Blue Sky
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Bei der Besichtigung im Untergeschoss fiel mir ein handgeschriebenes Buch in die Hände. Zwischen zwei heruntergebrannten Kerzen auf einem Vorsprung aus Feldsteinen an der hintersten Wand habe ich es gefunden. Ich stöberte durch die Einträge und sofort sog es mich durch die weiteren Seiten.
Mr. Robert W., der frühere Besitzer dieses Hauses, führte Aufzeichnungen über die Arbeiten und den Wiederaufbau. Parallel schrieb er Erlebtes und kleine Anekdoten nieder.
Spät in der Nacht kehrte ich mit dem Buch im Arm zurück.
Im Mai, am Sonntag, dem 3. 1964, notierte Robert;
‘Ein verlorener Ort’, war mein erster Gedanke. Ein Blick in die Augen meiner Frau sagte mir aber, dass diese Ruine aus Holz und Stein unsere Erfüllung sein wird.
Liz kämpft gegen ihre unheilbare Erkrankung und trotz der Aussicht, niemals eigene Kinder bekommen zu können, wollen wir dieses Haus unbedingt.
Prachtvoll wurde es einst in Nachbarschaft zur Villa und anderer Gebäude einer Plantagenfarm errichtet. Als einziges vom Krieg weitestgehend verschont, dennoch heruntergekommen und teilweise sogar verfallen, schenkt uns der Kaufpreis Möglichkeiten. Wir sehen bereits vor uns, was daraus werden kann. Erhaben und nach wie vor fest steht es hier im Süden Oklahomas auf einem teils in eine Felsscholle gehauenen Steinfundament. Seine Gauben, die hohen Sprossenfenster und die Säulenveranda zaubern heimelige Gefühle in mein Herz. Liz brannte vor Ideen, während wir das Gelände erkundeten. Wir können hier von einer Unterkellerung sprechen, was selten und nicht eigen für die Gegend ist, es aber noch interessanter für uns macht. Derzeit hatten wir kein anderes Thema, als den Umbau unseres kleinen Paradieses.
Februar, Sonntag, der 7. 1965
Die Arbeiten sind eine - unsere Herausforderung. Durch die Entkernung gleicht das Grundstück einem Kriegsgebiet. Der Schweiß meiner Frau fließt mit meinem zusammen. Durch unsere Hände, gemeinsam mit denen unserer Helfer, entsteht aus Trümmern ein Heim. Der Trubel und der Stress um die Bauarbeiten ziehen sich mit wenigen Atempausen, doch eine Fertigstellung nähert sich mit kleinen, schnellen Schritten.
Juli, Sonntag, der 13.
Es kommt mir gerade wie ein Wunder vor. Liz scheint es mit jedem Stück Holz, das sie verarbeitet, gesundheitlich besser zu gehen. Ihre Energie lädt mich auch immer wieder auf. Sie streicht und dichtet die Fenster neu, blüht dabei wie die bunteste Dahlie, die ich mir vorstellen kann. Daran lehnt sich sicher auch ihre Farbwahl.
Das Dach ist dicht und die Außenwände stehen. Einige Zimmer sind bereits individuell in neuem Glanz fertiggestellt. Freunde und Handwerker wohnen mit uns und jeden erfolgreichen Fortschritt feiern wir zusammen.
Unser guter alter Trailer hat endlich ausgedient. Wir spinnen uns bereits das erste Weihnachtsfest vor dem großen Kamin herbei.
September, Sonntag, der 12.
Ob wir heimlich nachts durcharbeiten würden, fragte Julie eines Morgens grinsend. Sie hätte ein leises Klopfen von unten oder von draußen gehört und ihr Mann Grant bestätigte es auch. Wir konnten nur lachend verneinen, obwohl wir uns schon oft eine Nacht um die Ohren geschlagen hatten.
Die Geräusche des Hauses wurden so etwas wie eine Challenge für uns. Bis auf wenige können wir sie zuordnen und erklären.
Gestern Nacht im Bett schlummerten wir in stiller, warmer Dunkelheit. Es bewegte sich kein Lüftchen. Durch die geöffneten Fenster drang kein Laut, als Liz mich stupste. „Hörst du das?“, flüsterte sie. Wir hielten unseren Atem an und lauschten. Ein leises: Tick-Tick-Tick zweimal kurz hintereinander. Dann war es wieder weg. Wir setzten uns auf. Wolken ließen etwas Mondlicht hindurch und kurz erkannte ich den fragenden Ausdruck in ihrem Gesicht. „Hast du eine Ahnung?“, hauchte sie.
