Ein Zwischenfall in Zin-Âching

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pol shebbel

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(Einführung des Protagonisten. Noch ist sein Leben ruhig und friedlich - aber das wird sich ändern...)

"Mann, war das ein Traum..." dachte Paril Sherritex. Der Regen prasselte noch immer in seinem Kopf, und der Donner raste. Aber um ihn herum - Stille. Natürlich regnete es nicht. Die Regenzeit war vorbei - und solch einen Regen hatte es selbst während ihr nicht gegeben...

Paril Sherritex bewegte seine Glieder. Sie waren steif, und die Bewegung schmerzte etwas. Na, vor der Frühlingstagundnachtgleiche sollte man nicht unbedingt draussen Siesta halten... Noch einmal das Aufleuchten der ganzen inneren Welt beim Blitzeinschlag. Und in der äusseren Welt noch einmal der Ruf des Akrobatenvogels. Es war ein hoher, schneidender Ton, wie wenn man mit etwas Metallenem an einer Leiersaite reisst. Ein Rascheln, eine kleine Bewegung eines Zweiges - dort, wo der Akrobatenvogel eben gewesen war. In jedem Augenblick, in dem man ihn beobachten wollte, war er immer schon woanders.

Paril, Sohn des Sherritex, hob den Kopf. Sein Nacken schmerzte auch ein bisschen. Der Vogel war natürlich nicht mehr zu sehen, nur die lichtgrünen, fast durchsichtigen Frühlingsblätter der Pyramidalbäume und die dunkelgraugrünen Stränge der Feigenlianen. Die Lianen!... Er hatte auch irgend etwas von Lianen geträumt. Was war es gewesen? Paril Sherritex lauschte in sich hinein, versuchte, das Regenrauschen noch einmal zurückzurufen. Das Gefühl, das er am Schluss gehabt hatte, war noch sehr stark, aber von den einzelnen Begebenheiten wusste er fast gar nichts mehr. Da war nur eine Art unheimliches Gefühl beim Anblick der graugrünen Masse, als könnte sie sich plötzlich in Bewegung setzen... Paril Sherritex lächelte bei dem Gedanken. Eine Liane und bewegen? Sie war so passiv wie ein Stein (vorausgesetzt, es war keine Würgeliane), und manchmal war es schwierig festzustellen, ob sie überhaupt noch lebte...

Paril liess seinen Blick durch die Maschen seiner Hängematte nach unten gleiten. Eine halbe Mannslänge unter ihm lag eine beschriebene Holztafel auf dem Boden seines Baumhauses. Sie musste ihm aus den Händen geglitten sein, als er beim Lesen eingenickt war. Puh, es war gut, dass bald Tagundnachtgleiche war - in wenigen Tagen würde diese Lernerei zu Ende sein.

Paril Sherritex gähnte, streckte sich ( so gut das in der Hängematte möglich war) und richtete sich langsam auf, wobei sein langer Körper zusammen- und wieder auseinanderklappte wie ein Klappmesser. Er war fast einen Kopf grösser als die meisten andern im Dorf und dabei so dürr wie ein Stecken. Da sass er nun, mit baumelnden Beinen, leicht schaukelnd in der Hängematte, noch etwas zittrig von dem Schock, mit dem er aus dem Traum gefahren war. Seine Hautfarbe war, wie die der meisten Menschen von Frascha, bräunlich-olivfarben; seine Haare waren dunkelbraun, kurz und glatt, das Gesicht klein, mausähnlich, etwas sommersprossig und jünger aussehend, als es war. Da sass er und sinnierte über seinen Traum nach. Fast alles davon schien nun aus seinem Gedächtnis verschwunden - zu seinem nicht geringen Ärger; denn Träume waren wichtig. Es war in den Träumen, wo die Kommunikation zwischen Bäumen und Menschen hauptsächlich stattfand, und diese Kommunikation war ein essentieller Teil des Berufes, für dessen Eintrittsprüfung er seit zwei Monaten wie besessen lernte. Verflixt, irgendwo mussten diese Erinnerungen an den Traum aber doch noch sein - seine Wahrnehmung war nämlich subtil verändert: auch wenn er sich gar nicht erinnert hätte, würde er eine Liane jetzt anders ansehen als vorher. Ich möchte wissen, dachte er, was in meinem Kopf sonst noch so vorgeht, von dem ich keine Ahnung habe?

