eine ganz normale Nachtschicht

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Hagen

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eine ganz normale Nachtschicht

Zwei Minuten vor Feierabend und bereits auf dem Weg zur Zentrale bat mich mein Boss noch mal eben schnell Frau Lobenthal abzuholen und zur Autobahnraststätte am Lehrter See zu bringen.
„Na, dann. Auf geht’s!“
Die Lobenthals sind kultivierte Menschen, sie haben ein Opernabonnement. Vor dem Opernbesuch ruhen sie zwei Stunden, wünschen auf der Hinfahrt keine Musik im Taxi, keine Gespräche und eine ausgeglichene Fahrweise. Auf der Rückfahrt schwärmen sie von der Inszenierung, und sie wollen beim nächsten Mal wieder von mir gefahren werden.
Ich wendete und fuhr das Haus der Lobenthals an. Mutter und Tochter gingen an Bord, und ich brachte sie zur Autobahnraststätte am Lehrter See.
„Weißt du”, erzählte mir die Tochter, „Tante Annemarie ist manchmal etwas verwirrt. Sie will uns besuchen, aber sie ist in Braunschweig aus dem Zug gestiegen.”
„Tja, so was kommt vor”, antwortete ich etwas halbherzig.
„Jetzt kommt sie mit einem Taxi aus Braunschweig. Wir fahren dann mit dir zu uns nach Hause.”
„Das scheint mir auch die beste Lösung”, pflichtete ich ihr bei.
„Und du darfst dich über Tante Annemarie nie lustig machen”, fuhr die Kleine fort, ”sonst verwirrt sie dich! Es können dir ganz seltsame Dinge passieren! Neulich hat sie uns...”
„Jasmin!“ Frau Lobenthal war sichtlich ungehalten, „du sollst nicht immer...”
Hinter uns hielt ein Taxi mit Braunschweiger Kennzeichen, aus stieg eine seriöse Dame. Diese befahl Frau Lobenthal den ‘guten Mann’ zu bezahlen und sich eine Quittung geben zu lassen.
Sie fixierte mich, als ich ihr die Tür aufhielt, nickte kurz und ließ sich ins Taxi gleiten. Tante Annemarie war eingetroffen!
Tante Annemarie war sich keiner Schuld bewusst, die Bundesbahn hatte Schuld, dass sie falsch ausgestiegen war, außerdem spielten die Erdstrahlen eine nicht unbedeutende Rolle, zumal diese in Lehrte besonders massiv auftreten. Ich konnte mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen, als ich ihr beim Aussteigen die Tür aufhielt.
„Junger Mann”, sagte Tante Annemarie zu mir und straffte ihren Rücken, „Sie kommen auch noch mal dahin...”
„Klar, wer viel rumfährt, kommt letztlich überall hin.”
Irgendwie schien Tante Annemarie diese tiefe philosophische Erkenntnis einen Deut anders aufzufassen, als ich es ersonnen und etwas leichtfertig zum Ausdruck gebracht hatte. Vielleicht gab sie mir deshalb kein Trinkgeld und schleuderte mir beim Aussteigen, als ich ihr kavaliersmäßig des Taxis Tür aufhielt, einen grimmigen Blick ins Gesicht.
Egal, ich steuerte die Zentrale an und war gerade im Begriff, Kugelschreiber und Taschenrechner zu zücken um abzurechnen, als mich die Chefin noch mal schnell zum Jägerhof beorderte. Mochte es sein, dass ich schon auf Feierabend geschaltet hatte, oder dass Tante Annemaries grimmiger Blick Nachwirkungen zeigte, jedenfalls fuhr ich zum Jägerwinkel und war etwas bestürzt, als mich eine korpulente Frau barsch abwies, obwohl ich höflich anfragte, ob sie ein Taxi bestellt hatte.
Glücklicherweise hatte die wohlbeleibte Frau vom Jägerhof Verständnis dafür, dass ich mich mal kurz in der Adresse verbumfiedelt hatte, als ich mit dezenter Verspätung eintraf. Als ich die Sache mit den Erdstrahlen kurz erwähnte, meinte sie, dass man so was nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte, schon allein im Hinblick auf ihre in Kürze bevorstehende Entbindung, zumal die Sonnenfleckenaktivitäten im Großraum Hannover in der letzten Zeit erheblich zugenommen hatten, und ob ich nicht Lust hätte, beim nächsten Mal mit ihr zur Schwangerschaftsgymnastik zu kommen, weil die anderen immer ihre Männer mitbrächten, nur ihrer wollte nicht.
Ich hätte zwar Lust, so sprach ich, aber zur Zeit keine Zeit, zudem - so sprach ich weiter - sei ich Wiedertäufer.