Ich konnte nicht einmal die Richtung bestimmen, aus der dieses Geräusch kam.
„Von unten ...“, meinte sie.
Der Schein meiner Lampe wanderte von unserem Fenster aus über das Grundstück sowie an der Fassade des Hauses auf und ab. Nichts. Kein Hinweis. Den Rest der Nacht blieb es ruhig.
September, Sonntag, der 26.
An offenen Fenstern oder auf der Veranda saß ich abends, las oder schrieb und lauschte dabei in die sehr präsente Stille.
Als Liz mir heute beim Essen die Hand fest auf den Schenkel drückte und ihr Blick bewegungslos in die Dunkelheit deutete. Tack-Tack-Tack, darauf noch einmal. Deutlich klang es, wie ein Stein auf einen anderen geschlagen, aber von wo und was? Dann wurde es lauter und fuhr mir in alle Glieder. Durch meine zitternde Hand schwappte fast der Wein aus meinem Glas. Liz erstarrte und wurde weiß wie eine Wand.
Mit Licht und Flinte streifte ich um das Gebäude, aber da war nichts.
Wieder zurück, nahm mich Liz in die Arme. „Vielleicht hat sich ein Tier im Haus eingenistet?“, war ihre Vermutung.
„Welches Tier klopft auf Steinen?“, fragte ich.
„Eichhörnchen? - Waschbären?“
„Die machen meist mehr Radau.“
Scheinbar auch nur immer von ein und demselben Ort kommend, kroch uns das Tickern langsam unter die Haut.
Oktober, Sonntag, der 3.
Ein paar Tage hörten wir nichts - bis heute zur Mittagszeit.
Über Stunden lauschten wir weiter von der Veranda aus. Entschlossen, das Geräusch zu ergründen, redeten wir mit Julie und Grant darüber. Unsere Experten für die Heiz- und Wasserinstallationen schlossen diese als Ursache aus. Außerdem waren sie sich sicher, das Klopfen war bereits da, bevor die Haustechnik unter Druck stand.
Oktober, Sonntag, der 10.
Meinen Horchposten bezog ich zuerst im Keller. Nur wenig später stand es für mich zweifelsfrei fest.
Der Entschluss fiel mir nicht leicht, jedoch nichts zu tun und mich abzuwenden war noch viel belastender.
Ich trieb meinen Meißel immer wieder in den Mörtel um den ersten Steinblock links oben in der Ecke der hinteren Wand. Als er endlich herausfiel, stand fest: Diese Mauer hatte keine tragende Funktion, sondern wurde nachträglich vor den Felsen gezogen. Nach dem dritten Brocken in halber Höhe eröffnete sich ein Hohlraum. Aus dem Dunkel trat beißender Geruch von kaltem Zement und muffiger Erde hervor. Nur Sekunden später stand Liz neben mir, nachdem ich sie gerufen hatte. Sie starrte auf die Wand. Ihre Lippen vibrierten, brachten kein Wort hervor. Nachgebende Gelenke versuchten mich daran zu hindern, weiter das Werkzeug anzusetzen. Auch mein Atem stockte, doch dagegen kämpfend, gelang es mir, den nächsten Brocken herauszustemmen. Über den Schweiß kroch mir Kälte unter die Klamotten und drang bis zu den Knochen vor. Schlimme Vorahnungen ließen mich erschaudern.
Die Arbeitsleuchte in die Öffnung haltend, schaute Liz mir über die Schulter. Da fiel die Lampe und ich spürte ihre Hand meinen Arm krallen. Ich hielt sie, bevor sie zu Boden sacken konnte. Kein Albtraum vermag zu beschreiben, was auch ich in dem Augenblick sah.
Wortlos trug ich sie rauf ins Schlafzimmer in ihr Bett. Konkretes Denken war mir nicht mehr möglich. Fest umschlungen, lagen wir den Rest des Tages und die gesamte Nacht wach und stumm.
Mein Anruf im Sheriffs-Department am Morgen muss apathisch geklungen haben.
