurde sie sehr still.
 

herziblatti

Mitglied
Hallo memo, gut geschriebener Text über eine geheimnisvolle Erkrankung, der Schluss sitzt noch nicht punktgenau, zwischendrin sind einige Zeitfehler. Anhaltspunkt: was nicht "jetzt" geschieht, geht nicht in der Gegenwartsform.
Die Schwester kommt nach einigen Tagen. Sie läutet. Sie hat ihr einen Schlüssel gegeben,
Absatz, gehört nicht zum Vorherigen. In diesem Schlussteil ist verwirrend, dass mit "Sie" mal die Prot. und mal die Schwester gemeint ist. Und: Sie [blue]hatte[/blue] ihr einen Schlüssel ... Ich hoffe, Du kannst mit meinen Hinweisen arbeiten :) LG - herziblatti
 

Wipfel

Mitglied
Hi memo,

auch ich finde den Text gelungen - sehr einfühlsam geschrieben. Was ermüdend ist, sind die ständigen Wiederholungen von dachte, denke, erinnern.
19 x dachte/denken
9 x erinnern
Oft braucht es die Wörter nicht, bei der Länge des Textes kommst du mit weit weniger aus.
Und manchmal formulierst du unnötig komplziert:
Einfach an einem Tisch sitzen und ein Glas kühles Getränk[/u] trinken. Eines jener mit Minze und Zitrone und Eiswürfeln.
Warum nicht: Einfach an einem Tisch sitzen und eine Limonade trinken; mit Minze, Zitrone und Eiswürfel.

Einige ortog. Fehler sind noch drin, die findest du selbst...

Grüße von wipfel
 

memo

Mitglied
Liebes herziblatti,
danke, dass Du meine Zeilen gelesen hast. Ich freu mich. Ja, das mit der Zeit ...
Beim ersten Entwurf - wenn es so herausfließt beim Schreiben - bin ich in der Zeit ziemlich gesprungen und im Versuch der Korrektur fielen mir die vielen Unregelmäßigkeiten auf. Ich habe mich dann entschlossen den letzten Teil, da mir die Unmittelbarkeit wichtig war, einen Schnitt zu machen und ihn in der Gegenwart zu belassen. Ich muss den Text jedoch noch an einigen Stellen verbessern und mich wohl für eine Zeitform entscheiden.
Ganz liebe Grüße
memo
 

memo

Mitglied
Hallo Wipfel,
ich habe befürchtet, dass die vielen Wiederholungen ermüdend sind. Ich achte sonst eigentlich immer besonders darauf, gerade nicht Worte wie "sagte, dachte" usw. zu verwenden. Sie stören mich selbst manchmal beim Lesen: "ist ja eigentlich klar, dass er/sie das dachten oder sagten", geht es mir dann durch den Kopf. Innere Monologe sind darum oft so wunderbar, finde ich. Bei diesem Text war es mir beim Schreibprozess selbst, aus einem innerem Drang heraus, so wichtig immer wieder Wiederholungen zu machen. Wie eine "Litanei". Es war das Bewusstsein, dass die Protagonistin von diesem Trieb selbst gezwungen wurde - zu denken, sich zu erinnern. Diese Eindringlichkeit war im Vollzug des Schreibens spürbar und das kann man meist dem Leser nicht ganz so vermitteln. Auch wiederkehrende Redewendungen, das Fieber, das Monotone und die wiederholte Szene des Schlüssels, der Hitze, des Lärms, des Vergessens etwa, als Metaphern der Hilflosigkeit. (Aber Wiederholungen richtig eingesetzt, das bewundere ich bei Thomas Bernhard so sehr, sind eine hohe Kunst - da sie sonst schnell banal werden. Hab es auch noch nie versucht.) Dieses Thema hat mich erstmals dazu verführt.
Es ist so schön, dass Du meine Zeilen einfühlsam findest. Das wärmt das Herz.
Ganz liebe Grüße
memo
 

