Ein Weihnachtserlebnis
Moskau im Dezember 1998 - Sergeij lag in einer Seitengasse der belebten Einkaufsstraße und suchte verzweifelt nach etwas Essbarem oder Wärmenden oder , wenn es die Vorsehung gut mit ihm meinen sollte , auch nach Beidem . Sergeij gehörte zu den unzähligen obdachlosen Kindern die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in jeder russischen Großstadt zum Straßenbild gehören wie die Türme der orthodoxen Kirchen . Er war gerade einmal 8 Jahre
alt , hatte in seiner nun schon 2 Jahre anhaltenden Straßenkarriere aber schon mehr schlimme Dinge gesehen und erlebt als es einem durchschnittlichem westlichen Kind normalerweise in seinem gesamten Leben widerfahren würde . Die Gasse , in der er herumstrolchte , führte über weitere Nebengässchen in die Hinterhöfe von Geschäften in denen nur die hauchdünne , neureiche Oberschicht der Moskauer einkaufen konnte , selbst solch angesehenen Leuten wie Universitätsprofessoren , Ingenieuren oder Armeeoffizieren war es nicht möglich dort zu verkehren . Das hatte allerdings wiederum einen unschlagbaren Vorteil für Straßenkinder wie Sergeij . In diesen Geschäften gab es zum einen die leckersten und besten Dinge in hoher Stückzahl , zum anderen mussten die Inhaber sehr auf die Qualität ihrer Ware achten , was der Neigung leicht angeschlagene Waren auszusortieren sehr förderlich war . Allerdings verschoben die Kaufleute einen Großteil der Waren unter der Hand an weniger wohlhabende Kundschaft zu sogenannten Vorzugspreisen . Dies war ihr zweiter Markt , wie es die Kaufleute untereinander gerne bezeichneten .
Gerade schlich Sergeij durch einen schmutzigen Hinterhof und entdeckte neben der Tür des Hauses etwas Dunkles , was dort anscheinend auf einem Nagel oder Haken aufgehängt war . Beim Nähertreten stellte er fest , daß es sich um einen alten Pelz handelte den der Besitzer wohl während der Arbeiten im Hinterhof trug . Schwups hatte Sergeij den Pelz an sich genommen und mit einem Bindfaden zu einem Bündel verschnürt . Der Pelz , für einen Erwachsenen gefertigt und nicht für einen halbverhungerten Achtjährigen , würde ihm in den eisigen Moskauer Nächten mit Sicherheit gute Dienste leisten . Um modische Erfolge machte sich Sergeij eh keine Gedanken ! Ihm war wichtiger daß der Pelz mehrmals um seinen ausgezehrten Leib gewickelt werden konnte , als der Umstand daß er im Pelz kaum noch zu sehen sein und der Saum durch den Straßendreck schleifen würde ! Eiligst schlüpfte er aus dem Hof , um nicht im letzten Moment doch noch vom Besitzer gefasst zu werden . Im nächsten Hof stieß er auf einen Eimer mit in der Kälte dampfendem , heißem Wasser
darinnen , in dem noch die Reste der Fische schwammen die in dem Sud gereinigt und ausgenommen worden waren . Auch diesen hatte er sich in Windeseile geschnappt um ihn nach essbaren Fischresten zu untersuchen . Erst einmal verschwand er mit dem Eimer aber in Richtung der Gasse von der er gekommen war . Sollte einer der vorherigen Besitzer seiner Fundstücke etwa auftauchen während er im heißen Wasser nach Fischresten angelte , und wütend sein Eigentum zurückfordern , so hatte er in dieser Gasse einfach die besseren Fluchtmöglichkeiten . Das Gässchen war allerdings nicht mehr einsam und verlassen wie es noch zu Beginn von Sergeijs Streifzug in die verwinkelten Hinterhöfe gewesen war . Ein zerlumpter Mann war vielmehr gerade im Begriff einer etwa 30 jährigen Frau durch Drohung mit einem Messer ihr Eigentum abzunehmen . Eine der ersten Lektionen die jeder auf der Straße lernte war , \" Kümmere dich niemals um anderer Leute Leid , denn bereits deines ist größer als du es gebrauchen kannst !\"Also beobachtete Sergeij zwar die Handlungen der Beiden , mischte sich jedoch nicht ein sondern verzog sich zwischen Müllkübel und Unrat in eine stille Ecke und begann stattdessen in dem heißen Wasser nach verdaulichem Fischabfall zu suchen . Es war ihm allerdings nicht lange vergönnt die Rolle des Unbeteiligten zu spielen ! Denn schon hob der Räuber seine rechte Hand , in der er das Messer hielt , an , um der nun bis auf Hose und Pullover vollends ihrer Sachen beraubten Frau einen tödlichen Stich zu
