Ein Tag wie jeder andere

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kevin3

Mitglied
Ein Tag wie jeder andere 6.12.2001

1

Es war kühl hier oben, auf dem Dach des sechsstöckigen Hochhauses, in dem Dennis mit seiner Familie lebte. Ein leichter Wind ging. Dunkle Wolken verdeckten die abendliche Sonne. Es roch nach Regen. Dennis stand am Geländer und betrachte den leeren Hinterhof unter ihm. Nur ein paar
Mülltonnen, sonst Nichts. Obwohl er eine dicke Jacke trug, fror er. Seine Hände umklammerten fest das Geländer. Es war Donnerstag, der 5. November. Ein Tag wie jeder andere. So beschissen wie jeder andere, und so sinnlos wie jeder andere zuvor. Nur mit einem Unterschied. Einem gewaltigen. Es würde
der letzte sein. Nicht für diese längst verlorene Welt, sondern für ihn. Bald würde Dennis Geschichte sein. Niemand würde ihn vermissen. Bis auf seine Mutter. Sie war der einzigste Mensch der ihm etwas bedeutete. Sie würde um ihn trauern, jeden Tag sein Grab besuchen, bis sie selbst auf dem Friedhof liegen würde. Dennis bekam ein schlechtes Gewissen.
Er würde ihr weh tun. Sie tief verletzen. Aber es ging nicht anders. Er konnte nicht mehr.
Dies würde sein letzter Tag auf dieser Erde sein. Endgültig. Unwiderruflich.
Aus seiner Hosentasche holte er eine Packung Lucky Strike heraus, und ein Feuerzeug. Er rauchte seit drei Jahren. Erst eine Kippe am Tag, mittlerweile waren es fast zwei Schachteln. Er hatte einmal versucht aufzuhören, aber es machte nicht viel Sinn. Schon damals, vor einem knappen Jahr, wusste er, das er bald sterben würde. Er würde dem Krebs zuvorkommen. Er holte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich an. Dann steckte er die Schachtel wieder zurück in die Hosentasche. Er schaute sich die Kippe eine Zeitlang an.Es würde seine letzte sein. Seine Gedanken schweiften ab.

