Ein ziemlich guter Tag

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lietzensee

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Tropfen der Zeit​

Wie war dein Tag?, schrieb sein Bruder. Freitags schrieb er meistens kurz vor Mitternacht. War ziemlich gut, antwortete Max. Denn es war ein ziemlich guter Tag gewesen, nicht herausragend, aber ohne böse Überraschungen und im Strom der dahinfließenden Tage eine gute Spanne zwischen Aufstehen und zu Bett gehen.

Morgens in der U-Bahn hatte er in seinem Roman die Seite Zweihundertfünfundsechzig gelesen. Damit hatte er genau die Mitte des Buches erreicht und andächtig umgeblättert. Die Mitte eines Buches fühlte sich immer gut an, wie ein erreichtes Etappenziel. Die zweite Hälfte las sich dann stets schneller. Beim Umsteigen am Gleisdreieck sah er von der oberen Plattform aus den Sonnenaufgang und bei den Treppen hing ein neues Plakat. Tropfen der Zeit, von dieser Band hatte er noch nichts gehört. Aber er sollte mal wieder auf ein Konzert gehen. Oder war das ein Theaterstück?

Im Büro musste er über seinen Monitor hinweg die üblichen Fragen der Kollegen beantworten. Nein, die Bahn auf Gleis Sechs war noch nicht abgefahren, denn der Zug vom Gleis Eins blockierte noch die Weiche. Ja, die Bahn von Gleis Eins war verspätet, denn der Lokführer hatte es nicht rechtzeitig ins Führerhaus geschafft. In der Tat, Lokführer Herbert hatte mal wieder Pech gehabt, denn laut Gleisaufsicht war er auf dem Bahnsteig in einer Pfütze Kinderkotze ausgerutscht. Danach musste er erst mal seine Uniform putzen. Noch in der Mittagspause hatten sie über diese Geschichte gelacht.

Gegen drei hätte er fast den Anruf von seinem Hausmeister verpasst. Der wollte nächsten Dienstag kommen, wofür Max sich freihalten sollte, konnte aber selbst noch nicht zu hundert Prozent zusagen, weil, na Max könne sich das ja sicher vorstellen, er als Hausmeister natürlich viel zu tun habe. Aber Max sei ihm natürlich wichtig. Den Hahn wolle er so schnell wie möglich reparieren.

Die U-Bahn nach Feierabend hatte zehn Minuten Verspätung und Luise wartete schon an einem Döner auf ihn. Sie teilten sich zwei Bier und einen Joint und im Licht der Eckkneipe sah ihre üppige Körperfülle dann wieder erstaunlich jung aus.

Spätabends kam er allein nachhause und ging er zum Pinkeln ins Bad. Das mit dem Hausmeister hat keine so große Eile, dachte er dann fasziniert. Er stand vor dem Waschbecken. Der Hahn leckte im ruhigen Rhythmus. Es war ein ziemlich guter Tag gewesen und Max hörte das Tropfen der Zeit.
 
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Val Sidal

Mitglied
lietzensee, ein ziemlich guter Text -- der normale Wahnsinn ...
Ich habe den Text vor meinem geistigen Auge anders verfasst gelesen, nämlich so:

War ziemlich gut, antwortete Max. Denn es war ein ziemlich guter Tag gewesen, nicht herausragend, aber ohne böse Überraschungen und im Strom der dahinfließenden Tage eine gute Spanne zwischen Aufstehen und zu Bett gehen.
-- ab hier, den Rest, ganz auf direkte Rede verzichtend -- bis hierher:
Nach Feierabend hatte die U-Bahn zehn Minute Verspätung und Luise wartete auf ihn an einem Döner. Zwei Bier, ein Joint und im Licht der Eckkneipe sah ihre üppige Körperfülle erstaunlich jung aus.
Als Max spätabends seine Haustür aufschloss, ging er zum Pinkeln ins Bad. Das mit dem Hausmeister hat keine so große Eile, dachte er dann. Fasziniert stand er vor dem Waschbecken. Der Hahn leckte im ruhigen Rhythmus. Es war ein ziemlich guter Tag gewesen und Max hörte das Tropfen der Zeit.
In einem so kurzen Text zerhakt die die direkte Rede den Rhythmus und zerfetzt die Atmosphäre.
So gelesen hat mir der Text dann sehr gut gefallen.
Wie denkst du darüber?
Wen ich mit meinem Hinweis deine Absicht nicht getroffen haben, dann -- Pardon!
Gruß
 
Hallo lietzensee,

die Story könnte auch gut "Tropfen der Zeit" heißen.
Einen ganzen Tag von Max hast du in die wenigen Zeilen unterbekommen. Muss man auch erstmal schaffen :)

Zwei Bier, ein Joint und im Licht der Eckkneipe sah ihre üppige Körperfülle erstaunlich jung aus.
Müsste das nicht im Konjunktiv ("sähe") stehen? Es ist doch seine Vorstellung, richtig?
Ich habe auf jeden Fall nicht mitbekommen, dass er zwischendurch einen Joint hatte.

