Ein tiefer Fall

Breimann

Mitglied
Sie hatte fast nichts getrunken, trotzdem schmerzte ihr Kopf, als sie am Morgen über den stillen Bauernhof ging. Udo schlief noch; er schlief bereits, seitdem er die Hose abgestreift hatte und schnarchend ins Bett gefallen war; er hatte die ganze Nacht Töne abgesondert, als läge er im Sterben.
„Und was hatte der sich vorgenommen!“, dachte sie spöttisch und war froh über seinen tiefen Schlaf; sie mochte keine besoffenen Männer.
Sie kannte sich aus auf dem Hof; sie wohnte seit fast drei Monaten hier; sie hatten nur noch auf den Vollzug der Scheidung gewartet, um endlich zu heiraten. Sie genoss die ländliche Stille mit ihren „Nichtgeräuschen“, wie sie immer sagte, wenn Pferde wieherten und Kühe schnaubten, die ihre Mäuler tief ins Silofutter steckten.
„Du bist saublöd!“, hatte ihre Mutter gesagt, zu der sie immer Mona sagen sollte, und ihr einen Vogel gezeigt. „In spätestens drei Monaten biste wieder hier! Wetten!“
Ihre Mutter! Sie hätte gerne Mama zu ihr gesagt, aber dann hätte es eine Ohrfeige gegeben.
„Schlimm genug, dass ich ein Kind hab, brauchst mich nicht ständig dran erinnern! Warst ein blöder Unfall, wenn du weißt, was ich meine.“
„Bildende Künstlerin“ sagte sie allen Leuten, die sie nach ihrem Beruf fragten und lachte dabei ihr rauchiges, vulgäres Lachen, das sie aus der Bar mitgebracht hatte, in der sie sich an jedem Abend auszog.
„Was ich mache, ist Kunst in Reinkultur; jeden Abend neu! Ist doch egal, wie du Geld machst! Hauptsache, du machst Geld – und zwar genug!“, hatte sie Siggi erklärt, die sich gegen Vorwürfe der Klassenkameraden wehren musste.
Als Siggi zum ersten mal in der Bar ihrer Mutter erschien, war ihre Mutter so stolz, dass sie jeden Freier zuerst zu ihrer Tochter schleppte.
„Guck sie dir an! Mein Küken! Meine jüngere Schwester Siggi! Na? Ist das was? Die macht ihr Geld bald im Schlaf!“, hatte sie gerufen und vor Lachen rau gebrüllt.
Und an diesem ersten Abend war Udo aufgetaucht. Er war mit einem Freund gekommen, saß trübsinnig an der Bar und stierte in sein Glas.
„Mach ihn an, Siggi!“, raunzte ihre Mutter sie an. „Der Junge hat Geld; ich kann´s riechen!“
„Lass mich in Ruhe, Mona! Ich bin Gast hier! Ich leg mich nicht unter ein besoffenes Schwein“, hatte sie wütend geantwortet.
„Üben! Sollst ja nur mal üben! Marktwert testen, sagt unser Chef immer.“
„Leck mich, Mona! Ich kenne meinen Marktwert! Ich will keine Nutte werden!“
Sie hatte ihn nicht angemacht, aber nach einer Stunde hatte Udo sie zum Tanz aufgefordert. Sie fand ihn sympathisch, als sie bemerkte, dass er nicht betrunken war - und sie auch nicht anmachen wollte.
„Bist du alleine hier?“, hatte er gefragt.
„Ja! Ich bin Gast hier - und nicht angestellt!“ Er hatte gelacht und sie belustigt angesehen.
„Meinst du, sonst würde ich mit dir tanzen? Ich rieche Nutten auf hundert Meter! Kann sie nicht ausstehen! Widerliches Volk!“, hatte er böse gesagt.
Sie hatten sich an einen Tisch in einer der Nischen gesetzt. Udos Freund hatte sich wohl ein Barmädchen geangelt; er war nicht mehr zu sehen.
Und dann, nachdem sie sich vorgestellt hatten, erzählte Udo von sich, beschrieb seinen Bauernhof, auf dem eine Frau keine Arbeit verrichten müsste. „Außer im Haus - wie jede Hausfrau. Ich brauch keine Magd!“
Und später, als sie eine halbe Flasche Wein geleert hatten, hatte er von seiner Frau erzählt, die ihn vor mehr als acht Monaten von einem Tag auf den anderen verlassen hatte.
„Kleider, Schuhe, Schmuck – alles hat sie mitgenommen. Ich war auf dem Feld und als ich am Abend auf den Hof fuhr, war sie weg.“
„Hatte sie Gründe?“
„Sicher! Sie hat einen Abschiedsbrief auf ihrem PC geschrieben. Sie hätte einen Freund, mit dem sie nach Südfrankreich gehen würde. Sie käme nicht mehr zurück. Ich könnte machen, was ich wollte; sie sei mit einer Scheidung einverstanden."
Am nächsten Tag hatte er den Brief genommen und war zu seinem Anwalt in der Stadt gefahren. Er hatte die Scheidung eingereicht und wartete jetzt auf den Ablauf der Frist.
„Es war schwierig. Sie wollten sie unbedingt abfragen; sie sollte Formulare ausfüllen. So ein Quark! Wie sollte ich sie erreichen? Aber jetzt ist alles klar. In vier Monaten bin ich frei!“, hatte er zufrieden gesagt.
Sie hatten ihre Adressen ausgetauscht und sich dann ein bis zwei mal in der Woche getroffen. Bei ihrem dritten Treffen waren sie auf seinen Hof gefahren. Er hatte seinen Besitz vorgeführt – ohne Stolz - und am Abend war sie bei ihm geblieben. Eine Woche später war sie zu ihm gezogen.
„Ich fass es nicht! Aufs Land willst du dumme Kuh? Du machst dein ganzes Leben kaputt!“, hatte ihre Mutter erklärt und ihr wütend beim Packen geholfen.
„Und wenn du dich erschießt! Zu deiner Hochzeit mit diesem Landei komme ich nicht! Ich kenn die Sorte Pastorentöchter und Chorgänse; ich lass mich doch von diesen alten Weibern nicht begaffen, als wenn ich drei Köpfe hätte. Heiraten musst du allein!“
Sie war tatsächlich nicht gekommen, hatte nicht einmal Glückwünsche geschickt. Die standesamtliche Hochzeit war trotzdem schön gewesen, wenn auch sehr rustikal. „Eine richtige Bauernhochzeit mit deftigem Essen, einem grandiosen Besäufnis - und aufdringlichen Burschen“, dachte sie und dabei fiel ihr immer wieder dieser hübsche, aber freche Fred ein, der sie mehrfach zum Tanz aufgefordert hatte..