Mit Liz an meiner Seite machte ich mich daran, den Hohlraum weiter zu öffnen. Wie der Wirklichkeit entrückt, begann sie einen Eimer mit Schutt zu füllen. Das Bild, das sich uns dann eröffnete, ließ uns Fürbitte leisten.
Auf ihren Knien kauernd und zum Schweigen gebracht, saß sie in den engen Spalt gepresst. Ihre Hände hinterrücks in Eisen an die Wand geschlagen. Wie mumifiziert fanden wir sie, das Haupt bis auf die Schenkel gesenkt. Um sie herum lagen Zähne.
Dann waren auch schon die Deputies um uns herum. Unser Haus wurde Sperrzone und Spuren gesichert.
Der Coroner meinte bereits nach kurzer Zeit, dass es sich um eine junge Frau handeln würde, die vermutlich zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt geworden war. Mit Sicherheit wäre sie bereits über hundert Jahre tot.
Ich schaute meiner Frau in die Augen, ihre Blicke sprangen zwischen meinen hin und her. Nur eines kam mir dabei in den Sinn. Als ich es aussprach, sah ich Liz Gesicht in Zustimmung entspannen. Wir mussten darauf bestehen, die Frau selbst von ihren Fesseln befreien zu dürfen. Zwei kleine Schnitte meines Bolzenschneiders durchtrennten die Niete. Als die Schließen aufsprangen, fiel ein kleiner Stein aus ihrer Hand.
November, Sonntag, der 7.
Eine Obduktion bestätigte der Frau, gerade neunzehn Jahre alt geworden zu sein. Sie lebte vor etwa hundertzwanzig Jahren und trug ein Kind unter dem Herzen. Sie starb durch Ersticken. Zahlreiche äußere Wunden, gebrochene Rippen und Glieder sowie ausgekugelte Gelenke konnten dazu beigetragen haben und zeugten von schweren Misshandlungen, bevor sie ihrem unbarmherzigen Los entgegengesehen hatte.
Spuren an den Steinen und Mauerwerk sowie grauenvolle Verletzungen an ihrem Kopf ließen vermuten, sie versuchte sich noch zu befreien oder sich selbst zu erlösen. Viele offene Fragen kamen uns in den Sinn.
Gemeinsam mit dem Sheriff gingen wir auf Spurensuche.
Recherchen in Chroniken zusammen mit den Ergebnissen des Ermittlers führten zu einer im Mai 1844 vermissten Betsy. Sie war die Tochter eines erfolgreichen Kaufmannes, dem Erbauer des Hauses.
Er gab damals an, Betsy sei von einem Feldarbeiter verschleppt worden. Der Junge wurde gejagt, auf seiner Flucht gestellt und auf der Stelle verurteilt und hingerichtet. Betsy aber fand man nicht mehr und wurde später für tot gehalten.
Zudem erfuhren wir, dass sich zwei Wochen nach Betsys Verschwinden ein Hausangestellter namens Luther in einem nahen Waldstück selbst erhängt hatte. In die Rinde des Baumes war so etwas wie „Sorry B“ hineingeritzt worden.
Die Staatsanwälte legten den Fall schnell beiseite.
Wir rätseln und werden wohl niemals dahinter steigen, was Betsy getan haben muss, dass ihr Derartiges angetan wurde. War es vielleicht eine verbotene Liebe? Ihr Schicksal schwimmt in meinen Venen, scheint meinen Herzschlag anhalten zu wollen. Das Atmen fällt schwer, immer wenn ich Liz mit Tränen in ihren Augen sehe. Wut überkommt mich manchmal sogar krampfend. Julie und Grant sind zum Glück bei uns. Lange schöne Abende verbrachten wir schon mit ihnen und redeten über Betsy. Hatte Luther in ihre Augen sehen müssen, als er den letzten Stein setzen musste und sie damit in die Dunkelheit verließ?
Wir schenkten ihr eine ewige Ruhestätte unter einer Eiche auf dem nahegelegenen Acker Gottes. Ein Licht für die beiden soll nie mehr erlöschen.
Das unerklärliche Pochen im Haus war verklungen. Ich bin dankbar, dass Grant es war, der als erster von einem Hilferuf sprach, welcher die Zeit währte. Ungebrochene Lebenskraft könnte Betsy befähigt haben, den Stein niemals fallen zu lassen. War ihr Wunsch so groß, dass er sogar begebbar war?
November, Donnerstag, der 25.
