Einanderung

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N. Valen

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„Einanderung“ – das ist ein Wort, das sofort hängenbleibt.
Für mich klingt es wie der Vorgang des Einander-Werdens, etwas Dauerhaftes, fast Beschwörendes. Es wirkt vertraut und fremd zugleich – weil es so sauber aus der deutschen Wortbildung heraus wächst, und doch völlig neu ist.

Dass daneben auch „verleisebaren“ auftaucht, verstärkt die Wirkung: die Wörter klingen nicht wie Spielerei, sondern wie ernstgemeinte Zauberformeln. Das Gedicht wird dadurch zu einer Szene, in die man hineingezogen wird.

Ich habe mich beim Lesen gefragt, wie unterschiedlich Wortschöpfungen klingen können – mal beschwörend wie hier, mal spielerisch oder augenzwinkernd. Aber so oder so: sie öffnen einen Raum, den nur Lyrik erschaffen kann.

Bewertung:
„Der Text hat eine schöne, märchenhafte Stimmung und die Wortneuschöpfungen wirken originell. Für mich hakt es an manchen Stellen aber etwas im Lesefluss, sodass die Bilder nicht ganz so klar und geschlossen wirken.“
 

petrasmiles

Mitglied
Ja, das ist eine schöne peotische Situation mit viel 'Platz'.
Ich finde 'Einanderrung' (genügt 1 r?) wirklich gelungen und sehe es so wie N.Valen, aber 'verleisebaren' ist für mich nicht so 'sprechend', aber das kann ja an mir liegen.
Mich stört so ein bisschen der 'Zusammenschnitt' von Intimität im Realen und das zitierte Märchenhafte - hätte es doch gar nicht nötig; tatsächlich kommt es mir so vor, als sei das schöne neue Wort an das Märchenhafte verschwendet worden, auch, wenn ich den Verweis an das Unfassbare der letzten Zeilen auch wieder sehr, sehr schön finde.

Liebe Grüße
Petra
 

klausKuckuck

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Das macht eben der Unterschied zu den aufgeblasenen Werken eines gebildeten Schulmeisters:
Hier tut sich ein Geheimnis auf und lässt Vieldeutigkeiten los.

KK
 

sufnus

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Hey, Ihr Lieben! :)
Es freut mich sehr, dass Ihr für Euch so Vielerlei in dem kurzen Gedicht vorgefunden habt. Und ganz besonders interessieren mich die kritischen Überlegungen von Nova und Petra...

... aber zunächst einmal ein Merci @Aniella für die Betonung der Suchbewegung in dem Text. Diesen Aspekt zu unterstreichen ergibt durchaus Sinn. Bei den Stichworten "Wald" und "Märchen" kann man schnell bei verlorenen Kindern aus dem Hänsel-und-Gretel-Universum landen, die auf der Suche nach dem Weg (wohin auch immer) sind.

Ganz lieben Dank sodann @N. Valen für die Analyse der Neologismen. Es freut mich vor allem, dass die "Einanderung" für Dich organisch-nachvollziehbar klingt. Das Wort "einander" ist ja schon beinahe etwas altertümlich. Das ist eigentlich ein Pronomen (insofern kann es in einem Satz wie "Wir lieben einander" ein Akkusativobjekt bilden), wobei sich dieses Pronomen m. E. schon auf halbem Weg zum Adverb befindet und entsprechend bereitwillig in unterschiedliche Bedeutungsrichtungen derivatisiert, etwa "füreinander", "untereinander", "miteinander" (oder auch "das Miteinander"). Was ich allerdings gemacht habe, nämlich ein -ung zu verbauen, das ist im Deutschen eigentlich nur für die Derivation von Verben in Substantive vorgesehen (öffnen => Öffnung, vorhersehen => Vorhersehung usw.). Demzufolge musste ich im Geiste erst ein Verb "einandern" konstruieren, aus dem sich dann das vorliegende Substantiv "Einanderung" bilden lässt. Um also hier @petrasmiles Rückfrage vorzugreifen: Das Wort "Einanderung" ist etwa so gebildet worden wie das Wort "Wanderung" (auch der Anklang ist dabei im Gedichtkontext beabsichtigt), insofern tatsächlich nur ein "r". :)
Ansonsten, @N. Valen , sprichst Du noch Leseflusshakelungen an, das ist ein total wichtiger Aspekt und bietet womöglich Verbesserungsansätze, ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob Du damit rhythmische bzw. musikalische Irregularitäten meintest oder "Holperstellen" auf der Sinn-Ebene oder Brüche in der Perspektive (oder etwas ganz anderes ;) ). Da würd ich mich über Ergänzendes von Dir sehr freuen. :)