Siggi ging in den Pferdestall, streichelte die rausgestreckten Köpfe; sie mochte Pferde.
Sie hatte bereits am ersten Tag die Kutsche entdeckt, und damit auch ihre Leidenschaft. An jedem Tag, an dem das Wetter es zuließ, ließ sie sich von Hubert, dem Verwalter, der auch die Tiere betreute, die Kutsche anspannen. Hubert hatte ihr auch gezeigt, wie sie ohne Hilfe auf den hoch angelegten Kutschebock kam – und ebenso wieder runter.
„Stellen sie die Kutsche hier neben den Betonsockel; da ist das Gülle-Silo drunter; da können sie bequem in die Kutsche und wieder raus.“
„Was ist ein Gülle-Silo?“
„Eine stinkige Sache! Da läuft aus allen Ställen die Schiete und die Pisse von den Tieren rein. Wenn’s voll ist, pumpen wir´s in Kesselwagen und düngen damit die Felder. Wollen sie mal reinriechen?“
„Oh Gott! Nein! Mir wird schon schlecht, wenn ich an den Gestank denke!“
Er hatte laut gelacht und etwas vom noch schlimmeren Mief in der Stadt gemurmelt. Die Betondecke war wirklich wie ein Podest; drei Betonstufen führten auf die Platte. Wenn sie die Kutsche geschickt positioniert hatte, brauchte sie nur noch einen Schritt hochsteigen, um auf den steilen Kutschbock zu kommen. Sie fuhr oft eine ganze Stunde lang völlig alleine, im Schritt-Tempo, durch die nahen Wälder oder über die ewig langen Wirtschaftswege.