Textkram:
Wie war dein Tag? Schrieb sein Bruder.
schrieb

zehn Minute Verspätung
Plural

Frage mich, ob ein Plakat oder eine Verspätung ggf. der Anlass zum Text sein könnte.
Gern gelesen.

LG, Franklyn
 

lietzensee

Mitglied
Vielen Dank für eure Hinweise und die positiven Einschätzungen!

@Val Sidal jetzt wo du es sagst, die viele wörtliche Rede zerstückelt etwas. Aber die drei Fragen und Antworten indirekt zu erzählen, würde sicher mehr Platz brauchen und den Witz ausbremsen.
Hm, oder vielleicht kann man es doch indirekt erzählen. Dass X, lag an Y. Dass Y, lag an Z. Dass Z, lag an einer Pfütze Kinderkotze. Da müsste ich ein bisschen Probieren. Im Augenblick hab ich nicht so viel Zeit, aber ich will den Text noch mal überarbeiten.

@Franklyn Francis, vielen Dank dass du wieder genau hingesehen hast! Ich werd den Text noch mal polieren.

die Story könnte auch gut "Tropfen der Zeit" heißen.
stimmt, ist eigentlich der offensichtliche Titel.

Es ist doch seine Vorstellung, richtig?
Ich meinte es so, dass er sich wirklich mit Luise trifft. Sie schwanken immer mal zwischen Freundschaft und Beziehung und treffen sich, wenn beide nichts besseren Vorhaben. Das sollte ich dann noch klarer benennen.

Frage mich, ob ein Plakat oder eine Verspätung ggf. der Anlass zum Text sein könnte.
Es gab kein Plakat. Das war mir glaub ich auf einem Abendspaziergang eingefallen.

Viele Grüße
lietzensee
 

Val Sidal

Mitglied
Ich musste mich überwinden, hier DEINEN Text so aufzuschreiben wie ICH ihn gelesen habe.
Vor Jahren, als ich hier mit einigen Autoren regelmäßig an Texten gearbeitet habe, war es selbstverständlich, dass man seine Gedanken zum Text vorstellte -- direkt, ungeschminkt, Fragmente oder ganze Text-Varianten. Ich weiß noch, dass ich in der Lyrik-Abteilung, zwei vollständige Alternativen von zwei Kollegen zu einem durchaus problematischen, experimentellen Gedicht erhielt, welches ich in einer von mir entwickelten Spezialform ("Fraktalett") vorgestellt hatte. Spannende Textarbeit gewesen.
Wir empfanden Kritik und Hinweise immer als erkenntnisreich. Unsere Sensibilitätsgrenze war sehr hoch, weil wir im Grunde von der Qualität unserer Texte überzeugt waren. Und am Ende des Tages gehörten die Texte freilich immer dem Autor.

Dinge, auf die ich besonders geachtet habe:

Perspektive/Schnitte: geschmeidiger -- an den Ortswechsel gebunden; Zoom -- wo es hilft.
Erzähler (Ich-/Personal abwechselnd)
Rhythmus: gleichmäßig, ruhig-- als Kontrast zur Hektik in der Story
Atmosphäre - Stilfrage: mir schien, das Logbuchartige nicht "nah" genug -- wirkt abgelesen. Ich habe Max in der Rückschau den Tag lieber wieder erleben lassen:
Bei dem Bild musste Max schmunzeln: Karl war in der Bahnhofshalle gestolpert und kopfüber in einer Pfütze Kinderkotze gelandet. Er musste erst mal seine Dienstmütze putzen. Genau so hatte es die Aufsicht durchgefunkt.
Formatierung/ Redaktion: durch "Taktstriche" (Leerzeilen) erleichtere ich dem Leser meinem Rhythmus und Tempovorschlag zu folgen, was ja bei diesem Text mir als essentiell erscheint.