2


Dieser Tag hatte begonnen wie jeder andere. Morgens um sechs Uhr war er mühsam aufgestanden. Er hatte die Nacht davor schlecht geschlafen. Er hatte geduscht und sich seine besten Klamotten angezogen. Er machte sich seine Haare ( was ihm heute sinnlos vorkam) und packte seinen Schulranzen.
Als nächstes machte er seine Stereoanlage an. Harter Gitarrensound dröhnte aus den Boxen. Es war Master of Puppets von Metallica. Eins seiner Lieblingslieder. Er hatte die CD zu seinem Geburtstag, von seiner Mutter, bekommen. Es war nicht all zu lange her, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Beim Gedanken daran traten Tränen in seine Augen. Es war vielleicht nicht das teuerste Geschenk, das er je bekommen hatte, aber es war das schönste, und das, was ihm am meisten gefreut hatte. Er erinnerte sich wie glücklich er an jenem Tag war. Damals hatte er das Gefühl gehabt, es würde sich alles zum Guten wenden. Er würde es schaffen, sich verändern. Damals.
Dennis fing an zu weinen. Warme Tränen flossen an seinen Wangen herunter und sammelten sich an seinem Kinn. Er steckte sich noch eine Kippe an und verlies dann die Wohnung. Bis zur Bushaltestelle brauchte er eine knappe Viertelstunde. Er lies sich Zeit. Sonst brauchte er nur zehn Minuten. Aber was spielte es für eine Rolle, ob er den Bus verpasste, oder nicht. Im Grunde genommen war es scheißegal. Dennis war aber noch rechtseitig da. Der Bus kam später als sonst. Viele kleine Gruppen standen an der
Haltestelle.
Ein paar kleinere Kinder, und Jugendliche ungefähr in seinem Alter. Sie beachteten ihn nicht. Das hatten sie noch nie getan. Dennis blieb allein für sich.
Er war froh, wenn man ihn in Ruhe lies. Das war an diesem Morgen zum Glück der Fall. Manchmal machten ihn welche an, oder nahmen ihm sogar sein Geld weg. Heute schienen sie noch nicht einmal zu bemerken, dass er anwesend war.
Die Schule war ein weiterer Ort der Erniedrigung für Dennis. Er hasste die Schule seit dem ersten Tag. Er ging auf eine Realschule ganz in der Nähe seines Hauses. Mit dem Bus war er in zwanzig Minuten da. Als er die Tür zu seinem Klassenzimmer öffnete, begrüßte ihn Tom, einer seiner Klassenkammeraden.
>> Na, Schwuchtel. Wie geht’s? << Rief er. Ein paar Mädchen, die in der Nähe standen, fingen an zu kichern.
>> Lass mich in Frieden, << sagte Dennis und versuchte so gelassen wie möglich zu klingen. Tom ging auf ihn zu. Er war mindestens einen Kopf größer als Dennis und hatte ein verdammt breites Kreuz. Er packte Dennis am Kragen seiner Jacke und drückte ihn gegen die Wand.
>> Willst du mir sagen was ich zu machen habe, kleiner Scheißer. Willst du das? << Fragte er und drückte noch fester zu. Dennis brachte kein Wort heraus. Seine Knie zitterten.
Es klingelte und der Lehrer kam ins Klassenzimmer.Tom lies ihn los.
Der Lehrer, Herr Müller, war ein alter, gebrochener Mann, der auf seine Pension wartete, und der die letzten zwei Jahre seiner Karriere keinen Ärger mehr bekommen wollte. Er tat so, als hätte er nichts gesehen. Dennis atmete tief durch und ging dann zu seinem Platz in der letzten Reihe. Sofort wurde es still.
>> Guten Morgen, << sagte Herr Müller und öffnete seinen Aktenkoffer.
Von draußen hämmerte der Regen gegen die Fensterscheiben.
Der Unterricht war langweilig, und zu schwer für Dennis. Er kam nicht mit.
Genau genommen war er noch nie mitgekommen, aber damals hatte er sich wenigstens bemüht. Zum Glück hatten sie heute nur fünf Stunden.
In der letzten Stunde hatten sie Englisch. Das langweiligste Fach von allen.
Zehn Minuten, bevor es klingeln würde und er dieses verfluchte Gebäude nicht mehr betreten musste, meldete er sich und fragte, ob er auf die Toilette gehen dürfe. Frau Ronnstein willigte ein. Dennis schritt mitten durch den Klassenraum, vorbei an kicherten Mädchen, die nach seiner Meinung alle als heroinsüchtige Nutten enden würden, und hasserfüllten Blicken von Vollidioten. Einer versuchte ihm sogar das Bein zustellen.
Aber lässig stieg Dennis drüber. Heute nicht, dachte er und verlies die Klasse. Der Flur war nur schwach beleuchtet und verlassen. Es passte zu Dennis Stimmung. Langsam schlenderte er weiter. Die Toiletten waren in der untersten Etage. Überall lagen ausgetretene Zigarettenstummeln auf dem Boden. An den Wänden waren Graffitis. Es stank fürchterlich nach pisse. Hier war Dennis oft zusammengeschlagen worden. Meist waren sie mit zu viert oder zu fünft auf ihn zugekommen. Zwei hatten seine Arme festgehalten, einer passte auf, dass sie nicht gesehen wurden und einer schlug auf ihn ein. Manchmal, weil sie Geld wollten, oder aber einfach nur so zum Spaß, wenn sie sich abreagieren wollten, wenn sie schlechte Noten geschrieben hatten. Scheiße, wie er dieser Wichser hasste! Es waren meist Ältere und er hatte keine Chance sich irgendwie zu wehren. Wäre er zu einem Lehrer gegangen, wäre alles nur noch schlimmer geworden, vielleicht hätten sie ihn sogar umgebracht. Außerdem machten die Lehrer nichts. Sie hatten selber Angst. Es kam fast jede Woche vor, dass ein Lehrer geschlagen oder mit einer Waffe bedroht wurde. Dennis versuchte an was anderes zu denken und steckte sich eine Zigarette an. Er hatte noch nie in der Schule geraucht.
Aber heute würde es keine Rolle spielen, ob er erwischt wurde oder nicht.
Plötzlich sah er Lisa vor seinem geistigen Auge. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen. Es war seine erste große Liebe gewesen. Sie hatte langes, braunes Haar gehabt und noch längere Beine. Aber sie war letzten Sommer weggezogen. Raus aus Berlin. Irgendwo aufs Land. Sie war so was wie eine Freundin für Dennis gewesen. Sie hatte gesagt sie würde ihm schreiben, aber das hatte sie nicht getan. Monate hatte Dennis sehnsüchtig auf einen Brief von ihr gewartet, und jeden Tag wurde er enttäuscht. Fahr zur Hölle, dachte er und spürte das Hass in ihm aufstieg. Das Gefühl des Verlusts, das er verspürt hatte, war längst verschwunden. Jetzt hatte er nur noch Wut auf sie. Mehr nicht, nur erbitterte Wut. Dennis zog an seiner Zigarette. Er musste zurück in die Klasse. Es würde bald klingeln. Also warf er die Kippe weg und beeilte sich.
Gerade als er angekommen war und er die Tür öffnete läutete es. Er packte schnell seine Sachen zusammen und folgte dann den anderen Schülern aus dem Gebäude. So ging sein letzter Schultag zu Ende. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen, es nieselte nur noch
Ein bisschen. Um zwei Uhr kam Dennis nach Hause.
Es war still. Verdächtig still. Der Fernseher ( der normal immer lief) war nicht eingeschaltet. Im Flur blieb er bei einem Bild stehen. Es stach jedem Besucher
Sofort ins Auge. Es war größer als die anderen Gemälde und war alles andere
Als farbenfroh. Es entsprach normalerweise nicht dem Stil seiner Mutter.
Dennis fiel auf, dass er zwar unzählige Male an diesem Bild vorbeigegangen
War, es aber noch nie richtig betrachtet hatte. Es hatte keine Aussage für ihn gehabt. Das war in diesem Moment schlagartig anders. Das Bild zeigte eine Reihe von Männern, allesamt in Mänteln und mit Hut ( was Dennis darauf schließen lies, das es aus den 20. oder 30. Jahren stammte ), die alle in einer Reihe standen. Ihre Gesichter sah man nicht, weil sie dem Betrachter den Rücken zukehrten. Alle bis auf zwei Männern. Der eine schaute zur Seite, und ein Mann hatte sich komplett umgedreht. Mit einem fragenden Gesicht blickte er Dennis jetzt an. Der Hintergrund des Gemäldes war dunkel, wie auch die Kleidung der Männer. Der erste Gedanke, der Dennis durch den Kopf ging lautete Konzentrationslager.
Und die Männer erinnerten ihn an die Juden.
Diese Männer werden, wie die Juden damals, wie Lämmer zur Schlachtbank geführt. Und alle lassen sich ohne Widerstand dorthin führen. Manche wissen noch nicht einmal was sie erwarten wird. Wenn sie es wissen, wird es zu spät sein. Nur die beiden Männer erkannten die Gefahr, aber zum umkehren war es bereits zu spät. Genauso erging es ihm, Dennis. Er sah die Gefahr in dieser Welt, die von Medien und falschen Idealen gelenkt wurde. Er hatte so lange wie möglich versucht gegen diesen Strom von Korruption, Lügen und Angst anzuschwimmen, doch er hatte genauso wenig Erfolg damit gehabt, wie der Mann auf dem Bild, der ihn mit traurigen, verängstigten Augen anschaute ( Dennis fand mehr, dass er ihn regelrecht anflehte).
Er ging in die Küche, um sich etwas zu Essen zu machen. Im Schrank fand er noch eine Tütensuppe. Im war jetzt nach etwas Warmen. Er setzte Wasser auf und deckte den Tisch. Um sich die Zeit zu vertreiben las er in der Zeitung. Ein kleines Mädchen wurde seit drei Tagen vermisst, eine Rentnerin wurde von einem Kampfhund angegriffen. Nichts neues also. Das Selbe wie jeden Tag. In seinen Augen sammelten sich Tränen. Seine Kehle fühlte sich auf einmal wie zugeschnürt an. Mit Mühe unterdrückte er seine Gefühle. Wie so oft.
Als die Suppe endlich fertig war, hatte er sich wieder beruhigt. Er hatte Hunger und die Suppe schmeckte relativ gut. Der Begriff Henkersmahlzeit kam ihm in den Sinn. Na und, was soll’s, dachte er sich.
Nachdem er fertig gegessen hatte, ging er ins Wohnzimmer. Noch ein letztes Mal wollte er sich mit der Droge Fernsehen befassen. Im wurde bewusst, wie viel Zeit er mit ihr verschwendet hatte. Beschissenes Geschwafel von Talkshowmoderatoren und gestellte Interviews. Jetzt, wo er darüber nachdachte, mussten es mindestens drei bis vier Stunden am Tag gewesen sein.
An manchen auch mehr. Als er den Fernseher einschaltete wurde er nicht enttäuscht. Wieder eine dieser elenden Talkshows, in denen Verrückte zu noch verrückteren Zuschauern sprachen. Einer von diesen Zuschauern war Dennis, aber er war aufgewacht. Er hatte erkannt was es für ein Schwachsinn war. Für einen kurzen Moment war er dafür dankbar. Er verbrachte die nächste halbe Stunde auf Coach. Dann wollte er noch einmal die wenigen Freuden des Lebens genießen. Er ging schnellen Schrittes in die Vorratskammer. Der Raum war dunkel und kühl. Würste hingen von der Decke runter. Es roch nach Fäulnis. Überall waren Spinnweben. Leichter Ekel überkam ihn. In der Vorratskammer bewarten sie auch die Getränke auf. Hinter dem Mineralwasserkasten, in der hintersten Ecke, fand Dennis wo nach er suchte. Bier. Er nahm sich zwei Flaschen und ging damit in sein Zimmer. Seine Mutter würde ausflippen, wenn sie bemerken würde, dass er sich Bier klaute und es auch noch in der Wohnung trank.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte seine Mutter aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er steckte sich eine Zigarette an. Nach dem ersten tiefen Zug musste er husten. Aber das Nikotin beruhigte ihn. Er bemerkte, dass seine Hände etwas zitterten.
Jetzt brauchte er noch etwas harte Musik. Also machte seine Anlage an. Die Boxen begannen zu vibrieren. Auf dem Schreibtisch fand er einen Collageblock. Er riss eine, noch unbeschriebene, Seite heraus. Es sollte ein Abschiedsbrief werden. Das Schreiben fiel ihm leicht. Er bedankte sich bei seinen Eltern, weil sie versucht hatten, ihm das Bestmögliche zu bieten. Dies waren die letzten Worte, die er niederschrieb.
Irgendwann am Nachmittag rief seine Mutter an, und sagte ihm, dass sie erst später nach Hause kommen würde, weil sie erst noch einkaufen musste.
Von seinem Vater hörte er nichts mehr. Wahrscheinlich würde er in einer stinkenden Kneipe abhängen und mit den Leuten, die er seine Freunde nannte, Poker spielen. Irgendwann nachts, würde er dann nach Hause kommen, stockbesoffen und stinkend.