memo

Mitglied
Die Schwüle der Nacht drang ins Zimmer. Ihr Körper glühte. Sie konnte nicht aufstehen. Immer wieder sagte sie sich: „Morgen wird es besser sein.“ Aber es wurde nicht besser. Die Hitze ließ nicht nach und das Fieber stieg. Als sie vor zwei Wochen, nach langer Überwindung, im Wartezimmer des Arztes saß und ihre Schwäche sie durch die Gesichter und Stimmen nur mehr in eine raumlose Leere blicken ließ, auf einen unbekannten Punkt, einen Buchstaben auf dem Informationsplakat auf der Wand, dachte sie: „Morgen wird es besser sein.“ Aber es wurde nicht besser. Sie nahm die Medikamente. Die Erschöpfung blieb. Sie hoffte auf die Nächte. Die Sonne ging über den Dächern der Altstadt unter. Die Wärme blieb. Der Arzt sagte, sie müsse viel trinken. Die Freundin sagte, sie müsse nun viel Geduld haben, es „ganz langsam angehen lassen“. Der Vater meinte am Telefon, sie müsse aufstehen, der Kreislauf müsse „in Schwung kommen“.
Wenn sie ins Bad ging, schlich sie vorsichtig die Wände entlang. Station für Station. Der Türrahmen. Der Stuhl im Wohnzimmer. Die Wand im Vorraum. Der Schwindel war undefinierbar. Er kam und ging. Es war eine plötzliche Schwärze. Es waren winzige Funken. Es war eine allgemeine Unsicherheit. Den Rückweg wollte sie nützen, um sich ein Glas Wasser mitzunehmen, aber sie vergaß es regelmäßig. Sie fürchtete noch einmal aufstehen zu müssen. Sie konnte nicht schlafen. Der Schweiß rann in kleinen Bächen an den Schläfen und im Nacken. Wenn sie manchmal einnickte, erwachte sie durch die unangenehme Nässe auf ihrer Brust. Sie war zu schwach, das dünne Nachthemd auszuziehen. Manchmal zog sie es über den Kopf und ließ es einfach auf den Boden fallen. In Momenten, wenn der unangenehme Gedanke an die feuchte Kleidung und die Bettwäsche stärker war als die Erschöpfung des Körpers, suchte sie nach trockenen Sachen. „Wie auf Wolken“ hatte sie einmal gehört. Diese Redewendung fiel ihr jetzt immer ein. „Wie auf Wolken“ sagte sie leise, wenn sie wieder ins Bett sank. „Morgen wird es besser,“ dachte sie und nickte ein.
Es läutete. Sie hatte ihrer Schwester einen Schlüssel gegeben. Diese meinte, sie müsse etwas essen. Sie hatte noch etwas Milch und Joghurt im Kühlschrank und Brot. Sie hatte ihr einen Schlüssel gegeben, damit sie nicht aufstehen musste. Aber sie läutete. Nach einigen Minuten hörte sie die Stimme: „Darf ich hereinkommen?“
Sie dachte, sie hatte ihr einen Schlüssel gegeben, damit sie nicht aufstehen musste. Sie erschrak immer, wenn es läutete. Schweiß trat gleichzeitig auf ihre Stirn. Sie wollte sich aufsetzen. Sie hatte Angst vor dem Reden mit der Schwester, die sehr freundlich war und hilfsbereit und ohne die sie wohl seit Tagen nichts gegessen und mit niemanden mehr gesprochen hätte. Manchmal hatte sie Angst alleine zu sein. Wenn sie hinfallen würde und sich am Kopf verletzten ..., wenn plötzlich in der Nacht ihr Herz stehen bliebe, wenn sie im Schlaf aufhören würde zu atmen ... Die Schwester stand in der offenen Schlafzimmertür, ohne, dass sie es bemerkt hatte. „Wie geht es dir?“, fragte die Schwester leise und vorsichtig. „Wie auf Wolken“ flüsterte sie. „Du musst aufstehen“, sagte die Schwester, „der Schwindel kommt nur daher, weil du zuwenig aufstehst. Du musst viel trinken und etwas essen. Wir machen uns Sorgen um dich. Es kann ja nicht so weiter gehen, hat Papa gesagt. Er lässt dich schön grüßen. Es muss ja wieder besser werden, es kann ja nicht so weiter gehen.“ Die Schwester hantierte mit einigen Lebensmitteln. Sie legte frische Wäsche auf den Tisch nahe der Tür. „Danke.“

