Ein Tag aus dem Leben des Arno Abendschön

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Heute ist Samstag, der 17. September 2022. Sascha ist wieder für ein paar Tage zu Besuch bei mir. Wir stehen wie gewöhnlich gegen acht Uhr auf, er macht das Frühstück und hinterher wasche ich ab. Dann geht er einkaufen und ich fege die Wohnung aus. Später schreibe ich einige Zeilen über ein Buch, das ich gerade lese, und was es in mir auslöst. Ich veröffentliche den Text hier und da. Sascha hat inzwischen das Mittagessen fertig, es gibt Bratwurst mit Blumenkohl. Ich lobe das Essen und indirekt damit auch Sascha. Nach dem Dessert wasche ich zum zweiten Mal ab. Das Wetter ist herbstlich, wir wollen nicht ins Grüne, erledigen Einkäufe in einem Warenhaus hier im Bezirk. Tatsächlich haben wir Glück und bekommen rasch, was wir an Ersatz benötigen, ich eine neue Isolierkanne – in der alten neuerdings bald immer nur kalter Kaffee – und er für seine schwachen Augen eine Armbanduhr mit großer Digitalanzeige. Hinterher will Sascha mit der Straßenbahn in den Wedding, da habe ich einige Jahre gewohnt. Die lange Strecke quert eine Reihe von Stadtvierteln, die unterschiedliche Erinnerungen in mir auslösen. Der Bauboom der letzten Zeit hat viele uns von früher bekannte Ecken verändert. Wir fahren am Jüdischen Friedhof Weißensee entlang und nehmen uns erneut vor, ihn einmal zu besuchen. Im Wedding laufen wir einen Teil der Geschäftsmeile ab. Sie ist noch weiter heruntergekommen. Enttäuschend dann auch das Kaufhaus: die Warenpräsentation früher nie so lieblos – und die Preise nie so hoch wie nun. Wir verzichten auf weitere Einkäufe, wollen im Restaurant Kaffee trinken: der nächste Schock, es ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Hier, wo ich einst so oft und gern gegessen habe, scheint alles seinem Untergang entgegenzutreiben; kaum Auswahl, wenig Gäste, kein Personal zu sehen. Wir flüchten mit der U-Bahn in Richtung Reinickendorf. In der uns bekannten Bäckerei sieht es nur wenig besser aus. Das Kuchenbüffet weist vor allem große Lücken auf, das Personal ist stark gestresst. Sascha bekommt statt heißer Schokolade, die er bestellt und teurer als früher bezahlt hat, Kaffee, den er strikt meiden muss. Er reklamiert mit Erfolg und beklagt sich dann bei mir, dass sein Heißgetränk fast nur heißes Wasser sei. Mein Kaffee schmeckt ganz ähnlich und ist mitleiderregend schwach. Stark besetzt dafür die U-Bahn nach Hause. Wir wundern uns, dass schon wieder oder immer noch so viele Touristen nach Berlin kommen. Die erhoffte wie die befürchtete Briefpost ist auch heute nicht eingetroffen, stattdessen eine E-Mail. Einer, der dazu befugt war, hat eine Maßnahme, mich betreffend, getroffen. Sie trifft mich indessen nicht wirklich, umso leichter kann ich mir versagen, was mir ohnehin nicht gestattet: sie öffentlich zu kritisieren. Lege mich lieber eine halbe Stunde aufs Ohr bis zum Abendbrot. Noch einmal Abwaschen und danach Rundtour durchs Internet - Sascha sieht im anderen Zimmer fern -, wieder mein schon routiniertes Erschrecken über unsere Zeit mit ihren Krisen, Katastrophen und Vorahnungen. Dann ist der Bericht über den Tag fertig, es ist 22 Uhr neununddreißig. Ich kann noch ein paar Seiten in dem wunderbaren Buch lesen, bevor ich rasch einschlafen und dann wie seit Monaten Nacht für Nacht von Alpträumen zermürbt werde.
 
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