3

Es war an der Zeit. Jetzt würde in nichts mehr aufhalten. Erlösung. Seine Hände klammerten sich noch fester um das Geländer. In wenigen Augenblicken würde sein Körper zermatscht auf der Straße liegen.
Vielleicht würde ihn irgend ein Penner noch in dieser Nacht finden, wahrscheinlicher war aber, das man ihn erst Morgenfrüh fand. Ein Kind aus der Nachbarschaft würde die grausige Enddeckung machen. Dennis Augen funkelten, als er daran dachte. Es befriedigte ihn. Aber erst mal musste er es tun. Er musste auf das Geländer steigen und springen.
Was kommt nach dem Tod? Dieser Gedanke schoss ihn plötzlich durch den Kopf. Gab es einen Gott? Einen Himmel und eine Hölle, und wenn ja, würde er in Gottes Reich kommen? Dennis war zwar katholisch, war aber selten in die Kirche gegangen. Meist nur an Weihnachten und Ostern. Scheiß drauf, sagte er sich. Er stieg auf das Geländer. Wieder musste er an das Bild mit den Männern denken, Es gab ihm den nötigen Impuls.
Hitze durchflutete seinen Körper. Er hatte ein kribbelndes Gefühl im Bauch. Der Wind fuhr ihm durchs Haar. Er atmete tief ein und aus. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod, sprang er.
Er schrie nicht. In der Luft breitete er die Arme aus. Er sah aus, wie ein Engel der vom Himmel fiel. Noch bevor er auf dem harten Asphalt aufschlug, war er bewusstlos.