Letzte Nacht sah ich Betsy im Traum. Sie saß auf der alten Schaukel im Garten. Lächelnd wog sie ihr Baby von auffallend dunkler Haut in ihrem Arm.
In einem himmelblauen Kleid sah ich sie dann über eine Wiese tollen. Duft aus tausenden bunter Blüten zog von da zu mir herüber. Kichernd versteckte sie sich hinter einem dicken Baum und warf mir einen Kuss zu.
Heute Morgen traten wir aus dem Haus, um die frühe Morgenluft zu genießen. Da bemerkte ich, wie Liz jemanden mit einer Hand aus ihren verschränkten Armen im Garten zu grüßen schien. Ich sah dort niemanden. Die alte Schaukel war leer. Eine Träne erreichte die Oberlippe meiner Frau. Ich zog sie an mich und küsste sie sanft. Erst nach erschrockenem Blick schenkte sie mir dann ihr verzauberndes Lächeln. Genau wie damals bei unserem ersten Date am Mardi Gras.
Die Sonnenstrahlen, die uns an diesem Thanksgiving wärmen, sind wohltuender als alle je zuvor. Dessen Bedeutung kann ich gerade nur erahnen. Zum ersten Mal feiern wir als Familie. Betsy und ihre kleine ungeborene Seele sind Teile unserer Herzmuskeln und stärken sie.
„Sorry B.
Die Ambulanz ist bereits meinetwegen auf dem Weg.
Liz. Vielleicht hast du sie ja schon getroffen. Kennst bereits die Wahrheit, die wir bisher nur erahnen konnten.
Ich freue mich auf euch.“
So lautet der letzte Eintrag im September, Freitag, dem 5. 2022.
Die Zeilen, die Robert dem Tod seiner Frau widmete, entstanden zwei Monate zuvor.
Am kommenden Tag teilte ich diese und weitere Geschichten aus dem Buch mit meiner Familie. Dem darauffolgenden sahen wir uns das Haus gemeinsam an. Unsere ersten Schritte führten uns in den Keller. Wir entzündeten die Lichter und legten das Buch an seinen Platz. Ich bestellte den Agenten, um den Kauf des Hauses abzuschließen.
Die Kinder wollten ihre neue Schwester auf dem Friedhof besuchen. Dort begegneten wir auch Liz und Robert vereint mit Betsy.
Mr. Robert W., der frühere Besitzer dieses Hauses, führte Aufzeichnungen über die Arbeiten und den Wiederaufbau. Parallel schrieb er Erlebtes und kleine Anekdoten nieder.
Spät in der Nacht kehrte ich mit dem Buch im Arm zurück.
Im Mai, am Sonntag, dem 3. 1964, notierte Robert;
‘Ein verlorener Ort’, war mein erster Gedanke. Ein Blick in die Augen meiner Frau sagte mir aber, dass diese Ruine aus Holz und Stein unsere Erfüllung sein wird.
Liz kämpft gegen ihre unheilbare Erkrankung und trotz der Aussicht, niemals eigene Kinder bekommen zu können, wollen wir dieses Haus unbedingt.
Prachtvoll wurde es einst in Nachbarschaft zur Villa und anderer Gebäude einer Plantagenfarm errichtet. Als einziges vom Krieg weitestgehend verschont, dennoch heruntergekommen und teilweise sogar verfallen, schenkt uns der Kaufpreis Möglichkeiten. Wir sehen bereits vor uns, was daraus werden kann. Erhaben und nach wie vor fest steht es hier im Süden Oklahomas auf einem teils in eine Felsscholle gehauenen Steinfundament. Seine Gauben, die hohen Sprossenfenster und die Säulenveranda zaubern heimelige Gefühle in mein Herz. Liz brannte vor Ideen, während wir das Gelände erkundeten. Wir können hier von einer Unterkellerung sprechen, was selten und nicht eigen für die Gegend ist, es aber noch interessanter für uns macht. Derzeit hatten wir kein anderes Thema, als den Umbau unseres kleinen Paradieses.
Februar, Sonntag, der 7. 1965
Die Arbeiten sind eine - unsere Herausforderung. Durch die Entkernung gleicht das Grundstück einem Kriegsgebiet. Der Schweiß meiner Frau fließt mit meinem zusammen. Durch unsere Hände, gemeinsam mit denen unserer Helfer, entsteht aus Trümmern ein Heim. Der Trubel und der Stress um die Bauarbeiten ziehen sich mit wenigen Atempausen, doch eine Fertigstellung nähert sich mit kleinen, schnellen Schritten.