Ein kleines Geräusch erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Instinktiv bog er den Kopf zur Seite - und eine pflaumengrosse Frucht sauste haarscharf an ihm vorbei. Ohne Hast hob Paril den Arm, griff nach einem von oben herabhängenden Strick und zog daran. Ein Knacken und Prasseln und ein gedämpfter Schrei erschollen hinter ihm. Er lächelte zufrieden, während er aus der Hängematte glitt und sich umdrehte.

Eine Mannslänge unter ihm auf dem Boden tauchte Gânssi zwischen zwei Gebüschen auf und näherte sich dem Baum. Dabei rieb sie unablässig an ihrem Gewand und zupfte an ihren Haaren, um die welken Blätter und kleinen Zweige zu entfernen, die überall an ihr klebten. "Du Schuft!" rief sie in gespieltem Ärger zu ihr herauf. "Der Belsh-Kittel war gerade frisch gewaschen..."

Paril lachte. Er hatte einen tiefen Bariton, der zu seinem schlaksigen Äusseren nicht recht zu passen schien. "Du hättest mich besser kennen sollen!" rief er zurück. "Ich weiss doch, dass es nur eine Richtung gibt, von der aus man sich unbemerkt an meinen Baum anschleichen kann. Und dass ich eine Abwehrvorrichtung installieren würde, habe ich dir auch schon gesagt!"

Gânssi stand jetzt direkt unter ihm neben dem Baumstamm und schaute zu ihm auf. "Ja, gesagt, gesagt! Gesagt hast du es schon seit Wochen, aber getan hast du nie etwas! Und ich dachte, so kurz vor der Prüfung... Nachher ist es schliesslich nicht mehr dein Baum."

"Na, vielleicht doch", entgegnete Paril, "wenn ich durchfalle... Was bei dem Lehrer, den ich hatte, auch kein Wunder wäre!"

"Pfui, wie gemein zu mir!" machte Gânssi. "Da rackert man sich ab, dir das Grüne Buch beizubringen - und was ist der Dank? Übrigens: darf ich raufkommen?" "Ja, sicher", entgegnete Paril.

Gânssi verschwand unter Parils Füssen, um wenig später durch ein Loch im Fussboden des Baumnhauses wieder aufzutauchen. Auch sie war grossgewachsen und schlank. Sowohl ihre Haut als auch ihre Haare waren ungewöhnlich hell; ihre Nase war gerade und feingeschnitten, und ihre Lippen waren schmal. All das liess sie aussehen wie ein Fräulein aus der Stadt - bis auf den "Belsh-Kittel" natürlich, das lange grüne rituelle Gewand der ländlichen Galbell, der Baumpriester. "Aber eins musst du zugeben", sagte sie, "die Rednerpflaume war gut gezielt, nicht?"

"Ja - kann man so sagen", stimmte Paril zu, "sie hat mich nur um Haaresbreite verfehlt..." Diese sogenannten Rednerpflaumen waren äusserst beliebt bei der Kinderwelt. Die Früchte dieser Pflanze entwickeln sich in grossen, bohnenähnlichen Hülsen, die zur Zeit der Reife einen enormen Druck entwickeln. Bei der kleinsten Erschütterung explodiert die Schote, und die Pflaume fliegt bis zu 10 Mannslängen weit davon. Wenn man sie vorsichtig abpflückt und geschickt handhabt, kann man die Frucht in jede gewünschte Richtung schiessen. Ihren Namen hat sie von dem Brauch, sie bei politischen Versammlungen zu benutzen, um sein Missfallen kundzutun; am meisten jedoch mögen sie natürlich die Kinder, die sich damit zu duellieren pflegen. Solches hatten natürlich auch Paril und Gânssi früher ausgiebig getan, meistens mit Resultat zugunsten Gânssis, weswegen sie dies auch heute noch von Zeit zu Zeit gerne versuchte - nicht mehr so oft natürlich; mit 21 Jahren kann man nicht mehr gut Dummejungenstreiche machen, und als Angehörige der Galbell schon gar nicht.
"Übrigens, was die Prüfung betrifft...", sagte sie und blickte ihn an, "wie wäre es mit einem kleinen Test? Sag mir... was sagt das Grüne Buch über... 'das Dorf'?"

