Ein Weihnachts-Keks für Helen

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Karina

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Helen saß eingesunken auf der Küchenbank und bewegte ihren Oberkörper langsam vor und zurück.
Dort, wo normalerweise immer etwas herumlag, ein paar Küchenutensilien, irgendwelche Zeitungsausschnitte, vereinzelte Krümel vom letzten Frühstück und meistens eine Schale mit frischem Obst, stand jetzt ein unberührtes Glas Rotwein auf dem blank geschrubbten Holztisch.
Tränen liefen über Helens Gesicht. Sie fühlte sich einam und allein. Christian war nicht mehr da. War einfach ohne Ankündigung gegangen.
Als sie abends von einem Treffen mit ihren Freundinnen zurückgekommen war und sie wie üblich hoch rief, "bin wieder da", kam nichts. Es war stiller als sonst gewesen. Nicht die friedvolle entspannte Ruhe, wenn alles schlief. Es war eine beunruhigende Stille, die wie eine eisige Welle durch das Haus schwappte und jede Ritze mit Kälte füllte.
Helen hatte Christian tot aufgefunden. Sein Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Das Bild, wie er vor dem Fernseher zur Seite gekippt war, tat nach Monaten noch genauso weh und wollte einfach nicht verblassen.
Es war das erste Weihnachten ohne Christian. Eigentlich hatte Helen sich fest vorgenommen während dieser Zeit stark zu sein und die schmerzhaften inneren Bilder, zumindest vorübergehend, zu schließen. Gestern, am Heilig Abend, gemeinsam mit ihren Kindern und Enkelkindern, war es ihr auch recht gut gelungen.
Nun aber saß sie mutlos in der Küche und wusste nichts mit sich anzufangen. In den letzten Jahren fanden Christian und sie es schön, am ersten Weihnachtstag immer in Ruhe für sich zu sein, und genau diese Tradition wollte sie unbedingt im stillen Gedenken fortsetzen.
Doch jetzt, so ganz allein in dem großen Haus, erschien ihr alles als unüberwindbar. Sie befand sich in einer Endlosschleife aus Bildern, Gedanken, Vermutungen und Schuldgefühlen gefangen. Und je mehr sie dagegen ankämpfte, desto enger wurde es in ihrem Körper.
Obwohl die Heizung lief und das Licht an war, kam ihr die Küche kalt und dunkel vor. Sie wusste nicht, wie lange sie dort schon saß. Die Zeit schien still zu stehen. Sie fühlte sich wie eingefroren und glaubte, nie wieder aufstehen zu können.
Was war das? Ein Rascheln, fast wie ein Flattern, riss sie plötzlich aus der Gedankenschleife. Sie schaute sich kurz um. "Ach, ich hab wohl nur geträumt", dachte sie und schaukelte wieder vor und zurück.
Schon wieder das merkwürdige Flattern, nur dieses Mal viel deutlicher. Helen blickte erschrocken hoch und traute ihren Augen nicht. Genau ihr gegenüber bewegten sich zwei riesige Flügel. "Bin ich jetzt verrückt", fragte sie sich, als gleich darauf eine leise, jedoch sehr klare Stimme den Raum erfüllte. "Du bist nicht verrückt, ich bin wirklich ein Engel."
Ein Engel, überlegte Helen. Gut, als Kind hatte sie daran geglaubt, manchmal war sie sogar sicher gewesen, welche zu sehen. Aber jetzt? Sie drückte ganz fest ihre Augen zu, öffnete sie wieder vorsichtig und sah nun ganz deutlich eine feingliedrige Gestalt mit riesigen Flügeln auf dem Rücken.
"Ich weiß, meine Flügel sind viel zu groß für deine kleine Küche. Eigentlich bin ich ja auch ein Draußen-Engel, besonders geeignet für lange Strecken, aber als ich durch deinen Garten flog, sah ich dich durch das Fenster und es war so dunkel und einem um dich herum. Und nun bin ich hier."
Helen blieb stumm und blickte ungläubig auf die Gestalt, die angeblich ein Engel sein sollte.
"Was ist hier los", fragte sie sich. "Bin ich jetzt einfach nur verwirrt oder sitzt mir wirklich ein Engel gegenüber?"
"Doch, doch, ich sitze hier vor dir und ich habe dir auch etwas mitgebracht."
Ein kleiner runder Keks lag mit einem Mal auf dem Küchentisch. Staunend schaute Helen darauf.
"Wenn du ihn langsam isst, dann hilft er dir, auch wieder Licht in deinem Leben zu sehen", vernahm sie die leise klare Stimme und spürte dabei einen herausfordernden Blick auf sich ruhen. Einen kurzen Moment zögerte Helen, dachte dann aber, "was kann schon passieren", und aß, wie empfohlen, langsam den Keks.

