Ein Tag im Herbst

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Eike Paul

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Vorsichtig beugte ich mich zu ihm herunter. Noah lag in seinem Kinderbett, die kleinen Ärmchen um seinen Stoffhasen geschlungen und schlief noch tief und fest. Ich betrachtete ihn eine ganze Weile, versuchte jedes Detail seines unschuldigen Gesichtes in mich aufzusaugen, bevor ich zärtlich über seinen Kopf streichelte. Die blonden Haare waren noch ganz verschwitzt vom Mittagsschlaf und seine Haut strömte diesen angenehmen Duft aus. Eine Mischung aus bedingungloser Liebe und Schutzlosigkeit.

„Zeit zum Aufstehen, kleiner Mann,“ flüsterte ich in sein Ohr.

Für unseren Nachmittagsspaziergang wählte ich oft den Weg durch den Stadtpark entlang dem kleinen See, der sich Schneidlerscher Graben nannte, bis hin zu unserem Lieblingsspielplatz. Für einen Oktobertag war es angenehm mild, fast sommerlich warm. In der Luft lag der würzige Geruch von Zuckerrüben. Noah saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung in seinem Kinderwagen und lachte mich mit seinen blauen Augen fröhlich an. Für seine zwei Jahre war er schon recht groß und ein regelrechtes Energiebündel. Wir gingen den geschwungenen Weg entlang, an dem rechts und links Bänke zum Ausruhen einluden und breite Rasenflächen angelegt waren. Die Blätter der Bäume präsentierten sich in ihrem schönsten Herbstkleid, so als wollten sie sich vor dem Winter noch einmal in ihrer ganzen Pracht zeigen.

Noah kannte den Weg gut und als wir um die nächste Wegbiegung kamen, rief er laut: „Euhen Hallo sagen, gleich Euhen Hallo sagen!“

Sofort kletterte er behände aus der Kinderkarre und rannte mit tapsigen Schritten den drei Eulen entgegen, denen wir an dieser Stelle immer einen Besuch abstatten mussten. Die drei Eulen waren eine Steinstatue, die wohl schon seit über 50 Jahren an dieser Stelle stand. Drei unterschiedlich große Eulen, die aneinander gekauert auf einem Sandsteinsockel hockten und uns mit großen Augen ansahen. Ich hob Noah hoch und streichelte gemeinsam mit ihm über die steinernen Flügel. Wehmütig besah ich mir seine kleinen Händchen neben meinen Händen. Wie oft hatte meine Mutter mit mir hier gestanden und genauso mit mir über die Flügel gestrichen wie wir jetzt? Ich schloss die Augen und meine Gedanken trugen mich fort auf eine Reise in die Vergangenheit.

Ich sah meine kleinen Händchen neben den Händen meiner Mutter, spürte ihre Nähe und Vertrautheit und konnte ihren beruhigenden Duft riechen. Ich sah mich über die Wiese laufen mit Herbststiefeln aus weißem Fell und einer bunten Cordhose mit Schlag. Die blonden Locken lugten unter meiner roten Bommelmütze hervor, die bei jedem Schritt hin und her wippte. Ich hörte meine Mutter rufen, ich solle nicht so schnell laufen. Aber ich war nicht aufzuhalten. Ich sah mich neben der riesengroßen Kastanie, an deren Fuße ich immer die Tauben betrachtete, wie sie aus den Wasserpfützen tranken, die sich zwischen den großen Wurzeln des Baumes gesammelt hatten. Ich sah mich, die Taschen mit Kastanien vollgestopft, mit einem freudestrahlenden Lachen im Gesicht, als hätte ich den wertvollsten Schatz der Welt gefunden. Ich sah mich auf den naheliegenden Teich zulaufen, die Hände voller Brot für die hungrigen Enten, die schon ungeduldig schnatternd auf mich warteten. Ich sah mich das Brot werfen, so linkisch und ungestüm, dass die meisten Brocken mir wieder vor die Füße fielen. Ich sah mich hinfallen und wieder aufstehen. Ich sah mich mit großen Augen in eine Welt laufen, die ich Stück für Stück erobern wollte, von der ich alles erfahren wollte. Ich sah mich mutig und arglos, mit der kindlichen Gewissheit im Herzen, dass diese Welt nur Gutes für mich bereit halten würde.

„Bist du traurig?“, fragte Noah und holte mich damit aus meinen Erinnerungen zurück in das Hier und Jetzt.
Ich schaute in seine arglosen blauen Augen, nahm ihn ganz fest in den Arm und sagte: „Nein, ich habe nur geträumt. Lass uns weiter gehen.“

Wehmütig schaute ich noch einmal auf den Platz, an dem einst meine Kastanie gestanden hatte und an dem jetzt nur noch ein großer Baumstumpf aus der Erde ragte, bevor Noah und ich unseren Weg zum Spielplatz fortsetzten.

Wir verbrachten einen wunderschönen Nachmittag mit vielen anderen Kindern und ihren Müttern auf dem Spielplatz und als sich der Abend näherte, war ich erschöpft, aber glücklich und zufrieden. Noah´s kleine Händchen waren ganz braun vom vielen Sandkuchen backen und seine Wangen waren gerötet vom Toben und Spielen in der frischen Herbstluft. Ich setzte ihn auf den Rand des Sandkastens und wollte gerade seine Schuhe ausziehen, um den Sand auszuschütten, als er sich losriss und ungestüm zum Eingang des Spielplatzes lief. Ich schirmte meine Augen gegen die schon tiefer stehende Sonne ab, um ihm mit meinen Blicken folgen zu können. Er lief ihr mit weit ausgebreiteten Armen entgegen, so schnell seine kleinen Beinchen ihn tragen konnten. Wie in Zeitlupe beobachtete ich, wie er sich in ihre Arme stürzte, vor lauter Freude juchzte und gluckste und sich immer und immer wieder von ihr im Kreis herumwirbeln ließ. Dann setzte sie ihn auf ihre Hüfte und und kam auf mich zu. Noah´s Köpfchen ruhte an ihrer Schulter und beide strahlten mich glücklich an. Er sah ihr jetzt schon so ähnlich. Kurz verschwamm das Bild vor meinen Augen und ich sah mich, wie ich strahlend meine Tochter auf dem Arm hatte, als sei es gestern gewesen.

„Hallo Mama“, sagte meine Tochter und nahm mich nun ebenfalls in die Umarmung auf. „Danke, dass du heute so spontan auf ihn aufpassen konntest. Du bist die beste Oma der Welt.“ Einen kurzen Moment standen wir drei engumschlungen einfach nur so da. Ich schloß glücklich die Augen und versuchte, diesen Augenblick einzufangen, um ihn für die Ewigkeit zu bewahren.
 

aliceg

Mitglied
Liebe Eike
schön gefühlvoll wie du die äußeren Beschreibungen und erinnernde Gedankenwelt miteinander in Einklang
bringen kannst!
lg aliceg
 



 
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