Ein Sommerspaziergang

Ein Sommerspaziergang


Ich bin herausgetreten aus dem Haus am Waldesrand und atme die frische, würzige Luft der Felder. Mit schnellen Schritten biege ich in den Waldweg ein, der mich absolut unberührte Natur führt.
Der warme Sommerwind umweht mein erhitztes Gesicht. Dieser herrliche Sommertag ist wie ein Geschenk, wie eine Gottesgabe. Wie eine Gottesgabe ist auch die Musik, die an meinem Ohr erklingt. Ich höre das Violinkonzert von Beethoven, dieses berühmte Werk, das mit vier langsamen Paukenschlägen beginnt. Die Geige singt ihr Lied, zärtlich, wild, die Melodie ist wie eine Hymne, ein Liebeslied, dessen Melodie vor lauter Glück jauchzt und jubiliert. Es ist die perfeke Melodie der Liebe, des Verlangens, des ekstatischen Glücklichseins. Wie so oft staune ich, daß diese Musik von einem Menschen geschaffen wurde, der ein so unglückliches Schicksal erleiden mußte. Die Violine ist hier sein Instrument, das dieser göttlichen Musik Ausdruck verleiht, die Violine, die gemacht ist aus Holz und Saiten, beides im Grunde schlichte Dinge unseres täglichen Lebens und erst durch die geniale Musik und die Virtuosität des Künstlers zu diesem unverzichtbaren, wundervollen Medium wird.
Ich blicke mich um und sehe eine unberührte, grüne Landschaft zu meinen Füßen liegen. Der weiß-blaue Sommerhimmel ist wie ein großes, alles behütende Zeit gespannt über Land und Flur und alle Wesen, die unter ihm weilen. Die bestellen Felder mit ihrem Roggen, Hafer und Gerste stehen in üppiger Pracht, roter Klatschmohn, leuchtend blaue Kornblumen, weiß-gelbe Margariten sind wie bunte Farbtupfer im Grün der Felder verstreut.
Ich bin voller Freude, daß ich diesen wunderbaren Sommertag erleben kann und stelle mir vor, wenn dies eines Tages nicht mehr möglich ist, wenn mein Dasein auf dieser herrlichen Welt beendet ist und ich mich nicht mehr erfreuen kann an all diesen herzerfrischenden Dingen: der Sommerlandschaft, der Musik, den blühenden Feldern und Blumen. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Vielleicht ist alles mit einem Traum vergleichbar, einem Traum, der zur Realität geworden ist. Nur mit dem Unterschied, daß ich eines Tages nicht mehr aus diesem Traum aufwache. Das ist irgendwie ein tröstlicher Gedanke, weil er mir die Angst nimmt vor dem Tod.
Dann sehe ich sie, die kleinen Rehkitze, die auf staksigen Beinchen neben ihrer Mutter laufen, und auf einmal wird mir wieder klar, daß das Leben immer weitergeht: die Natur stirbt im Winter, hält Winterschlaf und erwacht wieder mit neuem Glanz zu einem erneuerten Leben. Alle Lebewesen sind eingebunden in diesen Kreislauf von Leben und Tod, leben weiter in den Kindern. Das muß mein Trost sein und sollte mir die Angst vor dem Tod nehmen.
Darum will ich das Lied des Lebens, diese herrliche, zärtliche Melodie, diesen Wechsel aus Besinnlichkeit, Wildheit, Freude und Trauer auskosten bis zum Ende meiner Tage. Jeden Tag will ich mir bewußt machen, daß mein Dasein ein Fest sein sollte, das ich ausgelassen und voller Freunde genieße. Alles andere wäre Frevel.

Aufgeschrieben Ende Juni 1999 in R-N.
 



 
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