In ähnlicher Weise fänd ich es auch hilfreich, @petrasmiles , wo Du den (für Dich etwas störenden) Zusammenschnitt von Realem und Märchenhaftem siehst. :) Bei "Zusammenschnitt" denke ich an Filmtechnik - hast Du das in dieser Weise gemeint? Also wie eine Art Bild- oder Szenenmontage im Film? Wenn ich Dich richtig verstehe, dann hast Du sehr genau einen ggf. etwas kritischen Punkt bei dem Gedicht herausgelesen. Aber ich frag lieber nochmal nach. *nachfrag* :)

Schließlich auch - last but not least - ein Dankeschön an @klausKuckuck , dass Du die Vieldeutigkeiten und das "Geheimnis-Übriglassen" im Text betonst - daran ist mir ja immer (naja: oft) besonders gelegen. :) Über den Vergleich mit "dritter Seite" würde ich aber ggf. vorschlagen, nun nach und nach den Schleier des Ruhenlassen zu senken. Es sind hier - so sehr ich Genervtheitsschwingungen in dieser .... hm ... Angelegenheit ... bei mir selbst wahrlich nicht leugnen kann - nur Unerfreulichkeitsfortführungen zu "gewinnen". Vermutlich auch nicht mein letztes Wort dazu. Aber... naja.... aber halt....

LG!

S.
 

N. Valen

Mitglied
@snufus
Mit den „Leseflusshakelungen“ meinte ich tatsächlich in erster Linie das rhythmisch-musikalische Stolpern – also Stellen, an denen die Abfolge von Silben und Betonungen beim Lesen nicht ganz geschmeidig läuft. Das kann minimal sein (ein kleiner Trittstein, über den man stolpert), oder stärker bremsend wirken.

Brüche auf der Sinn-Ebene oder in der Perspektive würde ich nicht automatisch als „Hakeln“ sehen, die können ja durchaus ein bewusstes Stilmittel sein – also gewollt irritierend, oder absichtliche Kontraste.

Kurz: „Hakeln“ = Klangfluss stoppt.
Perspektiv- oder Sinnsprünge = eigene Kategorie, nicht negativ gemeint.

LG
N. Valen
 

petrasmiles

Mitglied
In ähnlicher Weise fänd ich es auch hilfreich, @petrasmiles , wo Du den (für Dich etwas störenden) Zusammenschnitt von Realem und Märchenhaftem siehst. :) Bei "Zusammenschnitt" denke ich an Filmtechnik - hast Du das in dieser Weise gemeint? Also wie eine Art Bild- oder Szenenmontage im Film? Wenn ich Dich richtig verstehe, dann hast Du sehr genau einen ggf. etwas kritischen Punkt bei dem Gedicht herausgelesen. Aber ich frag lieber nochmal nach. *nachfrag* :)
Ja, so habe ich das gemeint - ich hätte jetzt nicht den Film bemüht, sondern eher die Potenz, die in der Geschichte liegt. Eigentlich ist das Wort 'einandern' zwar in seiner Bedeutung märchenhaft (im Sinne von 'Wunderstaunen' oder so), aber eben - wenn man schon zu dem Schluss des Einanderns kommt, nicht mehr nebulös, als Hoffnung in den Raum gestellt, sondern die 'Gewissheit' steht schon am Anfang - beim Märchen nur am Ende ...