Hier also, wie ich deinen Text gelesen habe:

Wie war dein Tag? Schrieb sein Bruder. Freitag schrieb er meistens kurz vor Mitternacht. War ziemlich gut, antwortete Max. Denn es war ein ziemlich guter Tag gewesen, nicht herausragend, aber ohne böse Überraschungen und im Strom der dahinfließenden Tage eine gute Spanne zwischen Aufstehen und zu Bett gehen.
Er spulte den Film in seinem Kopfkino zum Morgen und resümierte:

In der U-Bahn hatte ich beim Handy-Spiel einen neuen Rekord aufgestellt.
Der Stapel auf dem kleinen Bildschirm gelang mir ein paar Pixel-Klötzchen höher als je zuvor.
Am Gleisdreieck umgestiegen.
Von der oberen Plattform den Sonnenaufgang beobachtet und bei den Treppen ein neues Plakat entdeckt: Tropfen der Zeit – von der Band hatte ich noch nichts gehört. Zeit, mal wieder auf ein Konzert zu gehen – oder war das ein Theaterstück?

Auf der Arbeit – hektische Fragen, von den Kollegen zugeworfen:
Dieter wollte wissen, warum die Bahn am Gleis Sechs noch nicht abgefahren sei. Kurzer Check – weil die Bahn vom Gleis Eins noch die Weiche blockierte – Check!
Warum der Zug vom Gleis Eins denn verspätet sei – Gert ärgerte sich immer, wenn ein Lokführer es nicht rechtzeitig in seine Kabine geschafft hatte.
„Der wusste doch, wann er abfährt. Warum hat Karl denn so lange gebraucht?“, empörte sich Inge.

Bei dem Bild musste Max schmunzeln: Karl war in der Bahnhofshalle gestolpert und kopfüber in einer Pfütze Kinderkotze gelandet. Er musste erst mal seine Dienstmütze putzen. Genau so hatte es die Aufsicht durchgefunkt. Über die Geschichte lachten alle noch in der Mittagspause.

Gegen drei hätte Max fast den Anruf von seinem Hausmeister verpasst. Der wollte nächsten Dienstag kommen, wofür er sich freihalten sollte, konnte aber selbst noch nicht zu hundert Prozent zusagen, weil, na Max könne sich das ja sicher vorstellen, er als Hausmeister natürlich viel zu tun habe. Aber Max sei ihm natürlich wichtig. Den Hahn wolle er so schnell wie möglich reparieren.

Nach Feierabend hatte die U-Bahn zehn Minute Verspätung und Luise wartete auf ihn an einem Döner. Zwei Bier, ein Joint und – im Licht der Eckkneipe sah ihre üppige Körperfülle erstaunlich jung aus.

Als Max spätabends seine Haustür aufschloss, ging er zum Pinkeln ins Bad. Das mit dem Hausmeister hat keine so große Eile, dachte er dann. Fasziniert stand er vor dem Waschbecken. Der Hahn leckte im ruhigen Rhythmus.

Es war ein ziemlich guter Tag gewesen und Max hörte das Tropfen der Zeit.


Wenn mein Kommentar nicht hilfreich wahr, dann -- Pardon!
 
Zuletzt bearbeitet:

lietzensee

Mitglied
Hallo Val,
vielen Dank für deine ausführliche Antwort! Es freut mich, dass du so tief in den Text eindringst. Für Varianten bin ich immer zu haben. So könnte man den Text auch schreiben.
Zwei Sachen gefallen mir nicht so. Der Wechsel zwischen erster und dritter Person ist mir zu verwirrend. Den Dialog auf der Arbeit will ich möglichst kurz und auf die Pointe fokussiert halten. Aber ich denke, dein Hinweis auf den Dialog ist schon richtig. Eigentlich bin ich selber kein großer Freund von langen Dialogen. Die bremsen Geschichten oft aus.

Ich habe den ganzen Text jetzt noch mal überarbeitet.


Viele Grüße
lietzensee
 

Val Sidal

Mitglied
Hallo lietzensee,

ein sehr guter Text geworden!
Dennoch würde ich (auch im Sinne der besseren Lesbarkeit) das Tröpfeln der Zeit redaktionell markieren:

Wie war dein Tag? schrieb sein Bruder. Freitag schrieb er meistens kurz vor Mitternacht. War ziemlich gut, antwortete Max. Denn es war ein ziemlich guter Tag gewesen, nicht herausragend, aber ohne böse Überraschungen und im Strom der dahinfließenden Tage eine gute Spanne zwischen Aufstehen und zu Bett gehen.

Morgens in der U-Bahn hatte er in seinem Roman die Seite zweihundertfünfundsechzig gelesen. Damit hatte er genau die Mitte des Buches erreicht und andächtig umgeblättert. Die Mitte eines Buches fühlte sich immer gut an, wie ein erreichtes Etappenziel. Die zweite Hälfte las sich dann stets schneller. Beim Umsteigen am Gleisdreieck sah er von der oberen Plattform aus den Sonnenaufgang und bei den Treppen hing ein neues Plakat. Tropfen der Zeit, von dieser Band hatte er noch nichts gehört. Aber er sollte mal wieder auf ein Konzert gehen. Oder war das ein Theaterstück?