Udo saß mit verkatertem Gesicht am Küchentisch und lächelte verlegen, als sie hereinkam.
„Na? Möchtest du mich verführen, Bräutigam?“
„Hör auf! Mir ist schlecht, sauschlecht“
„Nix mit Bett und so?“
„Nix mit allem! Schnapp dir die Kutsche und fahr raus. Ist doch ein Superwetter. Oh, verdammt!“
Er rannte zur Toilette, und die Würgegeräusche wollten nicht aufhören.
„Mein Gott! Wie siehst du aus!“, sagte sie erschrocken, als er sein graues Gesicht durch die Tür steckte.
„Hau ab! Fahr raus! Ich werde schon alleine fertig; bin nicht unerfahren.“
Sie blickte durch das niedrige Küchenfenster; der Himmel war blau, kaum Wind - die Blätter an der Birke zitterten nur leicht. „Er hat recht“, dachte sie und stand auf.
Hubert war nicht zu sehen; Sonntags unternahm er zwischen den Fütterzeiten oft ausführliche, lange Inspektionen der Felder.
Sie legte dem gemütlichen Braunen das Geschirr an und spannte ihn in die Kutschendeichsel. Sie führte den Braunen neben das Gülle-Silo und stieg in die Kutsche. Als sie vom Hof fuhr, lag das niedrige, alte Haus still und wie geduckt in der Sonne.
Der Waldweg begann hinter dem Maisfeld; es war einsam hier und still. Nur Vogelgezwitscher und die Geräusche der im Sand mahlenden Räder waren zu hören.
Als sie den Mann am Wegrand stehen sah, glaubte sie zuerst an eine Täuschung. Die Schattenmuster der Blätter verwischten seine Konturen; er stand reglos da.
„Fred! Was machst du denn hier?“
„Ausdünsten! Schnaps und Bier freisetzen!“
Sie musste lachen und sah ihn genauer an. Er wirkte im Vergleich zu Udo recht ausgeschlafen; sein Lächeln freute sie.
„Fährst du ein Stück mit mir? Kannst ja dabei ausdünsten.“
„Wirklich? Gerne!“, rief er und sprang mit einem großen Satz auf den Kutschbock.
Sie fuhren zunächst schweigend, genossen die laue Luft und die schattigen Waldwege. Dann spürte sie, dass er näher rückte. Durch das dünne Kleid spürte sie seine Hitze und schob sich an den Rand des Sitzes. Bei nächster Gelegenheit wendete sie, fuhr aus dem Wald heraus und nahm den nächsten Wirtschaftsweg, der zum Hof führte. Sie konnte die Gebäude schon erkennen; die Fenster blinkten im Sonnenschein, als er sie am Arm berührte.
„Ich mag dich, Siggi. Darf ich dich einmal küssen? Nur einmal! Bitte!“
Er schaute sie an wie ein großer, braver Bernhardiner und sie musste lachen. Was soll´s, dachte sie und hielt ihm die geschlossenen Lippen hin.
Er küsste sie sanft, dann drängend, schob seine Hand in ihren Nacken und sie öffnete ihre Lippen. Es gefiel ihr, und der leichte Schwindel machte sie fast willenlos. Aber als sie seine andere Hand auf der Brust spürte, schüttelte sie ihn ab.
„Schluss! Das war nicht abgemacht! Es reicht für jetzt und alle Zeit! Und wehe, du sagst ein Wort zu deinen Freunden. Wenn ich was darüber höre, sage ich, du hättest mir aufgelauert und mich vergewaltigen wollen!“
Sie hatte es mit einem drohenden Unterton gesagt; er sah sie erschrocken an und nickte.
„Kannst dich drauf verlassen! Ich mag dich und will dir nichts Schlechtes. Hier im Dorf mögen sie dich nicht. Sie sind neidisch und glauben, du wärst der eigentliche Grund, warum Moni damals abgehauen ist.“
„Was hatten sie mit Moni zu tun?“
„Sie mochten Moni, sie war von hier, aus dem Dorf; sie ist hier zur Schule gegangen. Ich weiß, dass du nicht der Grund für ihre plötzliche Abreise warst; Udo hat mir erzählt, dass sie wohl schon länger einen Freund in der Stadt hatte.“
„Wie war sie denn?“
„Sie war so schön wie du, aber sie machte alle Männer an; Udo war ständig eifersüchtig. Er soll sie einmal verprügelt haben – sagt man!“, fügte er entschuldigend hinzu.
Sie hatten nicht auf ihre Umgebung geachtet; der Braune zog gerade die Kutsche durch den Torbogen, als Udo neben ihnen auftauchte. Sie fuhren zusammen, als er sie mit sich überschlagender Stimme anschrie.
„Hab ich euch erwischt? Gestern geheiratet und heute bumst sie mit meinem Freund! Hört das denn nie auf? Verschwinde! Hau ab und komm mir nie wieder auf den Hof!“, schrie Udo und zog den völlig verblüfften Fred vom Kutschbock.
„Mit dir rede ich noch! Spann ab und komm rein!“, sagte er scharf zu Siggi, drehte sich um und verschwand im Haus. Sie saß wie erstarrt auf dem Kutschbock und konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Hü!“, sagte sie dann leise und schlug dem Braunen ungewohnt heftig die Zügel auf den Rücken. Wie in Trance rangierte sie die Kutsche neben das Silo, wickelte die Zügel um die Brüstung und sprang aus der Kutsche.
Sie fiel und fiel; es wollte nicht aufhören!
Dann kam alles gleichzeitig: Ein irrer Gestank, schlüpfrige Nässe, über dem Kopf zusammenschlagende Gülle.
Sie schluckte tief und wollte entsetzt schreien; sie wusste instinktiv, dass sie den Mund voller Scheiße hatte. Sie tauchte durch den Sprung fast bis auf den Boden und erst als sie wieder hoch kam, wurde ihr Entsetzen vollständig. Sie war in das Gülle-Silo gestürzt!
„Neiiiin!“, gurgelte sie.
Sie sah ein dämmriges Licht über sich. Im Rücken spürte sie die nasse, glatte Betonwand des Schachtes; ihre Hände stießen an die gegenüberlegende Wand. Ihre Augen waren verklebt; in der Nase war Gülle, die sie schnaubend ausprustete.
Sie strampelte mit den Füßen wie im Schwimmbad, um nicht wieder einzutauchen. Gleichzeitig suchten ihre Hände mit panischen Bewegungen nach einem Absatz in den Schachtwänden. Da war nichts!
Weiter! - Nichts! Nur glitschige Nässe! Die anderen Seiten! Da musste doch eine Leiter sein! Nichts! Sie stieß sich den Kopf an der Wand, tauchte unter, schnappte nach Luft und schluckte wieder Gülle. Der Gestank machte sie fast wahnsinnig. Ihre Beine wurden immer schwerer; dann fiel ihr ein, dass sie um Hilfe rufen musste.
„Hilfeeeee! Udoooo! Udoooo! Hilfeeeee “
Sie strampelte, schrie, ihre Hände rasten über die Wände, suchten nach einem Halt. Sie betete, wild und in Bruchstücken! Sie schwor! Sie weinte und schrie immer leiser.
Dann - nach langer Zeit - kam alles fast gleichzeitig: ihre Beine verkrampften, ließen sich nicht mehr bewegen, die Arme sackten schlaff, gefühllos herunter, tauchten in die Gülle, ihr Kopf war wie vernebelt und aus ihrer Verzweifelung wurde willenlose Ergebenheit.
„Ich ertrinke in Kuhscheiße!“, dachte sie noch, dann sackte sie weg, hing schlaff in der dicken Brühe. Ihre langen Haare schwammen auf der Gülle und sahen nicht mehr blond aus.

