Ein Wiedersehen

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lietzensee

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Ein Wiedersehen​

Es war schon dunkel, als ich das Haus endlich erreicht hatte. Der Strom war abgestellt und ich knipste meine Taschenlampe an. Im Wohnzimmer roch es nach Mäusedreck. Trotzdem glaubte ich, noch Vaters Zeitung rascheln zu hören. Hing da nicht etwas von Mutters Kohlsuppe in der stockigen Küchenluft? Ich stieg die Treppe hinauf. Die Schwellen waren angefault. Als ich mein altes Kinderzimmer betrat, lag auf dem Bettgestell eine dreckige Matratze. Von darunter hörte ich eine Stimme: "So sehen wir uns also wieder."
Ich ließ vor Schreck die Lampe fallen. Ein Krimineller auf der Flucht? Ein drogensüchtiger Obdachloser? Langsam kroch eine Gestalt unter dem Gestell hervor, setzte sich auf die Matratze und klopfte wie zur Einladung auf den freien Platz neben sich. "Erkennst du mich nicht?", fragte die Stimme rau. Die Lampe auf dem Boden beleuchtete zwei haarige Tatzen mit Krallen.
"Nein", stieß ich hervor.
"Wirklich nicht?" Nun klang die Stimme gekränkt. Eine Tatze griff die Taschenlampe und leuchtete hinauf in ein Gesicht voller Zähne, "Ich bin das Monster von unter deinem Bett. Es wird ja wirklich auch mal wieder Zeit, dass du dich hier blicken lässt."
Der Raum roch nach schimmligen Teppichboden. Statt des bunten Lampenschirms baumelte ein totes Kabel von der Decke und doch sah ich plötzlich wieder alles, wie es einmal gewesen war: die Tapete mit bunten Märchenfiguren an der Wand, der kleine Schwarz-Weiß-Fernseher in der Ecke. Ich schmeckte klebrige Gummibärchen und hörte wieder das unheimliche Knacken, das nachts von unter meinem Bett gekommen war. "Ich dachte, ich hätte mir dich nur eingebildet", sagte ich.
"Na vielen Dank auch!" durch die spitzen Zähne klang die Stimme beleidigt. "Nach allem, was ich für dich getan habe ..."
Ich war ein ängstliches Kind gewesen. Beim Anblick der in Fetzen hängenden Tapete fiel es mir wieder ein. Mit sieben hatte ich im Fernsehen heimlich den Film Angriff des Klomonsters gesehen. Danach wollte ich vor Angst wochenlang nicht mehr auf die Toilette gehen. Die Schatten der Kirschbaumzweige nachts vor dem Fenster waren für mich schwarze Finger gewesen, die über meine Bettdecke tasteten. "Was du für mich getan hast?" Einmal war ich um Mitternacht mit dem Gedanken aufgewacht, dass ich mein Nintendo nicht ausgestellt hatte. So ein elektrisches Ding geht schnell kaputt, hatte mein Vater mich gewarnt. Lange lag ich mit offenen Augen im Bett. Ich sah das Lämpchen der Konsole rot aus der Zimmerecke glimmen und suchte nach dem Mut, mein Bett in der Dunkelheit zu verlassen. Vorsichtig setzte ich die nackten Füße auf den Teppich. Ich lauschte. Vor dem Fenster wehte der Wind. Mit geballten Fäustchen tat ich einen Schritt ins Dunkle und erschrak, als auf der Straße ein Hund bellte. Das Lämpchen glomm wie ein rotes Auge. Ich holte tief Luft, machte einen weiteren Schritt und schrie, weil ich auf einen Legostein getreten war. Dann sprang ich einfach. Ich griff nach der Konsole, tastete hastig im Dunkeln nach dem Schalter und das rote Auge erlosch. Ich hatte meine Angst überwunden, erleichtert im Dunkeln gelacht und dann plötzlich einen Atemstoß in meinem Nacken gespürt. Es war warmer, fauliger Atem gewesen, hervorgepresst zwischen spitzen Zähnen.
"Für dich hatte ich mir originelle Auftritte ausgedacht", sagte stolz das Monster von unter meinem Bett. Im Licht der Taschenlampe sah es mich an.
"Wegen dir hatte ich ins Bett genässt", erwiderte ich.
