Eine fast vergessene Erinnerung

Als ich gestern in meiner alten Truhe kramte, entdeckte ich dort ein kleines, porzellanernes Sparschweinchen. Es hatte sich in der äußersten Ecke versteckt, weil es wohl fürchtete, von all' dem Krimskram erdrückt zu werden, den ich im Laufe der Zeit in die Truhe gepackt hatte. Vorsichtig nahm ich das Schweinchen in die Hand, putzte mit dem Ärmel meiner Jacke den Staub ab und las die Worte, die da mit roter Farbe auf seinen Rücken gemalt waren. 'Viel Glück' stand dort, Buchstabe für Buchstabe von noch ungeübter Kinderhand geschrieben. Ein Marienkäfer, ein Pilz und ein vierblättriges Kleeblatt zierten das kleine Kunstwerk.
Ich überlegte, von wem dieses wunderschöne Geschenk war. Meine Gedanken wanderten zurück. Gesichter kamen, Gesichter gingen, Menschen, die irgendwann einmal meinen Lebensweg gekreuzt hatten. Plötzlich tauchte in meiner Erinnerung ein kleines Mädchen auf und bald sah ich ihr Gesicht so deutlich vor mir, als ob wir uns erst gestern begegnet wären. Ja, richtig: im Bus war es gewesen. Ich saß am Steuer und mein Fahrgast hieß Martina.
Das siebenjährige Mädchen war mit den Eltern aufs Land gezogen, besuchte aber weiterhin den Unterricht in ihrer alten Klasse, weil sie mitten im Jahr die Schule nicht wechseln sollte. Daher fuhr sie jeden Morgen mit mir in die Stadt. Fasziniert beobachtete Martina die Schalter und Hebel an meinem Arbeitsplatz, wagte aber nie zu fragen, wofür all' diese Sachen gebraucht wurden. Lange überlegte ich, wie man ihr die unselige Befangenheit nehmen könnte. Dann kam alles wie von selbst. Der einsetzende Regen löste das Problem und bescherte uns eine wunderschöne Freundschaft.
Behutsam stellte ich das Schweinchen auf den Boden und suchte weiter in der alten Truhe, denn da musste doch noch ein Gedicht sein, das ich damals für Martina schrieb. Richtig, da war der Bogen Papier ja. Ich rückte den Sessel ans Fenster, zündete meine Pfeife an und begann zu lesen.

Die kleine Fensterputzerin.

Am Steuer vom großen Omnibus
machte das Wetter argen Verdruss
von den schlimmen Regenplagen
waren alle Scheiben beschlagen
wie ich auch putzte, es reichte nicht
rundum zu sorgen für gute Sicht.

Hallo kleines Fräulein, sprach ich zu dir
komm doch bitte mal nach vorne zu mir
nimm dieses Leder in deine Hand
und putze mit Schwung und Verstand
drüben die Scheibe, bis hin zu der Tür
so ist es lieb, ich dank' dir dafür.

Danach wolltest du lange nicht fort
Freundschaft hieß nun dein Zauberwort
bei künftigen Fahrten zusammen im Bus
war mit dem Schweigen endlich Schluss
dahin waren Scheu und Befangenheit
und selbst für tausend Fragen noch Zeit.

Einmal sogar - du glaubtest es kaum
erfüllte ich dir einen heimlichen Traum
ich sagte, die ganze Straße ist frei
komm Mädchen, eile zum Lenken herbei
ich besorge das Bremsen und Schalten
und du darfst allein das Steuer halten.

Am nächsten Morgen schenktest du mir
ein Schweinchen in bunt bemaltem Papier
es begleitete uns in vielen Stunden,
die immer wir ganz toll gefunden.
Ich denk‘ sehr gern daran zurück
und wünsche dir von Herzen Glück.

Nachdenklich ließ ich das Blatt sinken und überlegte, was wohl aus meiner kleinen Freundin geworden ist. Dann suchte ich Pinsel und Farbe, nahm das Schweinchen zur Hand und fügte ein weiteres Wort hinzu. Vielleicht hilft es dem Mädchen ja, dass da nun geschrieben steht: Viel Glück, - Martina.
 



 
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