Juli, Sonntag, der 13.
Es kommt mir gerade wie ein Wunder vor. Liz scheint es mit jedem Stück Holz, das sie verarbeitet, gesundheitlich besser zu gehen. Ihre Energie lädt mich auch immer wieder auf. Sie streicht und dichtet die Fenster neu, blüht dabei wie die bunteste Dahlie, die ich mir vorstellen kann. Daran lehnt sich sicher auch ihre Farbwahl.
Das Dach ist dicht und die Außenwände stehen. Einige Zimmer sind bereits individuell in neuem Glanz fertiggestellt. Freunde und Handwerker wohnen mit uns und jeden erfolgreichen Fortschritt feiern wir zusammen.
Unser guter alter Trailer hat endlich ausgedient. Wir spinnen uns bereits das erste Weihnachtsfest vor dem großen Kamin herbei.
September, Sonntag, der 12.
Ob wir heimlich nachts durcharbeiten würden, fragte Julie eines Morgens grinsend. Sie hätte ein leises Klopfen von unten oder von draußen gehört und ihr Mann Grant bestätigte es auch. Wir konnten nur lachend verneinen, obwohl wir uns schon oft eine Nacht um die Ohren geschlagen hatten.
Die Geräusche des Hauses wurden so etwas wie eine Challenge für uns. Bis auf wenige können wir sie zuordnen und erklären.
Gestern Nacht im Bett schlummerten wir in stiller, warmer Dunkelheit. Es bewegte sich kein Lüftchen. Durch die geöffneten Fenster drang kein Laut, als Liz mich stupste. „Hörst du das?“, flüsterte sie. Wir hielten unseren Atem an und lauschten. Ein leises: Tick-Tick-Tick zweimal kurz hintereinander. Dann war es wieder weg. Wir setzten uns auf. Wolken ließen etwas Mondlicht hindurch und kurz erkannte ich den fragenden Ausdruck in ihrem Gesicht. „Hast du eine Ahnung?“, hauchte sie.
Ich konnte nicht einmal die Richtung bestimmen, aus der dieses Geräusch kam.
„Von unten ...“, meinte sie.
Der Schein meiner Lampe wanderte von unserem Fenster aus über das Grundstück sowie an der Fassade des Hauses auf und ab. Nichts. Kein Hinweis. Den Rest der Nacht blieb es ruhig.
September, Sonntag, der 26.
An offenen Fenstern oder auf der Veranda saß ich abends, las oder schrieb und lauschte dabei in die sehr präsente Stille.
Als Liz mir heute beim Essen die Hand fest auf den Schenkel drückte und ihr Blick bewegungslos in die Dunkelheit deutete. Tack-Tack-Tack, darauf noch einmal. Deutlich klang es, wie ein Stein auf einen anderen geschlagen, aber von wo und was? Dann wurde es lauter und fuhr mir in alle Glieder. Durch meine zitternde Hand schwappte fast der Wein aus meinem Glas. Liz erstarrte und wurde weiß wie eine Wand.
Mit Licht und Flinte streifte ich um das Gebäude, aber da war nichts.
Wieder zurück, nahm mich Liz in die Arme. „Vielleicht hat sich ein Tier im Haus eingenistet?“, war ihre Vermutung.
„Welches Tier klopft auf Steinen?“, fragte ich.
„Eichhörnchen? - Waschbären?“
„Die machen meist mehr Radau.“
Scheinbar auch nur immer von ein und demselben Ort kommend, kroch uns das Tickern langsam unter die Haut.
Oktober, Sonntag, der 3.
Ein paar Tage hörten wir nichts - bis heute zur Mittagszeit.
Über Stunden lauschten wir weiter von der Veranda aus. Entschlossen, das Geräusch zu ergründen, redeten wir mit Julie und Grant darüber. Unsere Experten für die Heiz- und Wasserinstallationen schlossen diese als Ursache aus. Außerdem waren sie sich sicher, das Klopfen war bereits da, bevor die Haustechnik unter Druck stand.
Oktober, Sonntag, der 10.