Udo hatte wütend auf sie gewartet, war dann, noch immer leicht benebelt, eingeschlafen. Als er wach wurde, stand er taumelnd auf und öffnete das Küchenfenster. Er sah den Kopf des Braunen, der ruhig, wie eine Wachsfigur im Hof stand. „Mist! Wo ist das Weib!“
Er stürmte raus und im Laufen begriff er schon, dass da was nicht stimmte. Er erblickte die leere Kutsche neben dem Silo, sah das Loch vom Siloschacht, entdeckte den Deckel, der einige Meter weiter lag, - und wusste es! Er rannte und schrie: „Siggi! Siggi!“
Er stürzte sich auf den Betonboden, der ihm Arme und Schienbeine verschrammte. In der Dunkelheit des Gülleschachtes konnte er zunächst nichts erkennen; dann, als sich seine Augen gewöhnt hatten, sah er die Haarsträhnen.
„Siggi!“, schrie er erneut, hängte sich über den Rand, versuchte ihre Haare zu fassen. Er hatte keine Chance, da fehlte eine Menge. Er sprang auf, raste in den Stall, griff einen langen Eisenhaken und sprintete zurück. Der Haken verfing sich in ihrem Kleid, riss sicher auch ihre Haut auf. Er hatte sie! Mit aller Kraft zog er, bekam sie hoch, fasste ihren Arm, ließ den Haken in die Gülle fallen und zog sie, nach hinten stürzend, auf sich.
Er wusste, dass sie tot war! Er blieb liegen, sah in das grelle Licht der Sonne, fühlte ihren Körper auf sich liegen und schmeckte die Gülle, die von ihren Haaren in sein Gesicht lief.
Er legte sie langsam, sanft, als wollte er sie vor Verletzungen schützen, an die Seite, stand auf und fiel wieder hin; seine Beine waren ohne Kraft.
Er kniff die Augen zu, blieb noch einige Minuten liegen, atmete tief und als er die Augen wieder öffnete, sah er in die grünen Augen von Siggi. Ihr Gesicht lag dicht vor seinem. Ihre Haut war bräunlich gesprenkelt, wässerige Gülle lief langsam über die starren Pupillen. Jetzt konnte er endlich aufstehen. Er taumelte, schlingerte, war ohne einen klaren Gedanken. Dann stand er vor dem Telefon, griff den Hörer und wählte 112.
„Unfall! Meine Frau! Ertrunken! Kommen sie schnell! – Ach so! Merler Hof!“
„Scheiße! Scheiße!“, dachte er. „Was ist da passiert? Wer hat das gemacht?“
Er ging erst raus, als Polizeiwagen, Feuerwehr und Notarzt durch die Hofeinfahrt fuhren; mit einem gequälten Heulton verstummten die Sirenen.
Teilnahmslos stand er dabei, als der Arzt Siggi untersuchte. Sie fotografierten ohne Unterbrechung; sie machten Fotos vom Hof und vom Silo, von der Kutsche, die vom Braunen abfahrbereit gehalten wurde, vom Braunen, der beim Blitz mit dem Kopf ruckte, von Siggi aus allen Positionen, von dem Loch im Silo, und zum Schluss vom Deckel.
Niemand sprach mit ihm. Dann kam der Leichenwagen und Siggi wurde in einen Blechsarg gelegt.
„In die Rechtsmedizin!“, forderte ein ziviler Polizist, der wohl nicht älter war als Udo.
Der Hof leerte sich schnell. Als Feuerwehr-, Notarzt- und Einsatzwagen der Polizei durchs Tor verschwunden waren, stand nur noch ein Zivilwagen neben der Kutsche. Der Braune ließ ergeben den Kopf hängen, scharrte hin und wieder mit den Vorderhufen im staubigen Hofbelag. Dann erst entdeckten sie Udo - wenigstens taten sie so.
„Sie sind Udo Merler?“
Er nickte und schwieg. Sie standen zu Dritt um ihn herum, belauerten ihn, sahen abschätzend auf ihn herunter. Er saß immer noch auf der Kante des Silos, dicht neben der Treppe.
„Jetzt erzählen sie mal! Was ist passiert?“
Er sah in die teilnahmslos wirkenden, jungen Gesichter. „Wir haben gestern geheiratet.“
„Oh! Das tut mir leid“, sagte der junge Beamte und lächelte blöde.
„Wer sind sie denn überhaupt? Sie haben sich nicht vorgestellt!“, sagte Udo ärgerlich.
„Ach so! Wir sind aus der Kreisstadt. Kripo. Mein Name ist Jürgens, das ist Bolder und der Kleine ist Hansen.“
„So was hab ich noch nie erlebt – und das will was heißen! Also, wie kommt ihre Frau in dieses Silo? Haben sie eine Erklärung dafür?“, fragte der Kleine.
„Nein. – Doch! Sie ist aus der Kutsche gestiegen und in den Schacht gefallen.“
„Aha!“
„Aha! Aha! Sie stieg immer so aus der Kutsche! Sie sehen doch, dass die Kutsche noch immer da steht!“
„Ja gut. Kann nicht mal einer den Gaul von der Kutsche befreien?“
„Mein Verwalter, kommt gleich. Er ist unterwegs. Dem Braunen macht das nichts aus.“
„Meinetwegen. Wo waren sie, als das passierte?“
„Ich hab geschlafen; ich war müde von der Feier – und mir war schlecht; es war spät gestern.“
„Und ihre Frau war alleine mit der Kutsche unterwegs? Und hat alleine die Schachtabdeckung geöffnet?“
„Ja – nein! Die Schachtabdeckung wohl nicht; der Betondeckel ist zu schwer für sie.“
„Sieh an! War er denn schon auf - der Schacht -, als ihre Frau abfuhr?“
„Ich glaube nicht; ich weiß nicht; ist ja Sonntag heute; wer sollte den öffnen – und wozu?“
„Sehen sie! Da haben wir schon die gleichen Zweifel!“
„Was für Zweifel?“
„Am Unfalltod ihrer Frau“, sagte Jürgens im Wegdrehen.
„Haben sie vor, zu verreisen?“, fragte Bolder, der blass aussah.
„Nein, wieso?“
„Wir brauchen sie noch. Bleiben sie auf dem Hof!“
„Und morgen kommen sie vor Mittag - mit ihrem Verwalter - ins Präsidium“, ergänzte der Beamte Hansen und gab ihm eine Visitenkarte.