versetzen . Es war mehr Eingebung und Instinkt als Überlegung und Abwägung die Sergeij zu seiner nun folgenden Tat verleiteten , vielleicht hätte er ansonsten anders gehandelt . So aber goss er kurzerhand den Fischeimer über dem Übeltäter aus , ergriff die Hand der Frau und zog die noch immer Schreckensstarre so schnell es ging in Richtung der belebten Einkaufsstraße davon . Wie ein Schlag mit einem Knüppel traf den Räuber das heiße Wasser ! Die Wärme brannte auf seiner unterkühlten Haut , stinkendes Wasser brannte in seinen Augen und in seiner Nase während ihm Fischsud mit ekligem Geschmack in seinen vor Erschrecken offenstehenden Mund eindrang ! „ Kommen Sie endlich Lady ! Schnell , schnell weg von
hier !\" brüllte Sergeij noch immer und zerrte weiter an der Fassungslosen . Warum er ausgerechnet diesen englischen Ausdruck verwendete den er in vergangenen , besseren Tagen einmal in einem Fernsehfilm gehört hatte musste wohl unter den unerklärlichen Begebenheiten des Lebens verbucht werden . Im Moment aber mussten sie sich erst einmal vor dem Killer in Sicherheit bringen . Endlich kamen Menschen , aufmerksam geworden durch Sergeijs Geschrei , herbei um zu helfen . Zu seinem grenzenlosen Entsetzen schienen sie aber ihn für den Übeltäter zu halten , denn schon griffen die ersten von ihnen mit wutverzerrten Gesichtern nach ihm während sie ihm fortwährend die übelsten Verwünschungen entgegenhielten . Eiligst wandte sich der verschreckte kleine Held zur Flucht . In all der Aufregung verlor er zu allem Unglücke auch noch sein Bündel in dem sich all seine Besitztümer befanden ! Dieser Umstand würde seinem Fortkommen auf der Straße sicherlich nicht dienlich sein . War das der Lohn der guten Tat ?
*
Natascha lag daheim auf ihrem Sofa . Ihre Augen waren rotgeweint , ihr Körper wurde immer wieder von übermächtigen Zitteranfällen befallen , an Schlaf war nicht im Entferntesten zu denken obwohl ihr der Arzt bereits zwei Beruhigungsspritzen verabreicht hatte . Wieder und wieder wurde sie von den schlimmen Geschehnissen dieses Tages heimgesucht . Stunden - langen Verhören bei der Polizei hatten sich mindestens ebenso lange Beschwichtigungen an ihren besorgten Ehemann Anatol angeschlossen , nun war sie im wahrsten Sinne des Wortes erledigt . Doch jedes mal wenn sie die Augen schloss um ein wenig Schlaf zu bekommen stand der Räuber wieder vor ihr . Schlimmer aber verfolgte sie der ängstlich , besorgte Rehblick des verschmutzten Jungen der ihr unter Einsatz seines eigenen Lebens das Ihrige gerettet hatte und der sie mit dem englischen Begriff Lady angesprochen hatte ! Warum hatte er nur diesen Ausdruck verwandt ? War es aus Ehrfurcht vor ihrer Stellung in der Gesellschaft , die seiner eigenen so sehr überlegen war , oder passierte es einfach nur deshalb weil sie in die neueste Pariser Mode gekleidet war ? Würde sich dieses Rätsel je klären lassen ? Natascha war nicht , wie von Sergeij vermutet , Anfang 30 , sie war vielmehr bereits 39 ! Zahlreiche Aufenthalte auf Schönheitsfarmen hatten jedoch ihren Zweck nicht verfehlt . Anatol verdiente sein Geld an der gerade erblühenden Moskauer Börse , und das sehr erfolgreich , endlos glücklich waren sie beide trotzdem nicht . Sehnlichst wünschten sie sich ein Kind und hatten bereits unzählige Fachärzte wegen ihrer Kinderlosigkeit konsultiert ! Allerdings ohne Erfolg , Natascha würde nie eigene Kinder gebären können . Vielleicht war es ihr deshalb nicht schwer gefallen Anatol zu überreden den zerlumpten Retter seiner Natascha suchen zu lassen um ihm eventuell ein neues Heim bei den Zweien zu bieten ! Nun war es aber schon spät am Abend und ein Erfolg war immer noch nicht abzusehen . So sollte es auch in den kommenden Tagen bleiben . Es schien als wäre der kleine Sergeij unsichtbar aus Moskau entkommen !