Im Büro musste er über seinen Monitor hinweg die üblichen Fragen der Kollegen beantworten. Nein, die Bahn auf Gleis Sechs war noch nicht abgefahren, denn der Zug vom Gleis Eins blockierte noch die Weiche. Ja, die Bahn von Gleis Eins war verspätet, denn der Lokführer hatte es nicht rechtzeitig ins Führerhaus geschafft. In der Tat, Lokführer Herbert hatte mal wieder Pech gehabt, denn laut Gleisaufsicht war er auf dem Bahnsteig in einer Pfütze Kinderkotze ausgerutscht. Danach musste er erst mal seine Uniform putzen. Noch in der Mittagspause hatten sie über diese Geschichte gelacht.

Gegen drei hätte er fast den Anruf von seinem Hausmeister verpasst. Der wollte nächsten Dienstag kommen, wofür Max sich freihalten sollte, konnte aber selbst noch nicht zu hundert Prozent zusagen, weil, na Max könne sich das ja sicher vorstellen, er als Hausmeister natürlich viel zu tun habe. Aber Max sei ihm natürlich wichtig. Den Hahn wolle er so schnell wie möglich reparieren.

Die U-Bahn nach Feierabend hatte zehn Minuten Verspätung und Luise wartete schon an einem Döner auf ihm. Sie teilten sich zwei Bier und einen Joint und im Licht der Eckkneipe sah ihre üppige Körperfülle dann wieder erstaunlich jung aus.

Spätabends kam er allein nachhause und ging er zum Pinkeln ins Bad. Das mit dem Hausmeister hat keine so große Eile, dachte er dann fasziniert. Er stand vor dem Waschbecken. Der Hahn leckte im ruhigen Rhythmus.

Es war ein ziemlich guter Tag gewesen und Max hörte das Tropfen der Zeit.

Viele Grüße
 

Val Sidal

Mitglied
Übrigens:
[Max - JETZT]
Wie war dein Tag? schrieb sein Bruder. Freitag schrieb er meistens kurz vor Mitternacht. War ziemlich gut, antwortete Max. Denn es war ein ziemlich guter Tag gewesen, nicht herausragend, aber ohne böse Überraschungen und im Strom der dahinfließenden Tage eine gute Spanne zwischen Aufstehen und zu Bett gehen.
[/QUOTE]

[der Tag - Rückblick]

[Max - JETZT]
Es war ein ziemlich guter Tag gewesen und Max hörte das Tropfen der Zeit.
[/QUOTE]

Mindestens diese Schnitte wären redaktionell wünschenswert.
 
Hallo lietzensee,

ein paar Kleinigkeiten in Sachen Textarbeit:

Wie war dein Tag? Komma schrieb sein Bruder. Freitags schrieb er meistens kurz vor Mitternacht. neue Zeile
War ziemlich gut, antwortete Max. Denn es war ein ...

... Luise wartete schon an einem Döner (einer Dönerbude) auf ihn. Sie teilten sich zwei Bier und einen Joint Punkt und Im Licht der Eckkneipe ...

Die beiden Leerzeilen, die Val Sidal empfiehlt, würde ich ebenfalls nahelegen.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

lietzensee

Mitglied
Guten Abend Val und Rainer,
vielen Dank für eure Antworten! Also auf zur nächsten Runde.

Über die Leerzeilen musse ich etwas nachdenken, aber ich habe sie jetzt eingebaut. Vielen Dank für die Anregung Val.

Vielen Dank auch für deine Hinweise Rainer. Beim Döner hat die Grammatik noch etwas gewackelt. Stimmt auch, eigentich gehört zwischen Rede und Gegenrede ein neuer Absatz. Aber Leerzeilen und dann noch Absätze würden mir den Text zu unruhig machen. Ich bringe auch tatsächlich gerne mal zwei und in einem Satz unter.

Viele Grüße
lietzensee
 
Hallo lietzensee,

sieht schon viel besser strukturiert aus. Der Text wirkt dadurch nicht unruhig oder so. Finde ich.
Du musst ja nicht alles übernehmen, das ist in Ordnung, denn es ist Dein Stil und Dein Werk. Dennoch gefiele mir persönlich die Einleitung mit Rede und Gegenrede besser, wenn sie nicht im selben Fluss stünden. Und bei meinem Vorschlag fiel mir jetzt auf, dass ich das 's' bei Freitags nicht farbig markiert hatte. Daher ist es Dir vermutlich nicht aufgefallen. Wenn er 'meistens kurz vor Mitternacht' schreibt, es also häufiger vorkommt, dann muss dieses 's' natürlich auch sein.

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 



 
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