Liebe Grüße
Petra
 

Ubertas

Mitglied
Lieber sufnus,
es soll ja Gedichte geben, die sich einem sprichwörtlich "unterhakeln". Ich las es und es ließ mich nicht los. Da ist etwas, dass sich nicht ausblenden lässt. Weder Autofahrten, vergebliche staubsaugerbemühte Teppichreinigung noch Stunden mit Geranienblick sorgten für eine Abstinenz von "Einanderung". Wenn einen - hierenfalls sowieso nicht nur meinereinen - ein Gedicht so in seinen Bann zieht, dann hat es definitiv Sternbefall!
Beim Lesen habe ich den Eindruck, dass ein knallroter Textmarker einen ganz großen Kreis um "wir finden uns" ziehen sollte, somit es ganz allein im Umraum schwebt.
Da ist nicht nur Einanderung, da ist auch Auseinanderung, für mich eine Ein-ander-ung. Vom "verleisebaren" ganz zu schweigen. Und jetzt gerate ich nicht nur ins Schwelgen, sondern sitze da mit dem Anfang, der "letztlich" beginnt. Bewusst nach dem nächsten Satz, der das Märchen beendet hat und dort, wo weiter niemand liest, erklingt ein Gedanke, ein Gefühl, eine Erinnerung: "Ich kann Dich noch denken Marie".
Es kommt jetzt mit meinem kleinen Versuch, Worte zu finden, gewiss nur ein Teil an die Oberfläche, was dieses Gedicht für eine Bedeutung hat. Das ist ein Herzpfeiltreffer! Trotz des von mir wesentlich zu schmal gewählten Interpretationskorridors: ich schwelge zu Recht. Dein Gedicht führt durch die kleinste Tür ins Freie. Es ist absolut wundervoll drei Ausrufezeichen.
Liebe Grüße ubertas
 

sufnus

Mitglied
Ganz lieben Dank für die Antworten und Ergänzungen... später mehr dazu von meiner erfreuten Seite... die Eile.... die Eijeijeile....
 

sufnus

Mitglied
So... jetzt komm ich endlich mal zum Antworten bzgl. weiter obiger freundlicher Erläuterungen von Nova und Petra! :)
Vorher muss ich (diese Info im Sinne der Transparenz) noch den Meldeknopf bzgl. sachfremdem Rumgemache von anderer Seite betätigen (diese Zeile wird dann hoffentlich, wenn Selbiges bereinigt ist, keinen Sinn mehr ergeben - dann bitte einfach weiterlesen => zur Sache).