Am frühen Abend hörte sie Musik vom nahem Hauptplatz. Sie hätte gerne die Fenster geöffnet, in der Hoffnung auf kühlere Luft, aber die Lautsprechen waren zu laut. Sie weinte. Das Fieber stieg. Die Stimme des Sängers vom Alten Markt gefiel ihr. Er spielte Gitarre. Die Zuhörer klatschten begeistert. Sie freute sich mit ihnen. Sie überlegte, wie es sein würde, wenn sie aufstehen und hinuntergehen könnte. Einfach an einem Tisch sitzen und ein Glas kühles Getränk trinken. Eines jener mit Minze und Zitrone und Eiswürfeln. Sie dachte an die renovierten Häuser der Altstadt, die vielen neuen Geschäfte und Lokale. Immer musste sie daran denken, dass früher, als sie noch ein Kind war und sie noch selten in „die Stadt“ fuhr, noch nicht so viele Tische am Hauptplatz waren. Jedes Mal wenn sie in den letzten Jahren über den Hauptplatz ging, musste sie daran denken, dass der Platz wie in einer Stadt am Meer aussah. Heuer in dieser südlichen Hitze war dieser Eindruck besonders stark. Sie beobachtete an sich selbst, dass sie sehr an etwas erinnert wurde. Sie erinnerte sich. Oft erinnerte sie sich bei scheinbar völlig unwichtigen Dingen an die Worte, die ihre Mutter immer sagte, genau bei dieser oder jener Begebenheit. Und jedes Mal, wenn sie zum Beispiel in der kleinen Seitengasse am Jesuitendom ging, dachte sie bei einem Eckhaus an das Farbengeschäft, in dem ihre Mutter Ölfarben und die Leinwand einkaufte. Es war immer etwas Besonderes, wenn die Mutter mit ihr mit dem Zug in „die Stadt“ fuhr. Auch wenn sie in der Küche Essen zubreitete, sagte sie dann immer laut: „Mama sagte, Champion oder Spinat darf man nicht aufwärmen. Aber es macht nichts, wenn das Joghurt schon abgelaufen ist, es ist meistens immer noch gut.“ Sie musste jedes Mal an den Geruch der Farben und des Terpentins denken, wenn sie an dem Bild im Vorhaus vorbei ging. Es waren unzählige Dinge, an die sie sich erinnerte. Sie erinnerte sich nicht nur. Es kam sozusagen von selbst. Die Gedanken tauchten auf, obwohl sie es schon so oft getan und gesagt hatte. Immer kamen sie wie frisch geboren aufs Neue, als wären sie das erste Mal gedacht. Und immer musste sie es aufs Neue denken oder laut aussprechen, wenn jemand neben ihr stand. „Ich weiß, ich sage das immer.“ Wenn sie gekühlten Rotwein trank, dachte sie stets an ihre Schwester, die einmal gesagt hatte, dass ihr ein wenig gekühlter Rotwein besser schmeckte. Und sie dachte dann immer daran, dass sie sich gewundert hatte, da sie glaubte, nur Weißwein gehöre gekühlt und es wäre eher ein Unding Rotwein zu kühlen. Sehr oft dachte sie im Garten auch an die Worte ihrer Tante, die manchmal die Redewendung verwendete: „Du bist eine Perle.“ Sie bedankte sich auch jedes Mal überaus wortreich, wenn sie ihr bei einer Arbeit half und sie erinnerte sich an die Gefühle die sie dabei empfand. Sie wusste nie genau, ob die Tante es von Herzen ehrlich meinte oder es für sie eben eine „Redensart“ war. Vielleicht dachte sie, war es irgendwie eine Mischung aus Heuchelei und ehrlichem Herzen. „Machen wir eine Gartenrunde,“ sagte die Tante bei schönem Wetter vor dem Abendessen. Dann machte sie auf alle Veränderungen und auf das Wachstum des Gemüses aufmerksam. Es war für sie damals etwas seltsam, warum die Tante eine so große Bedeutsamkeit auf ihren Garten legte. Heute sind ihr selbst besonders die Blumen, die ihre Mutter so gerne mochte, von großer Wichtigkeit. Die Mutter hatte ihr jeden Sommer davon erzählt und wenn sie die Mutter besuchte, sollte sie staunen. Sie konnte es aber nicht in rechter Weise und jetzt tat es ihr sehr leid. Sie hatte nun selbst diese Blumen auf der Terrasse und machte ihre Kinder auf noch eindringlichere Weise auf die wunderschönen Blüten aufmerksam, mit Nachdruck und wiederholend, als müsste sie etwas gut machen. Es war eine endlose Kette von Erinnerungen und jene die schmerzten, kamen nicht in dieser Eindringlichkeit und so zahlreich, als jene, die von völliger Unbedeutsamkeit aufstiegen.

Seit diesen letzten Wochen, in denen sie nicht mehr aufstehen konnte, ist ihr Denken ermattet. Dieses endlose Erinnern ist durch die Erschöpfung abgeklungen. Sie dachte in einer anderen Form. Sie dachte nur mehr im Minutentakt und vergaß eigentlich mehrmals täglich, was sie kurz zuvor getan hatte oder tun wollte. Sie fand ihr Wasserglas nicht mehr oder stellte die Milch in den Kühlschrank zurück, die sie vor Sekunden in einen Becher leeren wollte. Das bereitete ihr manchmal etwas Mühe, da sie dann wieder aufstehen musste, um etwas zu holen, das sie vergessen hatte. Wenn sie lag, war sie jedoch zu schwach um aufzustehen.