Meinen Horchposten bezog ich zuerst im Keller. Nur wenig später stand es für mich zweifelsfrei fest.
Der Entschluss fiel mir nicht leicht, jedoch nichts zu tun und mich abzuwenden war noch viel belastender.
Ich trieb meinen Meißel immer wieder in den Mörtel um den ersten Steinblock links oben in der Ecke der hinteren Wand. Als er endlich herausfiel, stand fest: Diese Mauer hatte keine tragende Funktion, sondern wurde nachträglich vor den Felsen gezogen. Nach dem dritten Brocken in halber Höhe eröffnete sich ein Hohlraum. Aus dem Dunkel trat beißender Geruch von kaltem Zement und muffiger Erde hervor. Nur Sekunden später stand Liz neben mir, nachdem ich sie gerufen hatte. Sie starrte auf die Wand. Ihre Lippen vibrierten, brachten kein Wort hervor. Nachgebende Gelenke versuchten mich daran zu hindern, weiter das Werkzeug anzusetzen. Auch mein Atem stockte, doch dagegen kämpfend, gelang es mir, den nächsten Brocken herauszustemmen. Über den Schweiß kroch mir Kälte unter die Klamotten und drang bis zu den Knochen vor. Schlimme Vorahnungen ließen mich erschaudern.
Die Arbeitsleuchte in die Öffnung haltend, schaute Liz mir über die Schulter. Da fiel die Lampe und ich spürte ihre Hand meinen Arm krallen. Ich hielt sie, bevor sie zu Boden sacken konnte. Kein Albtraum vermag zu beschreiben, was auch ich in dem Augenblick sah.
Wortlos trug ich sie rauf ins Schlafzimmer in ihr Bett. Konkretes Denken war mir nicht mehr möglich. Fest umschlungen, lagen wir den Rest des Tages und die gesamte Nacht wach und stumm.
Mein Anruf im Sheriffs-Department am Morgen muss apathisch geklungen haben.
Mit Liz an meiner Seite machte ich mich daran, den Hohlraum weiter zu öffnen. Wie der Wirklichkeit entrückt, begann sie einen Eimer mit Schutt zu füllen. Das Bild, das sich uns dann eröffnete, ließ uns Fürbitte leisten.
Auf ihren Knien kauernd und zum Schweigen gebracht, saß sie in den engen Spalt gepresst. Ihre Hände hinterrücks in Eisen an die Wand geschlagen. Wie mumifiziert fanden wir sie, das Haupt bis auf die Schenkel gesenkt. Um sie herum lagen Zähne.
Dann waren auch schon die Deputies um uns herum. Unser Haus wurde Sperrzone und Spuren gesichert.
Der Coroner meinte bereits nach kurzer Zeit, dass es sich um eine junge Frau handeln würde, die vermutlich zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt geworden war. Mit Sicherheit wäre sie bereits über hundert Jahre tot.
Ich schaute meiner Frau in die Augen, ihre Blicke sprangen zwischen meinen hin und her. Nur eines kam mir dabei in den Sinn. Als ich es aussprach, sah ich Liz Gesicht in Zustimmung entspannen. Wir mussten darauf bestehen, die Frau selbst von ihren Fesseln befreien zu dürfen. Zwei kleine Schnitte meines Bolzenschneiders durchtrennten die Niete. Als die Schließen aufsprangen, fiel ein kleiner Stein aus ihrer Hand.
November, Sonntag, der 7.
Eine Obduktion bestätigte der Frau, gerade neunzehn Jahre alt geworden zu sein. Sie lebte vor etwa hundertzwanzig Jahren und trug ein Kind unter dem Herzen. Sie starb durch Ersticken. Zahlreiche äußere Wunden, gebrochene Rippen und Glieder sowie ausgekugelte Gelenke konnten dazu beigetragen haben und zeugten von schweren Misshandlungen, bevor sie ihrem unbarmherzigen Los entgegengesehen hatte.
Spuren an den Steinen und Mauerwerk sowie grauenvolle Verletzungen an ihrem Kopf ließen vermuten, sie versuchte sich noch zu befreien oder sich selbst zu erlösen. Viele offene Fragen kamen uns in den Sinn.
Gemeinsam mit dem Sheriff gingen wir auf Spurensuche.
Recherchen in Chroniken zusammen mit den Ergebnissen des Ermittlers führten zu einer im Mai 1844 vermissten Betsy. Sie war die Tochter eines erfolgreichen Kaufmannes, dem Erbauer des Hauses.