Also zu Deinem Eindruck, @N. Valen , des rhythmischen Hakelns (Deine Klarstellung war sehr hilfreich für mich! :) ):
In meiner Sichtweise hakelt es tatsächlich zweifach - sprich ich stimme Dir zu! - und auf etwas unterschiedliche Weise: Im ersten Teil, also den ersten sechs Zeilen bzw. ersten zwei Strophen, ist nach meinem Leseverständnis gar kein richtiger (also irgendwie metrisch gebundener) Rhythmus vorhanden. Was ich mir dazu vorstelle ist, dass diese Zeilen geflüstert werden und beim Flüstern ist ein rhythmisch-melodiöses Reden ja eher nicht "vorgesehen". Insofern würde ich den fehlenden "Flow" hier persönlich weiter fehlen lassen, aber ich verstehe auch, wenn man das lieber anders läse. Wenn man sich die Zeilen z. B. eher als eine Art "Anrufung" (im allerweitesten Sinne: Gebethaft) vorstellte, wäre ein metrischer Flow schon sehr stimmig. :)
Beim zweiten Teil des Gedichts (für mich zerfällt das Gedicht tatsächlich in zwei Teile, nämlich die ersten beiden Strophen einerseits und die dann folgenden beiden Strophen andererseits) gibt es auch eine Art rhythmisches Holpern, aber (nach meinem Verständnis) nur in einer Zeile: "mit dem nächsten Satz". Denn diese Zeile ist sinnvoll am ehesten trochäisch also mit betontem "mit" zu lesen (oder ganz und gar metrisch ungebunden). Alle anderen Zeilen der letzten bieden Strophen sind für mich relativ "saubere" Jamben, wobei es nur in der "weit fort-Zeile" eine Hebungs-Abweichung mit zwei statt der sonstigen drei Hebungen gibt. Insgesamt ist es bei einem Vortrag, der die Zeilenumbrüche "mitliest" durch den Jambus-Trochäus-Wechsel an der einen Stelle schon etwas abgehackt. Da könnte man also nachfeilen. Mein Leseverständnis war allerdings die Zeilenumbrüche weitgehend zu "überlesen" und dann kann man die letzten vier Zeilen, fast wie einen metrisch gebundenen Prosatext, durchgängig jambisch lesen, weil die Jambus-Zeile vor der Trochäus-Zeile mit einer weiblichen Kadenz endet, deren unbetonte Silbe man sich sozusagen "borgen" kann, um den Trochäus zu "glätten". Ist aber def. Geschmackssache. :)

Was Deine Erläuterung, @petrasmiles , angeht, bin ich mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich das mit der "Potenz" und der "Gewissheit" so ganz richtig kapiere. Mir scheint Dein Einwand (oder: Deine Nicht-so-ganz-mit-dem-Text-mitgeh-Wollung) inhaltlicher und nicht formaler Natur zu sein (oder?). Ich verstehe Dich so, dass Dir ein Text "entgegenkommender" gewesen wäre, der nicht aus der bereits erzielten Gewissheit des Einanderns wieder ins nebulös-märchenhafte entglitten wäre. Alternativ wäre Dir womöglich die "klassische" Reihenfolge im Märchen lieber gewesen: Erst die Unsicherheiten und dann das Happy End - und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Tatsächlich ist es in meinem Gedicht eher (wenn auch nicht nur) anders herum: Es fängt mit einer (naja) Gewissheit der Einanderung an (wobei die mit "dich noch denken" anmoderiert wird - also insofern schon per se eher eine Kopfgeburt ist) und dann löst sich alles irgendwie auf: Erst ins Märchenhafte der "Tür ins Freie" (ein mindestens ambivalentes Bild) und dann in das Nicht-mehr-Märchen, das ja "mit dem nächsten Satz endet". Immerhin: vielleicht findet es nach diesem Ende ja "wo weiter niemand liest" doch noch eine Fortsetzung? Dazu kann ich allerdings leider nichts sagen.

LG!

S.
 

N. Valen

Mitglied
@snufus
Danke für deine ausführliche Rückmeldung – ich finde spannend, wie du das Hakeln bewusst im ersten Teil als „Flüsterrhythmus“ gesetzt hast. Das erklärt sehr gut, warum es für dich nicht nach „Fehler“, sondern nach einer stimmigen Stimmung wirkt.
Dass sich das Gedicht in zwei Teile teilt, passt dann ja genau: erst das unsichere, tastende Sprechen – dann der gebundenere, fast märchenhafte Flow.

Deine Überlegung mit der „geborgten Silbe“ aus der weiblichen Kadenz fand ich übrigens klasse – genau dieses feine Hörerlebnis meinte ich mit „Trittsteinen“. Dass du das bewusst hörst und steuerst, zeigt, wie dicht du an der Mündlichkeit arbeitest.

Für mich bleibt „Einanderung“ dadurch zweifach offen: es kann geflüstert oder beschwörend gelesen werden. Beide Lesarten sind reizvoll, und gerade das macht den Text lebendig.

LG
N. Valen
 



 
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