Eine der Musen

cecil

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Eine der Musen



Myra hielt sich schon immer für unterdurchschnittlich. Deshalb sollte ihr Leben wenigstens überdurchschnittlich werden, aber sie hat es verbockt und lebt immer noch am Rand ihrer Möglichkeiten und übt sich in Nachsicht sich selbst gegenüber.

Ihre erste große Liebe war ein Solipsist, der in nackten Räumen lebte. Ihm zuliebe hat sie zwei Kinder weggemacht, bevor sie sich wehren konnten. Er dankte es ihr nicht. Kurz nachdem sie von ihm die Weihe des Mundverkehrs empfangen hatte, packte er sein Bündel und war schon über alle Berge, während sie noch ihren Mund ausspülte.

Verzweifelt warf sie sich dem nächstbesten Tröster an den Hals, weil sie glaubte, nicht wählerisch sein zu dürfen. Es war ein Aktionskünstler, der durch schamanische Hühnerschlächtereien von sich reden gemacht hatte, mit dem sie sich überstürzt im gemeinsamen Stammbuch wiederfand. Das erste ihrer Kinder überlebte, und seit er laufen kann, tut der Range alles, um Myra unter die Erde zu bringen. Ob Stolperfallen, Stromschläge oder Gift, seine Mordanschläge sind kühl kalkuliert, so dass sie ständig auf der Hut sein muss vor dem kleinen Psychopathen. Der Aktionskünstler, mit den Jahren zunehmend passiv geworden, findet das alles ganz in Ordnung und sieht im mörderischen Wirken seines Sprösslings die keimende Frucht eines großen Talents im Sinne des großen Vorbilds Muehl.

Myra hat sich noch nicht aufgegeben und ist überzeugt, dass sie irgendwann doch die Kurve kriegt. Aber ihr fehlt der letzte Biss, die Sache voranzutreiben, auch wenn sie seit einigen Tagen schon in Blickkontakt zu dem jugendlichen Pantomimen steht, der jeden Morgen auf dem Nachbarbalkon täuschend echt den Bewegungsablauf eines Onanierenden imitiert. Das Gesicht des Jungen beeindruckt sie am meisten. Die weiße Schminke, schwarz umrahmt, erinnern sie an einen lieben Toten. Und Tote tun keinem was.
 



 
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