Paril reagierte sofort. Er schloss die Augen, und nach kurzer Zeit legte er los:

"Ein Wesen ist das Dorf, wie alle Wesen,
Lebendig ist, was eine Seele hat.
Das Tier hat Augen, Haare, Beine, Blut,
äh... Der Baum hat Blätter, Rinde, Zweige, Wurzel,
das Dorf hat Menschen, Tiere, Bäume, Wege.
Ein Wesen ohne Seele ist ein Ding,
Kein Ganzes, nur die Summe seiner Teile.
Die Seele ist es, die das Ganze schafft.
Als Wesen kann ein Dorf geboren werden,
Kann wachsen, blühen, krank sein, sogar sterben.

Der Mensch... äh... muss das Dorf lebendig machen, also... wissen, dass er Teil eines grösseren Wesens ist... Und auch jedes Dorf ist wieder Teil eines grösseren Wesens... Ssai hat Gehölze Dörfer, Herden..."

"Halt, halt!" unterbrach ihn Gânssi. "das ist zwar dem Sinn nach richtig, aber die Worte sind falsch. Mir scheint, dir fehlt das Gefühl für dichterische Schönheit."

"Aber darauf kommt es doch nicht an", verteidigte sich Paril. "Das Wichtigste ist doch, dass man den Sinn begriffen hat. Das Drumherum ist doch Firlefanz."

"Firlefanz?!" rief Gânssi aus. "Bei allen 4 Naturgewalten,sag das bloss nicht an der Prüfung! Der Nuchaelkal versteht keinen Spass."

"Na, das ist nun allerdings wahr", meinte Paril, "hmm - da krieg ich doch glatt Angst..." Und er zog die Schultern ein und blickte ängstlich hin und her.

Gânssi lachte auf. "Nur keine Angst! Beim Lernen muss man immer so streng wie möglich sein. Ganz im Ernst: Du hast alle Voraussetzungen zu bestehen. Sollte es doch nicht klappen, dann liegt es nicht an dir..."

"Hmm", brummte Paril. Er war plötzlich etwas verstimmt, denn sie hatte den wunden Punkt bei seiner Bewerbung zum Baumpriester berührt: Auch wenn man alles wusste, war ein Bestehen der Prüfung keinesfalls sicher - wegen der Prüfer. Diese waren im allgemeinen auf alles "Neumodische" nicht sehr gut zu sprechen; und einen aus den Galâm, einen Bauernsohn, in ihre Reihen aufzunehmen, fiel ihnen seit jeher schwer. Wobei Paril nicht einsah, wo das Problem liegen sollte - schliesslich stammte auch Workash Âssing ursprünglich aus den Galâm, und der hatte es immerhin zum Hohepiester von Asîmchômsaia gebracht... Paril warf einen Blick über das Geländer in den Wald. "Es wird bald dunkel", sagte er, "gehen wir ins Dorf."

Sie stiegen durch das Loch der Plattform, kletterten den schrägen Pyramidalstamm hinunter und begaben sich auf den Dorfweg. Dieser bestand aus Holzplanken und war etwas erhöht gegnüber dem Boden, damit die Wurzeln der Bäume nicht beeinträchtigt wurden. Die Nachmittagsstille war inzwischen abgelöst von dem vielstimmigen Piepsen, Pfeifen und Keckern der Tiere der Dämmerung. Einmal ertönte unter den Holzplanken ein leises Kratzen; Paril stampfte mit dem Fuss auf, worauf eine kleine Drachenechse erschreckt unter dem Weg hervorschoss und flüchtete. Rechts und links von ihnen waren die Stämme der Pyramidalbäume von Unkraut gesäubert und bepflanzt mit Handwurz: niedrige Pflanzen mit zähen, dunkelgrünen, lanzenförmigen Blättern und kleinen, dunkelbraunen, handförmigen Knollen an langen Stielen. Während der Regenzeit, den Winter hindurch, waren sie gewachsen; in rund einem Monat würde man sie ernten können. Paril fühlte plötzlich einen Stich von Bedauern, als er realisierte, dass er bei der Ernte nicht dabei sein würde. Wenn er die Prüfung bestand, dann gehörte das hier, die Felder seines Vaters, nicht mehr ihm, sondern seiner Schwester Mîkir und ihrem Mann Wokechm. Auf eine gewisse Weise natürlich immer noch ihm, denn als Kalbell war man verantwortlich für alle Bäume der Gemeinschaft. Aber trotzdem: das Verhältnis zu den Bäumen würde nicht mehr so persönlich sein wie bisher...