*
Das begehrte Ziel von Nataschas und Anatol`s Suche hatte sich auf der Flucht vor der keifenden Meute unterdessen ziellos durch die kalten Strassen gehetzt . Das die Frau die er errettet hatte versuchte die Menschen von ihm fernzuhalten bekam er längst nicht mehr mit . Schließlich langte er in einem der vielen Elendsvierteln von Moskau an . Seinem ohnehin ausgezehrten Körper hatte die überstürzte Flucht beinahe die letzten Lebensreserven gekostet . Nur mühsam konnte sich der Kleine auf seinen Streichholzbeinchen halten . Erschwerend kam hinzu , daß ihm auch sein Bündel schmerzlich fehlte . Nicht nur Wärmendes , nein auch einen verschimmelten Brotknust hätte er darin finden können der ihm wenigstens ein wenig der verbrauchten Energie zurückgegeben hätte . „ Selbst Schuld Sergeij !\" sprach er verbittert mit sich selbst . „ Hättest halt das Gelernte nicht missachten sollen ! Dann hättste jetzt noch Dein Bündel und zusätzlich einige Handvoll Fischflossen , Gräten und Heringsköpfe im Bauch !\" Entmutigt und erschöpft kroch er unter die Vortreppe eines der Häuser und schlief beinahe augenblicklich ein . Stunde um Stunde schlief er ohne auch nur für eine Sekunde zu erwachen ! Spät am folgenden Tag wurde er hier von spielenden Kindern der Nachbarschaft gefunden , die ein in der Nähe befindliches Auffanglager für streunende Kinder in Kenntnis setzten . Zu diesem Zeitpunkt war Sergeij aber bereits so gut wie erfroren ! Nur noch ganz schwach flackerte sein Lebenslichtlein !
*
22 . 12 . 98 ! Natascha fand einfach keine Ruhe . Bereits seit gut zwei Wochen durchsuchten sie und ihr Mann mit unzähligen Helfern Moskau . In jedem bekannten Krankenhaus das Obdachlose aufnahm waren sie gewesen . Jedes Kinderheim , jede Polizeistelle , Wohlfahrts - organisation usw. usw. die ihnen einfiel hatten sie besucht ! Alles ohne Erfolg ! Nun waren sie am Ende der Suche angelangt ! Hier in Moskau wussten sie kein Loch mehr in dem sich ein Straßenkind verbergen konnte . Gedankenverloren stapfte Natascha vor sich hin . Dabei erreichte sie eine Gegend die ihr völlig unbekannt war , aber sie registrierte es nicht einmal . Viel war in der jüngsten Zeit in ihr vorgegangen , sie hatte sich in vielem verändert , war gereift ! Zwar trug sie auch heute Jeans und einen teuren Pullover sowie einen kostbaren Pelz . Pelz wurde in Russland aber beinahe von jedem getragen , und auch das kleinste Stück verruchter westlicher Modeüberflüssigkeiten war aus ihrer Bekleidung entschwunden . Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf zwei Jungen gelenkt die sich vor einem verfallenen Gebäude um einen Kanten Brot stritten . Was stand dort auf dem Schild hinter den Zweien ? Kinderasyl !? Daß es hier einen Hort für Straßenkinder gab war Natascha neu , aber ein Gefühl unbestimmter Glückseligkeit und drängender Ungeduld zog sie geradezu magisch zu dem Gebäude hin ! Nachdem sie die Eingangstür hinter sich gelassen hatte befand sie sich in einem langen Gang von dem unzählige Türen abgingen . Überall standen dichtgedrängt verschmutzte Betten herum in denen teilweise drei oder vier verwahrloste Kinder teilnahmslos herumlagen . Natascha war bestürzt ! Ein Mitarbeiter sprach sie an , und Natascha erklärte ihm was , oder besser wen sie suchte . Mutlos schüttelte der Mann den Kopf . Zu viele Kinder starben täglich auf Moskaus Strassen als das er ihr Hoffnung machen wollte ihren Schützling