Sie waren längst verschwunden, als Hubert durchs Tor kam. Er ritt den Falben, der ihm von Udos Vater geschenkt worden war.
„Guten Morgen! Ausgeschlafen?“
Udo saß noch immer auf der Silotreppe, hatte aber inzwischen den Braunen von der Kutsche befreit und in den Stall gebracht.
„Komm her, Hubert!“, sagte er scharf.
Mit gerunzelter Stirn stakste Hubert auf ihn zu, zog den Falben hinter sich her.
„Is was?“
„Setz dich! Es hat einen Unfall gegeben. Siggi – Siggi ist tot! Sie ist aus der Kutsche gestiegen und ins Silo gestürzt.“
„Nein!“
„Doch! Die Polizei war hier. Der Deckel war nicht auf dem Schacht! Hast du ihn weggenommen?“
Er sah hart in das blasse Gesicht seines Verwalters, dessen Augenlider wild zuckten.
„Das stimmt doch alles nicht! Du machst Scherze!“
„Doch, es stimmt! Ich bin seit gestern verheiratet und seit heute Witwer!“ Er lachte freudlos, gekünstelt und schlug die Faust heftig aufs Knie.
„Sag was! Hast du den Deckel weggenommen? Du musst es gewesen sein! Es war kein anderer auf dem Hof!“
Das Zucken hatte sich verstärkt und sein Mund ging sinnlos auf und wieder zu. Er würgte und blickte zum Schacht und dann zum Deckel, der mehr als zwei Meter weiter weg lag.
Dann fand er seine Sprache wieder: „Sie ist ertrunken? In der Scheiße ertrunken? Oh, mein Gott! Gibt es etwas grausameres? Warum? Wieso? Warum ist sie alleine weg gewesen? Was ist passiert? Ihr habt doch noch geschlafen, als ich wegritt.“
„Sie nicht, sie wollte an die Luft; mir war noch sauschlecht!“
„Aber ich hab den Deckel nicht angehoben“, flüsterte Hubert stockend und Udo fühlte etwas, was er von Hubert nicht kannte.
„Sag die Wahrheit! Du hast ja keine Schuld. Niemand macht dir einen Vorwurf. Hast du den Güllestand geprüft und vergessen, ihn wieder drauf zu tun?“
„Nein! Nein! Hab ich nicht!“ Udo spürte Panik, Entsetzen – und Angst.
„Wir müssen morgen ins Präsidium. Sie wollen uns verhören; sie glauben nicht an einen Unfall.“