Gânssi stiess ihn an und verscheuchte dadurch die Gedanken. "Sieh die Handwurz an! Was sagen sie über die Ernte?"
Paril drehte den Kopf in Richtung Feld. "Die Ernte wird schlecht", sagte er.

"Das weiss jeder im Dorf", erwiderte Gânssi, "aber was siehst du?"

Paril legte den Kopf schief. "Wenn die Regenzeit gut ist", sagte er, "werden die Blätter heller, die Knollen werden fett. Ist der Regen spärlich, bilden die Knollen eine dickere Haut und werden damit dunkler. Sie werden härter zum Beissen, manche werden hart wie Stein und ungeniessbar. Die anderen jedoch haben einen viel feineren Geschmack..."

"Sehr gut!" lobte Gânssi. "Ich sehe, du kennst nicht nur die Theorie. Es scheint doch nicht von Nachteil, ein Kalâm zu sein..."

"Natürlich nicht - sag ich doch die ganze Zeit..."

Sie erreichten den Rand der Wohnzone des Dorfes. Eine hohe Holzverbauung ragte vor ihnen auf, kunstvoll von Baum zu Baum gebaut. Sie ging rund ums Dorf und diente als Schutz gegen wilde Tiere und Räuber; und da im Pyramidalwald alle Menschen und viele Tiere klettern konnten wie die Affen, ging die Schutzwand hoch hinauf bis in die Zweige. Jetzt war das Tor offen, und die zwei traten ein. Im Dorf war es noch etwas dämmriger als draussen; längs des Weges und überall in den Bäumen hingen schon Laternen, die die Blätter gelborange färbten. Wie auf dem Feld standen auch hier die Bäume dicht an dicht, denn Bäume waren heilig. Die Stämme waren sorgfältig gesäubert, jedoch nicht bepflanzt; ihr Inneres war ausgehöhlt, so dass ein Mensch darin sitzen konnte. Dies waren die Meditationsstätten, die Orte der Einkehr und Besinnung für die Fraschagal, die Menschen dieser Welt. Ihre Behausungen waren höher oben in die Kronen der Bäume gebaut, untereinander durch Strickleitern und Brücken von Baum zu Baum verbunden. Es herrschte Ruhe im Dorf, die Ruhe eines zur Neige gehenden Sonntags. Die Leute sassen pfeiferauchend in den Lauben oder standen schwatzend neben dem Weg; die gezähmten Flokaigrabs dösten im Schatten oder glitten ohne Hast mit ihrer katzenhaften Anmut durch die Zweige; die Kinder turnten quietschend durch die Äste oder krochen unter dem Weg hindurch. Und doch, jeder wusste es: die Ruhe war trügerisch. Die Ernte wurde schlecht; man brauchte nicht das ganze Grüne Buch auswendig zu lernen, um das zu wissen. Der Regen war spärlich gewesen, so wie er schon im vorherigen Jahr und auch in dem davor spärlich gewesen war. Die Leute hier hatten noch ihre Ruhe, gewiss; doch dieses Dorf, Onnikir, galt als wohlhabendes Dorf. An anderen Orten drohte schon der Hunger; es hatte Krawalle und Plünderungen gegeben. Ein Schicksal, das unweigerlich auch O'kir erreichen würde, wenn der Regen weiter ausblieb.