ENDE
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
und,

denkst du, die spatzenhirne, die dennis verhauen hatten, kommen durch seinen freitod zur vernunft? tststs
 
K

kaffeehausintellektuelle

Gast
es muss zwar nicht immer ein happy end sein, aber irgendwie mag ich überraschende wendungen in der geschichte.
ein bisschen zu lang war sie mir, muss ich gestehen, aber vielleicht ist das einfach meine ungeduld. und ein kleiner tipp von einer rechtschreibfetischistin (obwohl wir schon gelernt haben, dass es völlig uncool ist, das zu sein). Ein bisschen weniger fehler würden deinen text noch besser machen. ließ und verließ, z.b. das kommt ziemlich oft vor. man muss ja aber auch beim selbstmord ziemlich viel lassen und verlassen.

die stimmung in dem jungen mann, die verzweiflung und die leere, die hast du gut rübergebracht. nur manchmal wurde ich ein bisschen rausgerissen, zwischen derber wortwahl kam dann z.b. das wort "toilette". denken jugendliche heute wirklich "toilette"?
20er Jahre, übrigens, sonst glaubt man zwanzigstes jahr. und noch was wundert mich. dass sich jemand aus der no-future generation tatsächlich die frage "was kommt nach dem tod" stellt. in diesem fall ein bissl spät für eine positive antwort.

und dann hätte mich noch interessiert, wie das gemälde heißt und von wem es ist.

liebe grüße
die kaffeehausintellektuelle
 

kevin3

Mitglied
Hi Kaffehausintelektuelle!

Danke fürs Lesen, mit den Rechtschreibfehlern hast du natürlich recht.
Zur Länge: Diese Geschichte ist einer meiner kürzesten!
Meine längste Kurzgeschichte hat die bescheidene Länge von 23 Seiten!

Zum Rest deiner Kritik möchte ich sagen, dass diese Geschichte stark autobiografisch ist, und ja, in meinem Wortschatz kommt das Wort "Toilette" zwischen "Titten" und "Tunte" auch vor!
Und ich würde mich mit meinen 17 Jahren auch als Jugendlicher bezeichnen. Oder hast du eine Abneigung gegen diese Gesellschaftsschicht? Und besonders die Frage, was nach dem Tod ist, bewegt mich und bringt mich desöfteren um den Schlaf.

Wie das Gemälde heißt und von wem es ist, weiß ich übrigens selbst nicht. Das Bild hat uns mal unsere Lehrerin gezeigt. Übrigens glaube ich auch nicht, dass es sich bei den Männern um Juden im 3. Reich handelte, obwohl ich es nicht ausschließen kann.

Freut mich, dass du die Leere und Verzweiflung nachvollziehen konntest!

Gruß Kev3!

@Flammarion

Hääääääää???

Nö, dass denk ich eigentlich nicht!
 
D

Dominik Klama

Gast
Das ist die Antwort

Bei dem Gemälde handelt es sich wohl um Folgendes:

http://www.artdaily.org/Fotos/galerias/376/Oelze_Expectation-2.jpg

Richard Oelze: „Die Erwartung“ (von 1935 bzw. 1936). Oelze war ein deutscher Maler, der in Paris lebte. Dieses ist sein berühmtestes und eines der legendären Bilder des zwanzigsten Jahrhunderts. Um Juden handelt es sich gewiss nicht, deren Vernichtung wurde erst ab 1938 bzw. 1941 aktuell. Oelze war auch keiner. Aber das Bild ist natürlich immer wieder als geniale Vorausahnung kommenden Unheils, des Zweiten Kriegs und der deutschen Katastrophe gedeutet worden. Typisch für Oelze sind die beunruhigenden Formen der Pflanzen, sie erinnern an Max Ernst, auch Oelze kann dem Surrealismus zugerechnet werden, wenn er, wie man hier ja sieht, auch von Neuer Sachlichkeit viel noch hatte. Das Bild entstand nach dem Prinzip der Collage, welche zwischen den Kriegen von Künstlern allenthalben angewandt wurde. Die Männer sind nach einem eher belanglosen Zeitungsfoto gemalt, das Straßenpublikum bei einem öffentlichen Ereignis zeigte. Vielleicht typisch für unseren Autor kevin3 ist, dass er die beiden Frauen auf dem Bild, von denen eine sogar vorn im verlorenen Profil zu sehen ist und mit den roten Blumen einen der wenigen Farbakzente ins Bild bringt, ganz vergessen hat.

Hm, ich fange schon fast an, mir Sorgen zu machen, ob ich kevins „Der nette Mann“ zu lieblos abgeurteilt habe. Jenes ist eine wüste Vergewaltigungs- und Schlachterszene aus dem Keller eines Serienmörders. Unter anderem hatte ich dem Autor verdrängte Sexfantasien aus der homosexuell masochistischen Richtung unterstellt. Dass er jung und Horror-Fan war, das war klar, ebenso, dass er Probleme mit der deutschen Orthografie hat. Aber damals wusste ich noch nicht, dass der Schreiber seinerzeit erst siebzehn gewesen ist und nur einen Monat lang (für fünf Werke) hier in der Leselupe zu Gast. Er wird sich doch nichts angetan haben?