Sie fuhren nach dem Mittagessen in die Stadt. Im Präsidium wurden sie schon erwartet; die drei Beamten vom Vortag saßen an ihren Schreibtischen und sahen ungeduldig und ärgerlich aus.
„Wer sind sie?“
„Hubert Felger. Verwalter bei Herrn Merler.“
„Gut! Also haben sie überlegt, wer den Deckel entfernt haben könnte?“
„Ja“, sagte Udo und sah Hubert an. „Wir wissen es nicht.“
„Keine Idee?“
„Nein! Verdammt! Der Hof war unbewacht; da konnte jeder rein und den Deckel wegnehmen!“
„Wozu? Um Scheiße zu klauen?“
Sie schwiegen; die Beamten drehten Bleistifte und sahen vor sich hin. Dann stand der junge Beamte, der sich als Jürgens vorgestellt hatte, auf. Er stellte sich dicht vor den Stuhl von Udo und sah auf ihn herunter.
„Gab´s Streit zwischen ihnen und ihrer Frau?“
„Was? Wir waren erst ein paar Stunden verheiratet! Nein! Verdammt noch mal! Was wollen sie mit dieser Frage?“
„Noch einmal! Gab es gestern Streit zwischen ihnen?“
„Und ich sage ihnen noch einmal: Nein! Nein! Nein!“
„Aha! Wir haben da was anderes gehört. Hatten sie sich nicht einen Riesenstreit, weil sie mit ihrem Freund rausgefahren ist? Haben sie keinen Wutanfall bekommen, weil sie gesehen haben, wie sie sich geküsst haben?“
„Was? Moment mal! Wer hat wen geküsst? Wer hat ihnen das erzählt?“
„Der, der sie geküsst hat! Geben sie´s doch zu! Sie haben ihn vom Kutschbock gezogen und verjagt – und dann ihre Frau bedroht.“
„Fred!“
„Richtig! Fred Burger! Er ist ein wunderbarer Zeuge; hält nichts hinter dem Berg. Ist ihre erste Frau nicht verschwunden, weil sie durch ständige Wutanfälle und Prügel wegen angeblicher Untreue genervt war?“
„Nein! Dorfgeschwätz! Sie hatte einen anderen!“
Was wissen sie darüber, Herr Felger?“
„Ich? – Nichts. Da war nie was.“
„Na gut. Haben sie sonst etwas bemerkt? Haben sie jemanden auf dem Hof gesehen, der da nicht hin gehörte? Haben sie Siggi Merler und ihren Freund, diesen Fred Berger, zusammen gesehen?“
Nein, nichts hab ich gesehen.“
„Gut! Sie können gehen.“
„Und mein Chef? Kann ich auf ihn warten?“
„Da müssen sie lange warten, befürchte ich. Sie werden vorläufig auf ihn verzichten müssen.“
Hubert ging rückwärts raus, tastete blind nach der Klinke und ließ keinen Blick von seinem Chef, der mit gesenktem Kopf auf dem Stuhl hockte.

Sie hatten ihn tatsächlich in U-Haft genommen; ein Richter hatte sofort den Haftbefehl ausgestellt. Er hatte zwar seinen Anwalt kommen lassen, aber der alte Hassel hatte keine Entlastung vorbringen können; nur die Tatsache, dass sie doch erst am Vortag geheiratet hatten. Das hatte den Richter schmunzeln lassen; er hatte wohl schon ganz andere, wesentlich bessere, Entlastungsversuche erlebt..
Sie waren allein im Besucherzimmer; Udo durfte mit seinem Anwalt die Untersuchungsergebnisse durchsprechen.
„Sie haben am Körper von Siggi Verletzungen gefunden, die nicht vom Sturz stammen können, sagen sie“ erklärte der Anwalt.
Seine Hände zitterten, als er die Unterlagen aus der Tasche zog. Er schichtete sie ordentlich auf und begann zu blättern.
„Sie haben noch weitere Zeugen gefunden, die aussagen, dass du Moni geschlagen hast. Sie suchen sie jetzt mit Interpol, wollen ihre Version hören.“
„Was wollen die mit Moni? Was hat die damit zu tun? Was wollen die mir anhängen? Mord? Ich habe Siggi nicht getötet. Bei allem, was mir heilig ist!“
Sie brüteten und fanden keine Erklärung, keinen Ausweg. Die Indizien schienen lückenlos und passend zu sein.
„Als hätte einer dran gedreht“, seufzte Udo.

Am dritten Hafttag kam seine Mutter. Sie hatte sich ihr bestes Kleid angezogen; ihr hartes Gesicht sah aus, als wäre es aus Stein.
„Hör zu! Du warst es nicht! Das wissen alle! Aber die Bullen wollen dir was anhängen! Das lassen wir uns nicht gefallen. Ein Merler lässt sich von so einem Pack nicht verunglimpfen. – Und du auch nicht! hast du gehört?“
„Ich hab es gehört, Mutter! Aber was willst du tun?“
„Es muss doch was geben, was dich entlastet!“
„Keiner glaubt, dass Siggi alleine ins Silo gestürzt ist. Keiner glaubt, dass ein Unbekannter den Deckel entfernt hat. Keiner glaubt mir, dass ich mit Siggi glücklich war!“
„Das letzte glaube ich auch nicht! Du weißt, wo sie herstammt. Sie war ein Flittchen wie ihre Mutter. Und sie hat dich geangelt, weil du reich bist; sie wollte Geld – dein Geld, mein Lieber!“
„Glaub, was du willst! Du hast keine Ahnung von uns, - von Siggi. Du kanntest sie doch gar nicht! Wir haben uns geliebt; das ist das Einzige, was stimmt!“
„Und dass sie deinen Freund als Geliebten hatte? Dass sie dich am Tag nach der Hochzeit schon betrogen hat? – Und wer weiß, wie oft schon vorher!“
„Alles gelogen! Hör auf! Und verschwinde! Es reicht mir!“