Das Fieber ist erstmals gesunken. Die Nacht hat wieder keine Kühle gebracht und die Tage sind so heiß, dass sie nicht wagt nur einen Schritt auf die Terrasse zu treten. Sie schreckt vor dem Licht zurück und vor dem Schwindel, der sich auf ihren Kopf legt, sobald die Sonne schien. Aber auch im Liegen fühlt sie sich nicht wohl. Ihr wird oft übel und die Gedanken kreisen um ein Nichts, dass sie erregt. Dann wird die Erschöpfung selbst im Liegen fast unerträglich. Wenn sie jetzt sterben würde, denkt sie in diesen Augenblicken, wäre die Erschöpfung so sehr ein Trost, dass die Angst vor dem Tod den Schrecken verlor.

„Morgen wird es besser sein,“ sagt sie sich und alle sagten ihr das. Aber es wurde nicht besser. Die Hitze dringt in die Wohnung, in das Zimmer, in ihr Bett, in ihre Poren, in ihre erhitzten Erinnerungen. Das Fieber beginnt wieder zu steigen. Es war eine Mischung von Unruhe, Furcht und Gleichgültigkeit. Der Segen der völligen Erschöpfung legt sich wie ein Mantel über sie. Sie überlegt nichts mehr zu trinken, damit sie nicht ins Bad gehen muss.

Die folgende Nacht kühlt nach vielen Tagen endlich etwas ab. Sie öffnet die Fenster. Sie kann atmen. Das Fest ist zu Ende. Viele genießen auf den Straßen die ersehnte Kühle. Sie hört das Stimmengewirr. Sie weint. Aber in den Morgenstunden schläft sie langsam ein. Pünktlich um sieben Uhr beginnen die Renovierungsarbeiten am Nebenhaus. Mauern werden weggestemmt, Bohrmaschinen vibrieren. Sie erwacht in völliger Übermüdung, nachdem sie im Halbschlaf dahinträumend die undefinierbaren Geräusche zu verarbeiten versucht. Dann ist sie aber endgültig wach. Sie versucht langsam die Fenster zu schließen. Der Baulärm ist etwas gedämpft. Gleichzeitig bieten die Rollos Schutz vor der bald einfallenden Sonne. Sie hofft, noch ein wenig einschlafen zu können. Leider muss sie ins Bad. Sie seufzt. Je weniger sie trinkt, desto mehr fühlte sich ihr Kopf vom Schwindel betäubt.
Sie nimmt die Medikamente. Sie hat es aufgegeben den Beipackzettel zu lesen. Sie ist erleichtert, dass sie es schafft, denn sie weiß ja, dass alle beschriebenen Nebenwirkungen immer schrecklich sind und praktisch nie eintrafen. Sie wurden ihr auch immer gleichgültiger. Ihre einzige Hoffnung war die Milderung der Kopfschmerzen und die Sehnsucht nach Schlaf. Dieser unendliche Trost einer Nacht, die nicht durchwacht.
Vor wenigen Wochen konnte sie noch lesen, wenn sie ermattet auf dem Sofa lag. Nun erträgt sie keine Buchstaben, kein Licht, keine Hitze, keinen Lärm und – sie wagt es sich kaum einzugestehen – keine Gespräche mit den wenigen Menschen, die es „wirklich gut mit ihr meinten“, wie man es so gerne ausdrückt. Die Schwester kommt nach einigen Tagen. Sie läutet. Sie hatte ihr einen Schlüssel gegeben, damit die Schwester nicht läuten muss, denkt sie unentwegt. Sie hat Angst vor dem Aufstehen. Fast wäre sie diese Nacht gestürzt. Eigentlich will sie nie wieder aufstehen. „Du musst Dir sehr viel Zeit lassen. Ruhe ist nun wichtig. Du musst Loslassen. Übe Dich in Gelassenheit, mir hat das sehr geholfen,“ sagte ihr die Freundlich am Telefon. Die Schwester stand wieder völlig unerwartet im Zimmer. „Du musst etwas essen,“ sagte sie besorgt. „ der Vater ist sich sicher, du musst aufstehen. Der Kreislauf muss wieder in Schwung kommen. Es ist nur der Kreislauf, vom Liegen.“ - „Wie auf Wolken.“ - „ Hast Du mich verstanden? Es kann doch so nicht weiter gehen.“ Die Schwester wirkte etwas streng. „Jetzt wein doch nicht,“ beruhigte die Schwester hilflos ungeduldig. Ihr Weinen wurde laut und haltlos. Dann wurde sie sehr still.
 



 
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