Das Monster holte darauf zu einem Vortrag aus, dass Angst zur Entwicklung eines Menschen nun mal dazugehöre. Man komme um sie nicht herum, es mache aber einen Unterschied, wovor man sich fürchten muss. Es soll kindgerecht sein, betonte er mit erhobener Kralle. Kindgerechte Angst zu erzeugen, sei eine hohe Kunst. Vor allem sei es doch die einzige Kunst, die ein Monster unter dem Bett ausüben könne.
Wir sahen uns an. "Mutter und Vater hatten mir nie geglaubt, wenn ich von dem Monster unter meinem Bett erzählt habe."
"Aber war das nicht das beste?", nachdenklich leckte das Monster seine Zähne, "Du hast mehr gewusst, als die Erwachsenen, hattest eine Welt für dich allein. Vor allem hattest du für alle Ängste eine einfache Erklärung parat." Noch einmal klopften seine Krallen auf die Matratze.
Ich setzte mich.
Die Krallen spielten mit der Taschenlampe. "Was ist aus der Schlampe geworden?"
"Welche Schlampe?"
"Du weißt schon, das Mädchen wegen dem du abends heimlich aus dem Fenster geklettert bist, um sie zu besuchen. Die Schatten vom Kirschbaum waren dir ja auf einmal egal. Die dumme, rothaarige Ziege, die du irgendwann in unser Zimmer geführt hast, um laut zu erklären, dass nur kleine Kinder sich vor Monstern fürchten." Es sah mich an. Seine schartige Oberlippe zitterte.
"Ach, die Sandra", ich überlegte. "Ich glaube, sie verkauft jetzt Immobilien. Geheiratet habe ich natürlich eine andere Frau. Wir haben zwei Kinder. Sie hat mich betrogen. Wir sind geschieden und morgen ist der nächste Gerichtstermin." Ich holte tief Luft. Mitfühlend klopfte eine Kralle mir auf die Schulter. Auf einmal hörte ich das Zittern meiner eigenen Stimme. "Jetzt soll auf der Arbeit auch noch meine Abteilung geschlossen werden und wenn ich im Fernsehen die Nachrichten sehe ..."
"Ich verstehe dich", rief das Monster. "Allein hab ich auch oft Angst in diesem verlassenen Zimmer." Wir umarmten uns und zum ersten Mal hörte ich ein Monster weinen. Es war ein gurgelnder, herzzerreißender Laut.
Wie hatte ich mich als Kind vor dem Monster gefürchtet. Aber damals war Angst noch etwas Spannendes gewesen. Mit dem Kopf unter der Decke hatte ich auch Rache des Klomonsters und Klomonster in Outer Space geschaut. Nach jedem Film hatte ich Angst gehabt und mich gleichzeitig auf die Fortsetzung gefreut. Wir saßen beisammen und dachten an die gute alte Zeit. Als ich schließlich anbot, das Monster in meiner Eigentumswohnung aufzunehmen, schüttelte es aber den Kopf. "Das geht schon wegen deiner Kinder nicht." Es bleckte die spitzen Zähne, "Diese respektlosen Bälge mit ihren Smartphones heutzutage, die würden mich doch auslachen."
Da klingelte mein Handy. Eine Nummer leuchtete auf dem Display und Angst schnürte mir die Kehle zu. Was wollte der Anwalt meiner Frau von mir?
 
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petrasmiles

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Eine wirklich schöne Geschichte!
Wir haben ja alle so unsere kindlichen Angstgeschichten, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es eine gewisse Lustangst sein könnte, und vor allem habe ich ganz vergessen, dass die Ängste der Erwachsenen im Vergleich dazu ein ganz anderes Kaliber sind.
Die Idee, das Monster zum Seelenfreund werden zu lassen, finde ich richtig gut!

Liebe Grüße
Petra
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Petra,
vielen Dank für deine Antwort. Es freut mich, dass du die Idee nachvollziehen kannst. Bzw dass der Text sie rüberbringen konnte. Wie immer schwingt auch ein bisschen Augenzwinkern mit. Aber als Kind waren Ängste noch einfacher.

Vielen Dank auch an Fee und Johnson fürs bewerten!

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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