Nun, na ja, das glaube ich nicht. Wäre aber wohl interessant, ihn mit 25 wiederzutreffen, zu schauen, was aus ihm geworden ist, wie er zurückschaut auf seine damaligen Gefühle.

Suppe Essen, auf der Couch liegen, Zeitung lesen, fernsehen, mit der Mutter telefonieren, rauchen, Bier trinken... na so stelle ich mir die letzten Stunden eines Suizid-Schülers nicht vor. Auch dass er, wieder, wie er sagt, zu weinen anfängt, weil alles jeden Tag gleich ist, sich dann sofort anstrengt, die Tränen zu unterdrücken und normal auszusehen, obwohl ihn keiner sehen kann. Kurz vor dem tödlichen Sprung hätte er das wohl anders gemacht. Er hätte wahrscheinlich nicht geweint.

Nee, klingt jetzt vielleicht nicht so, aber dieser Junge hier, von dem der Autor sagt, weithin sei er das selbst, der wuchs mir ziemlich ans Herz beim Lesen. Inklusive seiner Rechtschreibschwäche. Ich stelle auch immer wieder mal fest, dass all diese Goth- und Metal- und Horror-Knaben und –Mädel meist einen ziemlich butterweichen Kern haben. Dass es eher drum geht, sich gepanzert aufzustellen, weil man in Folge gewisser ungemütlicher Kindheits- und Jugenderfahrungen nur zu gut weiß, wie schwach man im Grunde ist. Schad irgendwie, dass er weg ist, er mit seinen Metallica (kreisch!) und seinem schwulen Sexkiller („Der nette Mann“) und nicht mehr diskutieren kann mit mir, dem alten Schwulen mit dem Faible fürs junge Gemüse.

Was halt irgendwie das Problem ist bei diesem Text: Dass mehr oder weniger alle Jugendlichen in dem Alter sich völlig fehl am Platz auf der Welt fühlen, mit dem Gedanken an Selbstmord flirten, sich ungeliebt glauben und wenigstens dann, wenigstens, wenn sie dann tot sind, wird es allen anderen mal richtig Leid tun, dass sie sie falsch verstanden und nie geliebt haben.

Das ist eine so landläufige Bewusstseinslage in diesem Alter, dass es schon x mal aufgeschrieben wurde und dass man schon schwer was drauf haben muss, auch und gerade was Härte und Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst angeht, das so ergreifend schreiben zu können, dass es so alte Säcke wie ich dann noch besonders ernst nehmen.

Er wuchert da ein wenig mit den dramatischen sozialen Umständen in dieser Berliner Randwelt dieses Jungen:

> „Es kam fast jede Woche vor, dass ein Lehrer geschlagen oder mit einer Waffe bedroht wurde.“

Na ja, ich wohne im friedlichen Süddeutschland, wo Fuchs und Has sich gute Nacht sagen, aber DAS glaub ich nun nicht, dass in Berlin die Lehrer von nicht sehr weit führenden Schulen wöchentlich von ihren Schülern geschlagen und mit tödlichen Waffen bedroht werden. (Noch nicht. Das kommt erst noch, wenn die Politik noch zehn, zwanzig Jahre so weiter macht wie die zehn letzten.)

Wie man so einen Sozialwohnungsblock- und Säufervater- und Immer-verprügelt-Werden-Horror ziemlich packend und überzeugend beschreibt, das, ich sag’s schon zum dritten Mal, liest man am besten schnell mal nach in „So finster die Nacht“, Roman von John Ajvide Lindqvist (Bastei-Taschenbuch, zirka 9 Euro). Und kevin, hätt ich ihn noch erreicht, hätte ich geraten, sich mehr mit den eigenen Fehlern und Schwächen auseinander zu setzen, einfach mal zu erzählen, was da wirklich so geschieht. Aha, sie verprügeln ihn? Wie läuft das ab? Wie hat das damals angefangen? Warum passiert ihm das immer wieder? Warum wissen die, dass sie es machen können mit ihm?

Tut irgendwie mehr weh, so etwas zu schreiben, als: dass man sterben möchte.
Führt aber weiter.

(Tja, ich poste dann gleich noch ne Antwort. Da steht aber nur der Text noch mal drin. Nämlich die Version davon, die ich mir hier in Word gebastelt habe, damit ich es in Ruhe lesen kann, ohne ständig an irgendwelchen Fehlern hängen zu bleiben. Also das lesen, wer es hier zufällig sieht. Steht alles drin, was oben auch steht, bloß paar Satzzeichen und scharfe S mehr.)
 