Paril blieb stehen. Sie waren bei seinem Heim angelangt. "Tja", sagte Gânssi", wir sehen uns wohl bald wieder. Ich wünsche dir noch Glück für deine erste Prüfung morgen." "Oh, danke, danke", erwiderte Paril. "Ich kanns gebrauchen. Tschüss!" Gânssi wandte sich zum Gehen. "Und denk an die dichterische Schönheit!" rief sie ihm noch zu, dann war sie verschwunden.

Paril blieb einen Augenblick stehen, während ihn Wortfetzen und Bilder im Kopf herumwirbelten - dichterische Schönheit, Gânssis Lachen, noch einmal ein Zucken des Feuers aus dem Traum, ein welkes Blatt auf Gânssis Haar... Dann schüttelte er unwillig den Kopf und wandte sich dem heimischen Pyramidalbaum zu. Mit langjährig geübten Bewegungen stieg er den Stamm hinauf auf die erste Plattform, schwang sich über Äste und Strickleitern auf den nächsten Baum. Dort in der Laube sass, die Pfeife im Mund, sein Vater; Sherritex Pol, ein hagerer Bauer mit wettergegerbtem Gesicht. Paril legte die Handflächen aneinander und neigte leicht den Kopf. "Workash Vuklo", grüsste er auf die traditionelle Weise, "ein schöner Abend."

Der Vater nahm bedächtig die Pfeife aus dem Mund und erwiderte den Gruss. "Ein schöner Abend. Viel gelernt heute?"

"Ja", sagte Paril. "Ich glaube, es ist genug. Das Feuer brennt; mit noch mehr Nahrung würde es ersticken."

"Nun", sagte Sherritex und zog an der Pfeife, "du musst es wissen. Ich kann dir nicht helfen; meine Stärke ist die Erde, nicht das Feuer - wie du weisst."

"Ja, ja", erwiderte Paril etwas irritiert, nach einer Entgegnung suchend. Doch der Vater lächelte und hob die Hand. "Keine Angst, wir brauchen nicht mehr über deinen Entschluss zu diskutieren. Ich verstehe ja, dass es dein Traum ist, ein Priester zu sein. Und den Galbell tut es auch gut, wenn einer von ihnen nicht sein ganzes Leben in den Zweigen geschwebt hat..."

Die Galbell schweben nicht in den Zweigen, Vater, wollte Paril entgegnen, aber er liess es, denn in diesem Augenblick erschien seine Mutter in der Laube. Kaum hatte sie ihn erblickt, stiess sie einen freudigen Schrei aus und schwang die Arme. "Ah - der ehrwürdige Herr ist da! Genug gelernt, Workash Kal?" Auch sie war hager, aber klein, viel kleiner als Paril inzwischen; dazu hatte sie ein umwerfendes Temperament. Sie liess sich jetzt von Paril über den vergangenen Arbeitstag erzählen (nachdem er den Workash Kal abgelehnt hatte - noch war er schliesslich kein Priester!), während sie sich am Lehmofen in der Ecke zu schaffen machte. (Es war ein Kohlenofen, also eigentlich etwas "Neumodisches"; aber die Brandgefahr war weitaus geringer als beim herkömmlichen Holzofen, und somit diente er der Erhaltung des Pyramidalwaldes; deshalb wurde er von vielen benutzt, auch wenn die benötigten Kohlen in den Bergen unter nicht sehr baumfreundlichen Bedingungen gefördert wurden.) Der Vater sog weiter an seiner Pfeife, während die andern beiden sich unterhielten. Nach einer Weile nahm er sie aus dem Mund und schaltete sich wieder ein. "Übrigens, bevor ich es vergesse", sagte er, "der Nuchaelkal will dich heute noch sprechen."

Parils Mund blieb offen stehen. "Der Meister?" rief er.

"Ja, gerade vor einer halben Stunde war er hier. Er sagte, du solltest zum Heiligen Baum kommen."

Parils Ruhe war wie weggeblasen. "Das Vorgespräch!" stiess er hervor. "Das Vorgespräch!" Und er warf einen gehetzten Blick auf den Ofen. "Das Essen dauert noch eine Weile", antwortete die Mutter, bevor er fragen konnte. "Vielleicht ist es gut, wenn du gleich gehst..."