hier zu finden , wo doch nur ein winziger Bruchteil des russischen Strandgutes angespült wurde . Aber er führte sie trotzdem gerne durch sein schauriges Reich der vergessenen Kinder . Und er schien Recht zu behalten ! Sie waren bereits in der letzten der nach Urin , Kot und Erbrochenem stinkenden Kammern angekommen , von Sergeij jedoch keine Spur . Mutlos wollte sich Natascha abwenden , da wurde sie auf ein ersticktes Stöhnen aus einem der Betten aufmerksam . Eindringlich richtete sie ihren Blick auf den Haufen dreckiger Bettwäsche ! Da ! Tatsächlich , da lugte doch noch ein Haarschopf aus dem Gewusel hervor ! Tränen der Freude rannen Natascha über ihr hübsches Gesicht , als sie beim Zurückschlagen der Decke das ausgemergelte Gesicht ihres Lebensretters erblickte ! In Windeseile war alles Notwendige in die Wege geleitet und Sergeij wurde in einem modernen Krankenwagen ins Haus von Anatol transportiert , wo sich sofort die besten Ärzte um ihn kümmerten . Und diese konnten Anatol und Natascha recht bald die schönsten Nachrichten ihres Lebens überbringen ! Sergeij war zwar sehr schwach , würde aber bei angemessener Pflege bald schon wieder bei vollster Gesundheit sein . Nie vorher war den Beiden ein Weihnachtsfest so schön geschenkt worden , wie das des Jahres 1998 ! Und keines könnte in Zukunft je an dieses heranreichen ! Und auch das Heim das Sergeij in seiner Not erstes Obdach war profitierte von seiner guten Tat ! Von jenem Tage an schlief keines der dort lebenden Kinder mehr in schmutziger Wäsche , litt Hunger oder musste sonnstwelche Entbehrungen in Kauf nehmen . Allen wurde im Gegenteil sogar ein angemessener Schulbesuch finanziert , der das Leben auf der Straße bei den Kindern bald in Vergessenheit geraten ließ !
Irgendwo saß also doch ein Weihnachtsengel der das Gute im Menschen belohnte !!!!
Moskau im Dezember 1998 - Sergeij lag in einer Seitengasse der belebten Einkaufsstraße und suchte verzweifelt nach etwas Essbarem oder Wärmenden oder , wenn es die Vorsehung gut mit ihm meinen sollte , auch nach Beidem . Sergeij gehörte zu den unzähligen obdachlosen Kindern die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in jeder russischen Großstadt zum Straßenbild gehören wie die Türme der orthodoxen Kirchen . Er war gerade einmal 8 Jahre
alt , hatte in seiner nun schon 2 Jahre anhaltenden Straßenkarriere aber schon mehr schlimme Dinge gesehen und erlebt als es einem durchschnittlichem westlichen Kind normalerweise in seinem gesamten Leben widerfahren würde . Die Gasse , in der er herumstrolchte , führte über weitere Nebengässchen in die Hinterhöfe von Geschäften in denen nur die hauchdünne , neureiche Oberschicht der Moskauer einkaufen konnte , selbst solch angesehenen Leuten wie Universitätsprofessoren , Ingenieuren oder Armeeoffizieren war es nicht möglich dort zu verkehren . Das hatte allerdings wiederum einen unschlagbaren Vorteil für Straßenkinder wie Sergeij . In diesen Geschäften gab es zum einen die leckersten und besten Dinge in hoher Stückzahl , zum anderen mussten die Inhaber sehr auf die Qualität ihrer Ware achten , was der Neigung leicht angeschlagene Waren auszusortieren sehr förderlich war . Allerdings verschoben die Kaufleute einen Großteil der Waren unter der Hand an weniger wohlhabende Kundschaft zu sogenannten Vorzugspreisen . Dies war ihr zweiter Markt , wie es die Kaufleute untereinander gerne bezeichneten .