D

Dominik Klama

Gast
STORY MIT WENIGER FEHLERN (lesefreundliche Version)

1
Es war kühl hier oben auf dem Dach des sechsstöckigen Hochhauses, in dem Dennis mit seiner Familie lebte. Ein leichter Wind ging. Dunkle Wolken verdeckten die abendliche Sonne. Es roch nach Regen. Dennis stand am Geländer und betrachte den leeren Hinterhof unter ihm. Nur ein paar Mülltonnen, sonst nichts. Obwohl er eine dicke Jacke trug, fror er. Seine Hände umklammerten fest das Geländer. Es war Donnerstag, der 5. November. Ein Tag wie jeder andere. So beschissen wie jeder andere, und so sinnlos wie jeder andere zuvor. Nur mit einem Unterschied. Einem gewaltigen. Es würde der letzte sein. Nicht für diese längst verlorene Welt, sondern für ihn. Bald würde Dennis Geschichte sein. Niemand würde ihn vermissen. Bis auf seine Mutter. Sie war der einzige Mensch, der ihm etwas bedeutete. Sie würde um ihn trauern, jeden Tag sein Grab besuchen, bis sie selbst auf dem Friedhof liegen würde. Dennis bekam ein schlechtes Gewissen. Er würde ihr weh tun. Sie tief verletzen. Aber es ging nicht anders. Er konnte nicht mehr. Dies würde sein letzter Tag auf dieser Erde sein. Endgültig. Unwiderruflich.

Aus seiner Hosentasche holte er eine Packung Lucky Strike und ein Feuerzeug. Er rauchte seit drei Jahren. Erst eine Kippe am Tag, mittlerweile waren es fast zwei Schachteln. Er hatte einmal versucht aufzuhören, aber es machte nicht viel Sinn. Schon damals, vor einem knappen Jahr, wusste er, das er bald sterben würde. Er würde dem Krebs zuvorkommen. Er holte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich an. Dann steckte er die Schachtel wieder zurück in die Hosentasche. Er schaute sich die Kippe eine Zeitlang an. Es würde seine letzte sein. Seine Gedanken schweiften ab.




2
Dieser Tag hatte begonnen wie jeder andere. Morgens um sechs Uhr war er mühsam aufgestanden. Er hatte die Nacht davor schlecht geschlafen. Er hatte geduscht und sich seine besten Klamotten angezogen. Er machte sich seine Haare (was ihm heute sinnlos vorkam) und packte seinen Schulranzen.

Als Nächstes machte er seine Stereoanlage an. Harter Gitarrensound dröhnte aus den Boxen. Es war Master of Puppets von Metallica. Eins seiner Lieblingslieder. Er hatte die CD zu seinem Geburtstag, von seiner Mutter, bekommen. Es war nicht allzu lange her, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Beim Gedanken daran traten Tränen in seine Augen. Es war vielleicht nicht das teuerste Geschenk, das er je bekommen hatte, aber es war das schönste und das, was ihm am meisten gefreut hatte. Er erinnerte sich wie glücklich er an jenem Tag war. Damals hatte er das Gefühl gehabt, es würde sich alles zum Guten wenden. Er würde es schaffen, sich verändern. Damals.

Dennis fing an zu weinen. Warme Tränen flossen an seinen Wangen herunter und sammelten sich an seinem Kinn. Er steckte sich noch eine Kippe an und verließ die Wohnung. Bis zur Bushaltestelle brauchte er eine knappe Viertelstunde. Er ließ sich Zeit. Sonst brauchte er nur zehn Minuten. Aber was spielte es für eine Rolle, ob er den Bus verpasste oder nicht. Im Grunde genommen war es scheißegal. Dennis war aber noch rechtzeitig da. Der Bus kam später als sonst. Viele kleine Gruppen standen an der Haltestelle. Ein paar kleinere Kinder und Jugendliche ungefähr in seinem Alter. Sie beachteten ihn nicht. Das hatten sie noch nie getan. Dennis blieb allein für sich.

Er war froh, wenn man ihn in Ruhe ließ. Das war an diesem Morgen zum Glück der Fall. Manchmal machten ihn welche an oder nahmen ihm sein Geld weg. Heute schienen sie noch nicht einmal zu bemerken, dass er anwesend war.

Die Schule war ein weiterer Ort der Erniedrigung. Er hasste die Schule seit dem ersten Tag. Er ging auf eine Realschule ganz in der Nähe seines Hauses. Mit dem Bus war er in zwanzig Minuten da. Als er die Tür zu seinem Klassenzimmer öffnete, begrüßte ihn Tom, einer seiner Klassenkammeraden.

„Na, Schwuchtel. Wie geht’s?“, rief er. Ein paar Mädchen, die in der Nähe standen, fingen an zu kichern.

„Lass mich in Frieden“, sagte Dennis und versuchte, so gelassen wie möglich zu klingen. Tom ging auf ihn zu. Er war mindestens einen Kopf größer als Dennis und hatte ein verdammt breites Kreuz. Er packte Dennis am Kragen seiner Jacke und drückte ihn gegen die Wand.

„Willst du mir sagen, was ich zu machen habe, kleiner Scheißer? Willst du das?“, fragte er und drückte fester zu. Dennis brachte kein Wort heraus. Seine Knie zitterten. Es klingelte und der Lehrer kam ins Klassenzimmer. Tom ließ ihn los.

Der Lehrer, Herr Müller, war ein alter, gebrochener Mann, der auf seine Pension wartete und die letzten zwei Jahre keinen Ärger mehr bekommen wollte. Er tat so, als hätte er nichts gesehen. Dennis atmete tief durch und ging zu seinem Platz in der letzten Reihe. Sofort wurde es still.

„Guten Morgen“, sagte Herr Müller und öffnete seinen Aktenkoffer.

Von draußen hämmerte der Regen gegen die Fensterscheiben. Der Unterricht war langweilig und zu schwer für Dennis. Er kam nicht mit. Genau genommen war er noch nie mitgekommen, aber damals hatte er sich wenigstens bemüht. Zum Glück hatten sie nur fünf Stunden. In der letzten Stunde hatten sie Englisch. Das langweiligste Fach von allen.