Paril hatte kaum Zeit, sich zu bedanken. Schon war er auf der Strickleiter, turnte eilig die Äste entlang, die Plattform hinunter. Shebbel, das Haus-Flokaigrab, kam an und wollte gestreichelt werden; diesmal gab es nur einen kleinen Klaps, dann polterte Paril über den hölzernen Weg davon. Das Vorgespräch! Alle andern, die in diesem Frühling ihre Weihe erhalten sollten, hatten ihr Vorgespräch längst gehabt, nur er noch nicht. Und heute, am letztmöglichen Zeitpunkt, kam der Nuchaelkal, der erste Diener des Heiligen Baumes, das ehrwürdige Oberhaupt des Dorfes, persönlich vorbei - und Paril war nicht da! Das war keine gute Ausgangslage für die Prüfung, wirklich nicht. Das Vorgespräch war nämlich fast wichtiger als die Prüfung selbst. Ein Priester musste ja nicht nur viel wissen, sondern vor allem eine gute Seele und Persönlichkeit haben, um dem Wohl der Gemeinschaft und der Bäume zu dienen. Um diese Qualitäten abzuschätzen, wurden die Vorgespräche geführt; und da kam es vor allem auf den persönlichen Eindruck an... Paril beeilte sich, so sehr er konnte. Freunde und andere Leute begrüssten ihn; er nickte ihnen nur kurz zu und eilte weiter. Ein Bettler hockte auf einem Baum und liess einen Korb herabhängen; Paril stiess mit dem Kopf dagegen und bemerkte es nicht einmal. So kam er schliesslich bis kurz vor den Dorfplatz; dort blieb er stecken. Der Weg war in seiner ganzen Breite vollgestopft mit Leuten.. Du grüne Neune, was war denn hier los?

Der Dorfplatz war eine grosse Plattform, gut mannshoch von mehreren Pyramidalbäumen getragen, deren Kronen in Abständen aus Löchern herauswuchsen. In seiner Mitte war das grösste Loch; dort stand der Heilige Baum, das Zentrum des Dorfes - ein Pyramidalbaum, auf dem jegliches Jäten und Anpflanzen verboten war und der bei allen heiligen Akten eine zentrale Rolle spielte. Der in Onnikir war bewachsen mit einem wilden Gestrüpp von Sträuchern mit Dornen und weissen, spinnwebartig über den Ästen liegenden Fäden; eine wilde Variante des Buifshchimlai oder Wollbusches, von dem es nördlich von O'kir weite Felder gab und aus dem man dort die berühmten leichten Stoffe herstellte.Hier und unter dem Dorfplatz war die Wohn- und Wirkungsstätte und der Galbell, der Diener des Heiligen Baumes. Im Augenblick aber war es hoffnungslos, zum Meister vorzudringen. Der ganze Platz war voll von erregt diskutierenden Menschen; das halbe Dorf musste auf den Beinen sein. Paril entdeckte Gânssi und ein paar andere von seinen Freunden und bahnte sich einen Weg zu ihnen durch. Auch sie waren am Diskutieren.

"Es musste doch so kommen!" sagte Etuik gerade. "Jeder Gläubige hat es vorausgesehen. Aber sie wollen es nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Götter sie strafen, sie wollen nicht!"

"Hallo", sagte Paril, "Ein schöner Abend... Sagt mal, was ist denn bloss los?"

"Hallo, Paril", sagte Wora-Goch. Was, du weisst es noch gar nicht?"

"Ein Bote aus O'zomap Loemparl ist gekommen", sagte Gânssi. "In Zin-Âching sei der Teufel ausgebrochen. Wilde Horden schweifen durch den Wald, sagt er, und sie plündern und brennen, wo sie hinkommen. Es ist unwahrscheinlich, aber doch möglich, dass sich ein paar davon bis in diese Gegend verirren könnten."

"Ah..." machte Paril. Zin-Âching - das war der Name, dessen Nennung jedem waldliebenden Fraschakal tiefste Abscheu erregte; das war der Ort, wo man grosse Flächen des Pyramidalwalds rücksichtslos abgeholzt und niedergebrannt hatte, um im Boden nach einem neuen Metall namens Eisen zu graben. Die Trockenheit der letzten Jahre hatte Zin-Âching besonders schlimm getroffen, und es war allgemein die Meinung, dass das die gerechte Strafe der Götter war.