Die Tage in der U-Haft schlichen dahin. Das frühe Tageslicht weckte ihn und er saß dann teilnahmslos auf dem Bett bis zum späten Abend. Sein Essen rührte er kaum an, schlich sofort wieder aus dem Essensraum in die Zelle.
Nach einer Woche teilte ihm sein Anwalt mit zittriger Stimme mit, dass die Ermittlungen abgeschlossen seien. Er müsse schon bald mit dem Prozess rechnen.
„Sie klagen dich an wegen Mord aus niedren Beweggründen! Nimm dir einen jungen, erfahrenen Anwalt, Udo. Ich bin zu alt – und ich hab mit solchen Sachen keine Erfahrung. Für deinen Vater ging es meist um kleine Sachen; Diebstahl, Grundstücksdinge und Betrug. Ich reite dich nur tiefer rein. - Die Sache steht schlecht!“
Udo hatte während der ganzen Nacht nicht geschlafen; seine Gedanken hatten ihn wach gehalten. Er wusste zu gut, wie es stand und was passieren würde. Als die Morgendämmerung grau durchs Fenster gekrochen war, hatte er endlich Klarheit gehabt. Er hatte von diesem Augenblick an eine seit langer Zeit nicht mehr erlebte Ruhe verspürt.
„Vielleicht ist das alles kein Zufall“, hatte er geflüstert und sich dann für die notwendigen Entscheidungen vorbereitet.
Er sah seinen Anwalt lange an und schüttelte den Kopf.
„Ich will keinen anderen Anwalt. Du machst es, so gut du kannst. Und mach keinen Wirbel! Sie werden mich verurteilen - unschuldig verurteilen! Sie werden auf Mord oder Totschlag erkennen und mich für etliche Jahre in den Knast schicken.“
„Verdammt, Junge! Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du darfst nicht aufgeben!“
„Ich hab ja nicht aufgegeben. Ich will es so, wie ich´s gesagt habe!“