Zehn Minuten, bevor es klingeln würde und er dieses verfluchte Gebäude nicht mehr betreten musste, meldete er sich und fragte, ob er auf die Toilette gehen dürfe. Frau Ronnstein willigte ein. Dennis schritt mitten durch den Klassenraum, vorbei an kichernden Mädchen, die als heroinsüchtige Nutten enden würden, an hasserfüllten Blicken von Vollidioten. Einer versuchte, ihm das Bein zustellen.

Aber lässig stieg Dennis drüber. Heute nicht, dachte er und verließ die Klasse. Der Flur war nur schwach beleuchtet und verlassen. Es passte zu Dennis’ Stimmung. Langsam schlenderte er weiter. Die Toiletten waren in der untersten Etage. Überall lagen ausgetretene Zigarettenstummel auf dem Boden. An den Wänden waren Graffitis. Es stank nach Pisse. Hier war Dennis oft zusammengeschlagen worden. Meist waren sie zu viert oder zu fünft auf ihn zugekommen. Zwei hatten seine Arme festgehalten, einer passte auf, dass sie nicht gesehen wurden und einer schlug auf ihn ein. Manchmal, weil sie Geld wollten, oder aber einfach nur so zum Spaß, wenn sie sich abreagieren wollten, wenn sie schlechte Noten geschrieben hatten. Scheiße, wie er dieser Wichser hasste! Es waren meist Ältere und er hatte keine Chance sich irgendwie zu wehren. Wäre er zu einem Lehrer gegangen, wäre alles nur noch schlimmer geworden, vielleicht hätten sie ihn sogar umgebracht. Außerdem machten die Lehrer nichts. Sie hatten selber Angst. Es kam fast jede Woche vor, dass ein Lehrer geschlagen oder mit einer Waffe bedroht wurde. Dennis versuchte an was anderes zu denken und steckte sich eine Zigarette an. Er hatte noch nie in der Schule geraucht. Aber heute würde es keine Rolle spielen, ob er erwischt wurde oder nicht.

Plötzlich sah er Lisa vor seinem geistigen Auge. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen. Es war seine erste große Liebe gewesen. Sie hatte langes, braunes Haar gehabt und noch längere Beine. Aber sie war letzten Sommer weggezogen. Raus aus Berlin. Irgendwo aufs Land. Sie war so was wie eine Freundin für Dennis gewesen. Sie hatte gesagt sie würde ihm schreiben, aber das hatte sie nicht getan. Monate hatte Dennis sehnsüchtig auf einen Brief von ihr gewartet, jeden Tag wurde er enttäuscht. Fahr zur Hölle, dachte er und spürte Hass aufsteigen. Das Gefühl des Verlusts, das er verspürt hatte, war längst verschwunden. Jetzt hatte er nur noch Wut. Mehr nicht, nur erbitterte Wut. Dennis zog an seiner Zigarette. Er musste zurück in die Klasse. Es würde bald klingeln. Also warf er die Kippe weg und beeilte sich.

Gerade, als er die Tür öffnete, läutete es. Er packte schnell seine Sachen zusammen und folgte den anderen aus dem Gebäude. So ging sein letzter Schultag zu Ende. Es hatte aufgehört zu regnen, es nieselte ein bisschen.

Um zwei Uhr kam Dennis nach Hause. Es war still. Verdächtig still. Der Fernseher, der normal lief, war nicht eingeschaltet. Im Flur blieb er bei einem Bild stehen. Es stach jedem Besucher sofort ins Auge. Es war größer als die anderen Gemälde und war alles andere als farbenfroh. Es entsprach nicht dem Stil seiner Mutter. Dennis fiel auf, dass er zwar unzählige Male an diesem Bild vorbeigegangen war, es aber noch nie richtig betrachtet hatte. Es hatte keine Aussage für ihn gehabt. Das war in diesem Moment schlagartig anders. Das Bild zeigte eine Reihe von Männern, allesamt in Mänteln und mit Hut, was Dennis darauf schließen lies, dass es aus den 20-iger oder 30-iger Jahren stammte, die alle in einer Reihe standen. Ihre Gesichter sah man nicht, weil sie dem Betrachter den Rücken zukehrten. Alle bis auf zwei Männer. Der eine schaute zur Seite und ein Mann hatte sich komplett umgedreht. Mit einem fragenden Gesicht blickte er Dennis jetzt an. Der Hintergrund des Gemäldes war dunkel, wie auch die Kleidung der Männer. Der erste Gedanke, der Dennis durch den Kopf ging lautete Konzentrationslager. Und die Männer erinnerten ihn an die Juden.

Diese Männer werden, wie die Juden damals, wie Lämmer zur Schlachtbank geführt. Und alle lassen sich ohne Widerstand dorthin führen. Manche wissen noch nicht einmal was sie erwarten wird. Wenn sie es wissen, wird es zu spät sein. Nur die beiden Männer erkannten die Gefahr, aber zum umkehren war es bereits zu spät. Genauso erging es ihm, Dennis. Er sah die Gefahr in dieser Welt, die von Medien und falschen Idealen gelenkt wurde. Er hatte so lange wie möglich versucht, gegen diesen Strom von Korruption, Lügen und Angst anzuschwimmen, doch er hatte genauso wenig Erfolg gehabt wie der Mann auf dem Bild, der ihn mit traurigen, verängstigten Augen anschaute. Dennis fand mehr, dass er ihn regelrecht anflehte.