"Ich sagte schon: sie wollen es nicht wahrhaben!" sagte Etuik hitzig. "Und wenn sie wenigstens nur plündern würden - aber sie legen Feuer! Einen Pyramidalbaum zu töten - einen heiligen Baum! Einen Teil von Ssai! Die Quelle der Fruchtbarkeit, den Beschützer allen Lebens - wie tief muss ein Mensch sinken, um das fertigzubringen!" Hilflos schüttelte er den Kopf. Er war erst 16 (2 Jahre jünger als Paril), klein und feingliedrig und hatte weiche Gesichtszüge; es war seltsam, ihn so wütend entschlossen zu sehen.

"Es kommt alles aus dem Gebirge", sagte Wora-Goch, "und aus dem kalten Süden. Dort soll es Menschen geben, die in ihrem Leben noch nie in einem Pyramidalbaum meditiert haben. Kein Wunder, dass sie krank werden!" "Ja, genau!" rief Etuik. "Ein Leben ohne Pyramidalbäume - ich kann mir das gar nicht vorstellen..."

Paril hörte mit einem Ohr zu, während seine Blicke dauernd über den Platz schweiften. Dort, am langen grünen Gewand zu erkennen, war der Meister; klein und vertrocknet aussehend von hier aus, mit wallendem grauem Haar. Er stand auf einer erhöhten Tribüne in der Mitte des Platzes gleich beim Heiligen Baum und fuchtelte nervös mit seinem langen Stab herum, um die aufgebrachte Menge zurückzuhalten. Ausser ihm stand noch ein anderer, Paril unbekannter Mann auf der Tribüne, wahrscheinlich der Bote aus Onnizomap. Die anderen grüngewandeten Wächter des Heiligen Baumes schwärmten über den Platz und versuchten Ruhe herzustellen. Eben schleppten zwei von ihnen eine grosse Trommel auf die Tribüne, und der eine begann auf sie loszudreschen. Zunächst übertönte er nur mühsam den Lärm auf dem Platz, aber schon nach wenigen Minuten wurde es stiller, und schliesslich war nur noch das rhythmische Wummern der Trommel zu hören. Der Meister gab ein Zeichen, und der Mann hörte auf zu trommeln. Daraufhin trat der Meister ans Geländer.

"Liebe Freunde", rief er mit seiner dünnen Greisenstimme in die plötzliche Stille hinein, "es besteht überhaupt kein Grund zur Aufregung. Der Aufruhr ist doch in Zin-Âching ausgebrochen, und Zin-Âching ist mehr als zwei Tagereisen von hier! Ausserdem sind es nur zersplitterte Horden von Waldfrevlern. Und es ist auch schon ein Bote nach Asîmchômsaia geschickt worden; die hochmeisterliche Armee wird uns also schützen, falls es wirklich gefährlich würde. Wir werden diese Nacht wachsam bleiben, aber ihr könnt ruhig schlafen. Also geht jetzt nach Hause!"

Ein Gemurmel erhob sich unter den Leuten. Aber die Wächter hatten sich inzwischen organisiert; sie rückten jetzt entschlossen mit ihren Stöcken vor und drängten die Dorfbewohner langsam, aber sicher vom Platz. Die meisten gingen denn auch schliesslich. Paril hingegen wollte unbedingt mit dem Meister sprechen und versuchte an den Wächtern vorbeizukommen; aber da wurden sie sofort ziemlich unfreundlich und stur und liessen sich auf keine Diskussionen ein. So blieb ihm nichts anderes übrig, als auch nach Hause zu gehen. Es war ein schöner Abend; Grillen zirpten im Gebüsch, und Leuchtkäfer tanzten um die Laternen. Aber Paril Sherritex war beunruhigt. Denn morgen sollte doch die erste Prüfung sein, und er hatte kein Vorgespräch gehabt! Und das alles nur wegen diesen dämlichen Waldfrevlern.
 



 
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