Er gab damals an, Betsy sei von einem Feldarbeiter verschleppt worden. Der Junge wurde gejagt, auf seiner Flucht gestellt und auf der Stelle verurteilt und hingerichtet. Betsy aber fand man nicht mehr und wurde später für tot gehalten.
Zudem erfuhren wir, dass sich zwei Wochen nach Betsys Verschwinden ein Hausangestellter namens Luther in einem nahen Waldstück selbst erhängt hatte. In die Rinde des Baumes war so etwas wie „Sorry B“ hineingeritzt worden.
Die Staatsanwälte legten den Fall schnell beiseite.
Wir rätseln und werden wohl niemals dahinter steigen, was Betsy getan haben muss, dass ihr Derartiges angetan wurde. War es vielleicht eine verbotene Liebe? Ihr Schicksal schwimmt in meinen Venen, scheint meinen Herzschlag anhalten zu wollen. Das Atmen fällt schwer, immer wenn ich Liz mit Tränen in ihren Augen sehe. Wut überkommt mich manchmal sogar krampfend. Julie und Grant sind zum Glück bei uns. Lange schöne Abende verbrachten wir schon mit ihnen und redeten über Betsy. Hatte Luther in ihre Augen sehen müssen, als er den letzten Stein setzen musste und sie damit in die Dunkelheit verließ?
Wir schenkten ihr eine ewige Ruhestätte unter einer Eiche auf dem nahegelegenen Acker Gottes. Ein Licht für die beiden soll nie mehr erlöschen.
Das unerklärliche Pochen im Haus war verklungen. Ich bin dankbar, dass Grant es war, der als erster von einem Hilferuf sprach, welcher die Zeit währte. Ungebrochene Lebenskraft könnte Betsy befähigt haben, den Stein niemals fallen zu lassen. War ihr Wunsch so groß, dass er sogar begebbar war?
November, Donnerstag, der 25.
Letzte Nacht sah ich Betsy im Traum. Sie saß auf der alten Schaukel im Garten. Lächelnd wog sie ihr Baby von auffallend dunkler Haut in ihrem Arm.
In einem himmelblauen Kleid sah ich sie dann über eine Wiese tollen. Duft aus tausenden bunter Blüten zog von da zu mir herüber. Kichernd versteckte sie sich hinter einem dicken Baum und warf mir einen Kuss zu.
Heute Morgen traten wir aus dem Haus, um die frühe Morgenluft zu genießen. Da bemerkte ich, wie Liz jemanden mit einer Hand aus ihren verschränkten Armen im Garten zu grüßen schien. Ich sah dort niemanden. Die alte Schaukel war leer. Eine Träne erreichte die Oberlippe meiner Frau. Ich zog sie an mich und küsste sie sanft. Erst nach erschrockenem Blick schenkte sie mir dann ihr verzauberndes Lächeln. Genau wie damals bei unserem ersten Date am Mardi Gras.
Die Sonnenstrahlen, die uns an diesem Thanksgiving wärmen, sind wohltuender als alle je zuvor. Dessen Bedeutung kann ich gerade nur erahnen. Zum ersten Mal feiern wir als Familie. Betsy und ihre kleine ungeborene Seele sind Teile unserer Herzmuskeln und stärken sie.
„Sorry B.
Die Ambulanz ist bereits meinetwegen auf dem Weg.
Liz. Vielleicht hast du sie ja schon getroffen. Kennst bereits die Wahrheit, die wir bisher nur erahnen konnten.
Ich freue mich auf euch.“
So lautet der letzte Eintrag im September, Freitag, dem 5. 2022.
Die Zeilen, die Robert dem Tod seiner Frau widmete, entstanden zwei Monate zuvor.
Am kommenden Tag teilte ich diese und weitere Geschichten aus dem Buch mit meiner Familie. Dem darauffolgenden sahen wir uns das Haus gemeinsam an. Unsere ersten Schritte führten uns in den Keller. Wir entzündeten die Lichter und legten das Buch an seinen Platz. Ich bestellte den Agenten, um den Kauf des Hauses abzuschließen.
Die Kinder wollten ihre neue Schwester auf dem Friedhof besuchen. Dort begegneten wir auch Liz und Robert vereint mit Betsy.