Es wurde schon früh dunkel. Der Herbst schnibbelte kräftig an den Tagen herum, machte sie kurz und die Zeiten der Dämmerung, in denen man in seine Gedanken versank, unendlich lang.
Udo zog seine Jacke enger; er fröstelte und er fühlte sich elend. Er schlurfte mit gehörigem Abstand hinter dem Vollzugsbeamten her, der die trennenden Türen geräuschvoll öffnete und schloss; der Schlüsselbund rasselte dabei in immer gleichen Tönen.
Hassel, sein Anwalt wartete auf ihn, wischte fahrig mit den Händen über die Platte des Tisches, der mitten im kahlen, viel zu großen Raum stand.
„Junge! Du siehst schlecht aus! Wir machen uns Sorgen; deine Mutter schläft nicht mehr, sie rennt ständig zum Arzt.“
„Das ist doch nichts Neues! Bist du deshalb gekommen?“
„Nein! Sei nicht so bitter; versuch doch zu verstehen, dass du nicht alleine unter dem Urteil und diesen Umständen leidest.“
„Ach? Leidet noch jemand? Warum? Nur ich hab ein Recht auf Leiden! Zehn Jahre sind lang; netto sind´s zehn Jahre, sagtest du. Stimmt´s?“
„Ich sag´s ja: du bist verbittert! Ja! Zehn Jahre sind lang. Das ist der Grund, warum ich hier bin. Ich möchte dich bitten, nochmals über einen Revisionsantrag nachzudenken; es gibt doch neue Fakten!“
„Unwichtige! Das Geständnis von Hubert, dass er den Deckel abgedeckt hatte, ändert doch nichts!“
„Doch! Jetzt wird ein Unfall wahrscheinlicher! Er hat ihn einfach vergessen, als er wegritt.“
„Ach was! Mach dir doch nichts vor! Ich hatte dadurch nur die bessere Gelegenheit! Ich brauchte sie nur in die vorbereitete Falle zu werfen! Basta!“
„Weißt du denn, was der Richter sagen wird? Greif ihm doch nicht vor! Wir sollten die Möglichkeit wenigstens nutzen!“
„Nein! Endgültig nein!“
„Verdammt, Junge! Warum nicht?“
Sie schwiegen sich an, fanden keine Möglichkeit mehr, das Gespräch fortzusetzen. Durch das vergitterte Fenster fiel ein Streifen weißes Licht von der Hoflampe; es war schon dunkel draußen. Udo wollte zurück in seine Zelle, suchte nach einem passenden Schlusswort. Er blickte den alten Mann an, erforschte seine Miene, erkannte Resignation und auch Trauer. Er tat ihm plötzlich leid, dieser grundehrliche, einfache Anwalt, der sich schuldig fühlte, weil er nicht clever genug war. Als er die Hilflosigkeit des Mannes erkannte, da war er entschlossen; er musste es ihm sagen.
„Hör zu! Du bist doch noch mein Anwalt. Stimmt´s?“
„Sicher. Warum?“
„Du wirst über das, was ich dir jetzt sage, für immer schweigen! Wirst du?“
„Wenn du es willst, - ja.“
„Ich muss mit jemandem darüber sprechen. Mit Mutter geht das nicht; die bekäme Schreikrämpfe.“
„Also los! Was ist es für ein Geheimnis. Hat es damit zu tun, dass du keine Revision willst?“
„Ja. Ich sitze hier für eine Tat, die ich nicht begangen habe. Wirklich nicht! Das weißt du! - Und ich büße damit für eine Tat, die ich sehr wohl begangen habe.“
„Muss ich das verstehen?“
„Wirst du gleich, warte! - Moni hat mich nicht verlassen! Moni ist tot! Ich habe sie ermordet; sie liegt unten im Gülle-Silo – seit einem Jahr schon.“
„Udo! Du verrennst dich; bist du noch normal?“
„Sicher! - Soweit ich das beurteilen kann. Also, hör zu! Moni hat mich nach Strich und Faden betrogen, immer wieder. An dem Tag, als es passiert ist, kam sie erst am Morgen aus der Stadt. Ich hab gerade Gülle abgepumpt, als sie auf den Hof fuhr. Sie rümpfte die Nase und wollte grußlos ins Haus. Ich hab sie festgehalten, wollte sie zur Rede stellen. Weißt du, was sie gesagt hat? Verschwinde, du stinkiger Güllebauer! Lass mich in Ruhe, ich bin müde.“
„Aber...? So war Moni doch nie. Ich kenne sie schon als kleines Kind; mach mir nichts vor!“
„Nichts weißt du von ihr! Keiner hat sie gekannt! Sie war... Ach, Mist, es ist egal. Ich hab die Beherrschung verloren, ich war wahnsinnig vor Wut. Erst hab ich ihr meine von Gülle verschmierten Hände ins Gesicht geschlagen, immer wieder – und dann hab ich sie am Hals gefasst. Lange, lange. Ich hab ihr dabei in die Augen gesehen. Ich hab gesehen, wie sie starb; ich hab zugesehen! Es hat mir plötzlich Spaß gemacht; sie hat gelitten und sie wusste, dass sie sterben würde!“
„Mein Gott! Du hast sie wirklich getötet!“
„Ja. Verstehst du endlich? Ich hab ihr danach vier von den neuen Randsteinen um den Leib gebunden und sie in die Gülle geworfen. Weißt du, was scharfe Gülle mit einer Leiche macht? Ich war jedenfalls von dem Augenblick an, als sie wegsackte, völlig klar und ruhig. Ich glaub sogar, ich hab laut gelacht. Ich war sie los!“
„Udo! Du hast einen Menschen getötet!“
„Na und? Sie war selber schuld; sie hat´s nicht anders gewollt! Der Rest war einfach. Ich hab auf ihrem PC den Abschiedsbrief geschrieben, ihre Unterschrift durchgepaust, ganz fein, und dann nachgemalt. Alle ihre Sachen hab ich ins Auto gepackt: Schuhe, Toilettensachen, Wäsche, Kleider, einfach alles. Dann bin ich bis nach Köln gefahren und hab die Sachen auf Kleider-Container vom Roten Kreuz verteilt. Die Papiere – Ausweis, Pass und Führerschein - hab ich verbrannt. Den Schmuck hab ich ins Silo geworfen, der gehörte ihr ja. So ist es gelaufen, - so einfach war alles.“
Sein Anwalt war blass; er stierte auf die Tischplatte, auf der sich vertrocknete Kringel von Wassergläsern abzeichneten. Draußen weit weg, hörte man kurz eine Autohupe. Udo schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
„Verstehst du jetzt? Ist jetzt alles klar? Gilt diese Strafe nicht auch als Vergeltung für den tatsächlichen Mord?“, fragte er nicht einmal bitter.
Er bekam keine Antwort. Als er an die Tür klopfte, um wieder in die Zelle gebracht zu werden, saß sein Anwalt noch immer da, als sei er erstarrt.
 
S

Sohn des Rhein

Gast
Hallo Breimann,

ein sehr düsterer, und, wie ich finde, sehr guter Text. Die beiden Hauptpersonen kommen sehr gut heraus, wirken jederzeit überzeugend und besitzen tragische Qualität. Die Wendung am Ende kommt etwas unvorbereitet, vielleicht könnte man das etwas besser vorbereiten. Vielleicht ist auch die Symmetrie- beide Frauen im Gülle-Silo- etwas zu stark, das Ganze riecht dadurch fast nach einem Akt göttlicher Gerechtigkeit- so interpretiert Udo das ja auch, aber es ist etwas zu dick aufgetragen- für meinen Geschmack.

Aber auf jeden Fall eine beeindruckende Geschichte!

Viele Grüsse,
Sohn des Rhein
 

Breimann

Mitglied
Göttliche Gerechtigkeit?

Die Frage sei erlaubt: Gibt es göttliche Gerechtigkeit? Es gibt - unbestreitbar wohl - Zufälle! In dieser Geschichte ist gerade dieser Zufall das Schlüsselstück, die "Gerechtigkeit" als Zufallsergebnis. Skurril? Göttlich? Wie auch immer, es kann sich so ereignen - und ich freue mich über das Lob, das den Schreibstil betrifft.

PS: Ich bin stark beschäftigt und hab zu spät auf den Kommentar reagiert! Wird nie mehr vorkommen, denn jetzt bekomme ich bei jedem Kommentar eine Email von der LL.
Liebe Grüße
eduard
 



 
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