Gerade schlich Sergeij durch einen schmutzigen Hinterhof und entdeckte neben der Tür des Hauses etwas Dunkles , was dort anscheinend auf einem Nagel oder Haken aufgehängt war . Beim Nähertreten stellte er fest , daß es sich um einen alten Pelz handelte den der Besitzer wohl während der Arbeiten im Hinterhof trug . Schwups hatte Sergeij den Pelz an sich genommen und mit einem Bindfaden zu einem Bündel verschnürt . Der Pelz , für einen Erwachsenen gefertigt und nicht für einen halbverhungerten Achtjährigen , würde ihm in den eisigen Moskauer Nächten mit Sicherheit gute Dienste leisten . Um modische Erfolge machte sich Sergeij eh keine Gedanken ! Ihm war wichtiger daß der Pelz mehrmals um seinen ausgezehrten Leib gewickelt werden konnte , als der Umstand daß er im Pelz kaum noch zu sehen sein und der Saum durch den Straßendreck schleifen würde ! Eiligst schlüpfte er aus dem Hof , um nicht im letzten Moment doch noch vom Besitzer gefasst zu werden . Im nächsten Hof stieß er auf einen Eimer mit in der Kälte dampfendem , heißem Wasser
darinnen , in dem noch die Reste der Fische schwammen die in dem Sud gereinigt und ausgenommen worden waren . Auch diesen hatte er sich in Windeseile geschnappt um ihn nach essbaren Fischresten zu untersuchen . Erst einmal verschwand er mit dem Eimer aber in Richtung der Gasse von der er gekommen war . Sollte einer der vorherigen Besitzer seiner Fundstücke etwa auftauchen während er im heißen Wasser nach Fischresten angelte , und wütend sein Eigentum zurückfordern , so hatte er in dieser Gasse einfach die besseren Fluchtmöglichkeiten . Das Gässchen war allerdings nicht mehr einsam und verlassen wie es noch zu Beginn von Sergeijs Streifzug in die verwinkelten Hinterhöfe gewesen war . Ein zerlumpter Mann war vielmehr gerade im Begriff einer etwa 30 jährigen Frau durch Drohung mit einem Messer ihr Eigentum abzunehmen . Eine der ersten Lektionen die jeder auf der Straße lernte war , \" Kümmere dich niemals um anderer Leute Leid , denn bereits deines ist größer als du es gebrauchen kannst !\"Also beobachtete Sergeij zwar die Handlungen der Beiden , mischte sich jedoch nicht ein sondern verzog sich zwischen Müllkübel und Unrat in eine stille Ecke und begann stattdessen in dem heißen Wasser nach verdaulichem Fischabfall zu suchen . Es war ihm allerdings nicht lange vergönnt die Rolle des Unbeteiligten zu spielen ! Denn schon hob der Räuber seine rechte Hand , in der er das Messer hielt , an , um der nun bis auf Hose und Pullover vollends ihrer Sachen beraubten Frau einen tödlichen Stich zu
versetzen . Es war mehr Eingebung und Instinkt als Überlegung und Abwägung die Sergeij zu seiner nun folgenden Tat verleiteten , vielleicht hätte er ansonsten anders gehandelt . So aber goss er kurzerhand den Fischeimer über dem Übeltäter aus , ergriff die Hand der Frau und zog die noch immer Schreckensstarre so schnell es ging in Richtung der belebten Einkaufsstraße davon . Wie ein Schlag mit einem Knüppel traf den Räuber das heiße Wasser ! Die Wärme brannte auf seiner unterkühlten Haut , stinkendes Wasser brannte in seinen Augen und in seiner Nase während ihm Fischsud mit ekligem Geschmack in seinen vor Erschrecken offenstehenden Mund eindrang ! „ Kommen Sie endlich Lady ! Schnell , schnell weg von
hier !\" brüllte Sergeij noch immer und zerrte weiter an der Fassungslosen . Warum er ausgerechnet diesen englischen Ausdruck verwendete den er in vergangenen , besseren Tagen einmal in einem Fernsehfilm gehört hatte musste wohl unter den unerklärlichen Begebenheiten des Lebens verbucht werden . Im Moment aber mussten sie sich erst einmal vor dem Killer in Sicherheit bringen . Endlich kamen Menschen , aufmerksam geworden durch Sergeijs Geschrei , herbei um zu helfen . Zu seinem grenzenlosen Entsetzen schienen sie aber ihn für den Übeltäter zu halten , denn schon griffen die ersten von ihnen mit wutverzerrten Gesichtern nach ihm während sie ihm fortwährend die übelsten Verwünschungen entgegenhielten . Eiligst wandte sich der verschreckte kleine Held zur Flucht . In all der Aufregung verlor er zu allem Unglücke auch noch sein Bündel in dem sich all seine Besitztümer befanden ! Dieser Umstand würde seinem Fortkommen auf der Straße sicherlich nicht dienlich sein . War das der Lohn der guten Tat ?