Helen wusste nicht, was passiert war, nur dass sie sich jetzt in ihrem weichen Sessel im Wohnzimmer wieder fand. Obwohl ihr alles wie eine Ewigkeit vorkam, zeigte die große Wanduhr, dass erst wenig Zeit vergangen war.
Viel heftiger als sonst, war sie innerlich furchtbar aufgewühlt. Hilfesuchend schaute sie sich um. Doch niemand war da, selbst den Engel konnte sie nirgendwo entdecken. Dafür quälten sie Ereignisse aus naher und ferner Vergangenheit. Tapfer kämpfte sie dagegen an, aber die Unruhe nahm bedrohlich zu. Schmerzhafte Bilder und Gedanken drangen unhaltbar tief in ihr Inneres, so als ob mit einem Mal jede Zelle davon befallen wäre und zuletzt das Gefühl blieb, nur noch aus Schmerzzellen zu bestehen. Immer wieder stemmte Helen sich dagegen und hielt sich angestrengt an den Armlehnen fest. Doch je mehr sie sich wehrte, desto stärker wurde der innere Druck. Schweiß drang aus allen Poren und unaufhörlich strömten Hitzewellen durch ihren Körper.
"Ich kann nicht mehr und ich will auch nicht mehr", stöhnte sie. Vorsichtig schloss sie die Augen, ließ alles geschehen und fühlte, wie ihr Körper langsam erschlaffte.

Es war still. Helen hörte nur ein zartes Flattern und spürte einen leichten Windhauch. Ihr war wohlig warm. Behutsam rutschte sie im Sessel hin und her und bemerkte, dass nichts mehr weh tat und ihr Kopf klar und frei war.. Sie atmete tief durch, schaute an sich herunter und ihr kam es vor, als hätte sie, wie bei einer schweren Erkrankung, jeden quälenden Schmerz ausgeschwitzt.
Sie sprang auf und wunderte sich über ihre Leichtfüßigkeit. Misstrauisch lief sie immer wieder durch alle Räume, doch die Leichtigkeit blieb.
"Die Treppe", schoss es ihr durch den Kopf, "jetzt wird es sich zeigen."
Normalerweise hatte sie sich in letzter Zeit wie eine stöhnende alte Frau hochbewegt und über die hässliche Treppe geschimpft. Doch jetzt lief sie ohne zu pusten mehrfach rauf und runter und war überrascht, sogar zwei Stufen auf einmal nehmen zu können und dabei gleichzeitig noch die wunderschöne Maserung des alten Pich-Pine-Holzes zu erkennen.

Helen saß wieder an ihrem Küchentisch. Sie schaute aus dem Fenster und beobachtete die winzigen, glitzernden Eiskristalle, die sich auf der alten Tanne gebildet hatten.
"Wie schön, dieser winterliche Frieden", dachte sie und freute sich tiefversunken über diesen Augenblick.

Da war doch wieder das merkwürdige Flattern? Mit einem Mal fühlte Helen sich hellwach und gleich darauf erblickte sie auch schon den Engel. Erfreut schaute sie ihn abwartend an.
"Ich wollte mich nur von die verabschieden", hörte sie seine Stimme und dachte für sich, eigentlich schade, aber sicherlich gab es für ihn da draußen noch sehr viel zu tun.
"Ja, draußen warten noch einige Seelen, die meinen Beistand brauchen und außerdem, fügte er schmunzelnd hinzu, "werden meine Flügel schon ganz unruhig, sie möchten nämlich lieber draußen durch die Weite fliegen".
"Das ist völlig okay, ich hätte zwar gerne die Entenbrust mit ihm geteilt, aber ich kann diese auch alleine genießen", überlegte Helen und erlebte eine tiefe Dankbarkeit in sich.
"Ich spüre deinen inneren Frieden und sehe das Leuchten in deinen Augen....und die Entenbrust, naja, einfach mal schauen, was kommt".
Helen lauschte noch den Worten der leisen, klaren Stimme, aber den Engel konnte sie schon nicht mehr sehen. So plötzlich wie er erschienen war, so schnell war er auch wieder gegangen.

Die Entenbrust brutzelte im Backofen. Im Wohnzimmer leuchtete der kleine Weihnachtsbaum. Der Tisch war festlich gedeckt. Leise Musik spielte. Helen hatte es sich gerade gemütlich gemacht, als es plötzlich an der Haustür klingelte.
"Weihnachten soll keiner allein sein", begrüßten ihre drei besten Freundinnen sie herzlich und kamen hereingestürmt. Es war ein fröhliches Miteinander am Tisch. Alle hatten großen Appetit und probierten von der knusprigen Ente und den mitgebrachten Köstlichkeiten.
Helen strahlte. Sie war glücklich, ihre Freundinnen um sich zu haben. In Zukunft, dachte sie, werde ich mich auch nicht mehr darum bemühen, Weihnachten allein zu verbringen.

"Sag einmal Helen", hast du denn auch eine Kleinigkeit zu Weihnachten bekommen", wollten die drei Frauen wissen.
Sie überlegte einen Augenblick.
"Ja, es war wirklich nur eine Kleinigkeit, aber dafür auch wirklich etwas Besonderes". Ihre Freundinnen schauten sie neugierig an.
Plötzlich glaubte Helen, wieder ein zartes Flattern zu hören und einen leichten Windhauch zu spüren. Schmunzelnd blickte sie in die Runde.
"Dieses Jahr, stellt euch vor, hat mir doch tatsächlich ein Engel einen kleinen Weihnachtsmarkt-Keks geschenkt".
 
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Hallo Karina,

das ist eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte, ohne Kitsch, die ich sehr gerne gelesen habe.

LG SilberneDelfine
 
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