Er ging in die Küche, um sich etwas zu Essen zu machen. Im Schrank fand er noch eine Tütensuppe. Ihm war jetzt nach etwas Warmen. Er setzte Wasser auf und deckte den Tisch. Um sich die Zeit zu vertreiben, las er in der Zeitung. Ein kleines Mädchen wurde seit drei Tagen vermisst, eine Rentnerin wurde von einem Kampfhund angegriffen. Nichts Neues also. Dasselbe wie jeden Tag. In seinen Augen sammelten sich Tränen. Seine Kehle fühlte sich auf einmal wie zugeschnürt an. Mit Mühe unterdrückte er seine Gefühle. Wie so oft.

Als die Suppe endlich fertig war, hatte er sich wieder beruhigt. Er hatte Hunger und die Suppe schmeckte relativ gut. Der Begriff Henkersmahlzeit kam ihm in den Sinn. Na und, was soll’s, dachte er.

Nachdem er fertig gegessen hatte, ging er ins Wohnzimmer. Noch ein letztes Mal wollte er sich mit der Droge Fernsehen befassen. Ihm wurde bewusst, wie viel Zeit er mit ihr verschwendet hatte. Beschissenes Geschwafel von Talkshowmoderatoren und gestellte Interviews. Jetzt, wo er darüber nachdachte, mussten es mindestens drei bis vier Stunden am Tag gewesen sein.

An manchen auch mehr. Als er den Fernseher einschaltete, wurde er nicht enttäuscht. Wieder eine dieser elenden Talkshows, in denen Verrückte zu noch verrückteren Zuschauern sprachen. Einer von diesen Zuschauern war Dennis, aber er war aufgewacht. Er hatte erkannt, was es für ein Schwachsinn war. Für einen kurzen Moment war er dafür dankbar. Er verbrachte die nächste halbe Stunde auf der Couch. Dann wollte er noch einmal die wenigen Freuden des Lebens genießen. Er ging schnellen Schrittes in die Vorratskammer. Der Raum war dunkel und kühl. Würste hingen von der Decke runter. Es roch nach Fäulnis. Überall waren Spinnweben. Leichter Ekel überkam ihn. In der Vorratskammer bewahrten sie auch die Getränke auf. Hinter dem Mineralwasserkasten, in der hintersten Ecke, fand Dennis, wonach er suchte. Bier. Er nahm sich zwei Flaschen und ging damit in sein Zimmer. Seine Mutter würde ausflippen, wenn sie bemerken würde, dass er sich Bier klaute und es auch noch in der Wohnung trank.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte, seine Mutter aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er steckte sich eine Zigarette an. Nach dem ersten tiefen Zug musste er husten. Aber das Nikotin beruhigte ihn. Er bemerkte, dass seine Hände etwas zitterten.

Jetzt brauchte er noch etwas harte Musik. Also machte er seine Anlage an. Die Boxen begannen zu vibrieren. Auf dem Schreibtisch fand er einen Collageblock. Er riss eine noch unbeschriebene Seite heraus. Es sollte ein Abschiedsbrief werden. Das Schreiben fiel ihm leicht. Er bedankte sich bei seinen Eltern, weil sie versucht hatten, ihm das Bestmögliche zu bieten. Dies waren die letzten Worte, die er schrieb.

Irgendwann am Nachmittag rief seine Mutter an und sagte ihm, dass sie erst später nach Hause kommen würde, weil sie erst noch einkaufen musste.

Von seinem Vater hörte er nichts mehr. Wahrscheinlich würde er in einer stinkenden Kneipe abhängen und mit den Leuten, die er seine Freunde nannte, Poker spielen. Irgendwann nachts würde er nach Hause kommen, stockbesoffen und stinkend.



3
Es war an der Zeit. Jetzt würde ihn nichts mehr aufhalten. Erlösung. Seine Hände klammerten sich noch fester um das Geländer. In wenigen Augenblicken würde sein Körper zermatscht auf der Straße liegen.

Vielleicht würde ihn irgendein Penner noch in dieser Nacht finden, wahrscheinlicher war aber, dass man ihn erst Morgen fand. Ein Kind aus der Nachbarschaft würde die grausige Entdeckung machen. Dennis Augen funkelten, als er daran dachte. Es befriedigte ihn. Aber erst mal musste er es tun. Er musste auf das Geländer steigen und springen.

Was kommt nach dem Tod? Dieser Gedanke schoss ihn plötzlich durch den Kopf. Gab es einen Gott? Einen Himmel und eine Hölle und wenn ja, würde er in Gottes Reich kommen? Dennis war zwar katholisch, war aber selten in die Kirche gegangen. Meist nur an Weihnachten und Ostern. Scheiß drauf, sagte er sich. Er stieg auf das Geländer. Wieder musste er an das Bild mit den Männern denken. Es gab den nötigen Impuls.

Hitze durchflutete seinen Körper. Er hatte ein kribbelndes Gefühl im Bauch. Der Wind fuhr ihm durchs Haar. Er atmete tief ein und aus. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod sprang er. Er schrie nicht. In der Luft breitete er die Arme aus. Es sah aus wie ein Engel, der vom Himmel fiel. Bevor er auf dem Asphalt aufschlug, wurde er bewusstlos.



P.S:

Noch ein Zitat:

> „Nach dem ersten tiefen Zug musste er husten.“

Wenn man täglich zwei Schachteln Zigaretten raucht, hustet man nicht mehr beim ersten Lungenzug. Man hustet manchmal, weil sich Schleim in den Bronchien angesammelt hatte, der zusammen mit dem eindringenden Rauch ein Verlangen nach Abhusten auslöst.
 



 
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