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Natascha lag daheim auf ihrem Sofa . Ihre Augen waren rotgeweint , ihr Körper wurde immer wieder von übermächtigen Zitteranfällen befallen , an Schlaf war nicht im Entferntesten zu denken obwohl ihr der Arzt bereits zwei Beruhigungsspritzen verabreicht hatte . Wieder und wieder wurde sie von den schlimmen Geschehnissen dieses Tages heimgesucht . Stunden - langen Verhören bei der Polizei hatten sich mindestens ebenso lange Beschwichtigungen an ihren besorgten Ehemann Anatol angeschlossen , nun war sie im wahrsten Sinne des Wortes erledigt . Doch jedes mal wenn sie die Augen schloss um ein wenig Schlaf zu bekommen stand der Räuber wieder vor ihr . Schlimmer aber verfolgte sie der ängstlich , besorgte Rehblick des verschmutzten Jungen der ihr unter Einsatz seines eigenen Lebens das Ihrige gerettet hatte und der sie mit dem englischen Begriff Lady angesprochen hatte ! Warum hatte er nur diesen Ausdruck verwandt ? War es aus Ehrfurcht vor ihrer Stellung in der Gesellschaft , die seiner eigenen so sehr überlegen war , oder passierte es einfach nur deshalb weil sie in die neueste Pariser Mode gekleidet war ? Würde sich dieses Rätsel je klären lassen ? Natascha war nicht , wie von Sergeij vermutet , Anfang 30 , sie war vielmehr bereits 39 ! Zahlreiche Aufenthalte auf Schönheitsfarmen hatten jedoch ihren Zweck nicht verfehlt . Anatol verdiente sein Geld an der gerade erblühenden Moskauer Börse , und das sehr erfolgreich , endlos glücklich waren sie beide trotzdem nicht . Sehnlichst wünschten sie sich ein Kind und hatten bereits unzählige Fachärzte wegen ihrer Kinderlosigkeit konsultiert ! Allerdings ohne Erfolg , Natascha würde nie eigene Kinder gebären können . Vielleicht war es ihr deshalb nicht schwer gefallen Anatol zu überreden den zerlumpten Retter seiner Natascha suchen zu lassen um ihm eventuell ein neues Heim bei den Zweien zu bieten ! Nun war es aber schon spät am Abend und ein Erfolg war immer noch nicht abzusehen . So sollte es auch in den kommenden Tagen bleiben . Es schien als wäre der kleine Sergeij unsichtbar aus Moskau entkommen !
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Das begehrte Ziel von Nataschas und Anatol`s Suche hatte sich auf der Flucht vor der keifenden Meute unterdessen ziellos durch die kalten Strassen gehetzt . Das die Frau die er errettet hatte versuchte die Menschen von ihm fernzuhalten bekam er längst nicht mehr mit . Schließlich langte er in einem der vielen Elendsvierteln von Moskau an . Seinem ohnehin ausgezehrten Körper hatte die überstürzte Flucht beinahe die letzten Lebensreserven gekostet . Nur mühsam konnte sich der Kleine auf seinen Streichholzbeinchen halten . Erschwerend kam hinzu , daß ihm auch sein Bündel schmerzlich fehlte . Nicht nur Wärmendes , nein auch einen verschimmelten Brotknust hätte er darin finden können der ihm wenigstens ein wenig der verbrauchten Energie zurückgegeben hätte . „ Selbst Schuld Sergeij !\" sprach er verbittert mit sich selbst . „ Hättest halt das Gelernte nicht missachten sollen ! Dann hättste jetzt noch Dein Bündel und zusätzlich einige Handvoll Fischflossen , Gräten und Heringsköpfe im Bauch !\" Entmutigt und erschöpft kroch er unter die Vortreppe eines der Häuser und schlief beinahe augenblicklich ein . Stunde um Stunde schlief er ohne auch nur für eine Sekunde zu erwachen ! Spät am folgenden Tag wurde er hier von spielenden Kindern der Nachbarschaft gefunden , die ein in der Nähe befindliches Auffanglager für streunende Kinder in Kenntnis setzten . Zu diesem Zeitpunkt war Sergeij aber bereits so gut wie erfroren ! Nur noch ganz schwach flackerte sein Lebenslichtlein !
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22 . 12 . 98 ! Natascha fand einfach keine Ruhe . Bereits seit gut zwei Wochen durchsuchten sie und ihr Mann mit unzähligen Helfern Moskau . In jedem bekannten Krankenhaus das Obdachlose aufnahm waren sie gewesen . Jedes Kinderheim , jede Polizeistelle , Wohlfahrts - organisation usw. usw. die ihnen einfiel hatten sie besucht ! Alles ohne Erfolg ! Nun waren sie am Ende der Suche angelangt ! Hier in Moskau wussten sie kein Loch mehr in dem sich ein Straßenkind verbergen konnte . Gedankenverloren stapfte Natascha vor sich hin . Dabei erreichte sie eine Gegend die ihr völlig unbekannt war , aber sie registrierte es nicht einmal . Viel war in der jüngsten Zeit in ihr vorgegangen , sie hatte sich in vielem verändert , war gereift ! Zwar trug sie auch heute Jeans und einen teuren Pullover sowie einen kostbaren Pelz . Pelz wurde in Russland aber beinahe von jedem getragen , und auch das kleinste Stück verruchter westlicher Modeüberflüssigkeiten war aus ihrer Bekleidung entschwunden . Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit auf zwei Jungen gelenkt die sich vor einem verfallenen Gebäude um einen Kanten Brot stritten . Was stand dort auf dem Schild hinter den Zweien ? Kinderasyl !? Daß es hier einen Hort für Straßenkinder gab war Natascha neu , aber ein Gefühl unbestimmter Glückseligkeit und drängender Ungeduld zog sie geradezu magisch zu dem Gebäude hin ! Nachdem sie die Eingangstür hinter sich gelassen hatte befand sie sich in einem langen Gang von dem unzählige Türen abgingen . Überall standen dichtgedrängt verschmutzte Betten herum in denen teilweise drei oder vier verwahrloste Kinder teilnahmslos herumlagen . Natascha war bestürzt ! Ein Mitarbeiter sprach sie an , und Natascha erklärte ihm was , oder besser wen sie suchte . Mutlos schüttelte der Mann den Kopf . Zu viele Kinder starben täglich auf Moskaus Strassen als das er ihr Hoffnung machen wollte ihren Schützling hier zu finden , wo doch nur ein winziger Bruchteil des russischen Strandgutes angespült wurde . Aber er führte sie trotzdem gerne durch sein schauriges Reich der vergessenen Kinder . Und er schien Recht zu behalten ! Sie waren bereits in der letzten der nach Urin , Kot und Erbrochenem stinkenden Kammern angekommen , von Sergeij jedoch keine Spur . Mutlos wollte sich Natascha abwenden , da wurde sie auf ein ersticktes Stöhnen aus einem der Betten aufmerksam . Eindringlich richtete sie ihren Blick auf den Haufen dreckiger Bettwäsche ! Da ! Tatsächlich , da lugte doch noch ein Haarschopf aus dem Gewusel hervor ! Tränen der Freude rannen Natascha über ihr hübsches Gesicht , als sie beim Zurückschlagen der Decke das ausgemergelte Gesicht ihres Lebensretters erblickte ! In Windeseile war alles Notwendige in die Wege geleitet und Sergeij wurde in einem modernen Krankenwagen ins Haus von Anatol transportiert , wo sich sofort die besten Ärzte um ihn kümmerten . Und diese konnten Anatol und Natascha recht bald die schönsten Nachrichten ihres Lebens überbringen ! Sergeij war zwar sehr schwach , würde aber bei angemessener Pflege bald schon wieder bei vollster Gesundheit sein . Nie vorher war den Beiden ein Weihnachtsfest so schön geschenkt worden , wie das des Jahres 1998 ! Und keines könnte in Zukunft je an dieses heranreichen ! Und auch das Heim das Sergeij in seiner Not erstes Obdach war profitierte von seiner guten Tat ! Von jenem Tage an schlief keines der dort lebenden Kinder mehr in schmutziger Wäsche , litt Hunger oder musste sonnstwelche Entbehrungen in Kauf nehmen . Allen wurde im Gegenteil sogar ein angemessener Schulbesuch finanziert , der das Leben auf der Straße bei den Kindern bald in Vergessenheit geraten ließ !
Irgendwo saß also doch ein Weihnachtsengel der das Gute im Menschen belohnte !!!!