Sie war sichtlich irritiert, als sie in der Nähe einer der lokalen Hebammen von Bord ging. Ich fuhr etwas nachdenklich zum Supermarkt. Eine Palette gemischtes Katzenfutter sowie Streu für Anna-Karenina und die üblichen Lebensmittel für mich; - recht viele Fertiggerichte und einen Topfkuchen, falls ich doch mal überraschend Damenbesuch bekommen sollte. Irgendwie hatte es sich bei mir festgesetzt, dass Damen gerne Topfkuchen essen, seit der Geschichte mit meiner Ex.
Wir hatten uns mal gar fürchterlich gezofft, weil sie mir beim Dekorieren des Schaufensters geholfen, und dabei allerhand kaputt gemacht hatte. Zufällig kam eine Stammkundin vorbei, und die hatte zufällig einen Topfkuchen mit. Die Damen hatten sich ins Hinterzimmer verzogen und Topfkuchen gegessen, während ich ohne Damenbehinderung das Schaufenster ausgestalten konnte. Nach Feierabend hatten wir nach langer Zeit mal wieder guten Sex; - auf dem Flokati im Hinterzimmer.
Vielleicht besteht ein Zusammenhang zwischen gutem Sex und Topfkuchen.
Die Einkäufe brachte ich schnell zu mir nach Hause, begrüßte Anna-Karenina und erneuerte ihr Katzenklo. War gar nicht so einfach, mich loszueisen und endlich zur Zentrale zu fahren, aber mein Boss reagierte immer etwas ungehalten, wenn ich das Taxi für Privatfahrten benutzte.
Doris saß da mit Ingolf rum. Ingolf versuchte ihr zu erklären, dass Herman Hesse seinen ‘Siddhartha’ hätte Taxifahrer werden lassen; - nicht Fährmann - wenn sich die Geschichte in der heutigen Zeit abgespielt hätte. Doris begriff nicht, dass der Fährmann, beziehungsweise der Taxifahrer die ethische Aufgabe hat, positiv auf den Menschen einzuwirken, während er ihn ein Stück auf seinem Lebensweg geleitet.
„Hesse hat zuerst eine Mechanikerlehre absolviert, bevor er sich der Literatur zuwandte“, sagte Ingolf, „ich denke, ein guter Weg, die Zusammenhänge des Lebens über das Sichtbare zu begreifen und auf das ‘Sich befinden’ jeglicher Kreatur zu übertragen.“
„Interessant!“ sagte ich.
Doris sah keinen Zusammenhang und war der Ansicht, dass es ihr Job sei, die Fahrgäste von A nach B zu bringen und damit gut. Zwischendurch wollte sie soviel Spaß wie möglich haben. Ich hörte halbherzig zu, trank dünnen Kaffee und machte meine Abrechnung. Ingolf war so gut wie weg, er hatte für diese Woche seine letzte Schicht gefahren und wollte mal wieder seine Exfrau besuchen, sie wollte ihn zu einer Vernissage mitnehmen.
„Was?“ fragte Doris.
„Wir reden gelegentlich drüber“, sagte Ingolf, „ich trinke nur noch eben meinen Kaffee aus, und bin verschwunden. Montag sehen wir uns wieder, in alter Frische. Horrido Ihr Lieben! Mögen die Straßen vor Euch stets frei und eben sein.“
„Ihr macht immer so tolle Sachen“, sagte Doris, „am Wochenende ist in Aligse Frühlingsfest. Wollen wir da nicht mal hin gehen?“
„Ich glaube, ich bin am Wochenende dran mit fahren“, sagte ich, warf einen Blick auf den Schichtplan und mein Geldtäschchen ins Fach, „das war’s für heute, bis Morgen und ab Montag wieder die Nachtschicht. - Bringst Du mich mal eben zu Andreas Bistro? Ich muss unbedingt was essen.“
„Na klar.“
Wir tranken noch den Kaffee aus, und ich ließ mich von Doris zu Andreas Bistro fahren. Ich wollte dort noch schnell was essen, mir mit Anna-Karenina anschließend zur Entspannung einen Film anschauen und dann endlich mal einige Stunden zusammenhängend schlafen. Hinter mir lag bereits eine Doppelschicht.
”Mir ist so komisch”, stöhnte Doris als wir an einer Ampel kurz anhielten, „ich glaube ich kriege meine Tage.”
”Wird an den Erdstrahlen liegen”, bemerkte ich, doch Doris tippte sich an die Stirn und hielt ruckartig vor dem Bistro.
”Na, dann. Fröhliche Nachtschicht, liebe Kollegin. Mögen die Straßen vor dir stets frei und eben sein!”
”Einen fröhlichen Feierabend, lieber Kollege.”
Sie entschwand um die Ecke und ich in Andreas Bistro. Dort saßen der `Bleifuß Bertram´ und die `Weiße Gertrud´ vor ihren Kaffeebechern; - Gertrud hatte wieder irgend etwas anderes in ihrem Behältnis - sicher undefinierbar Gesundes - und Bertram erzählte, wie er Gerhard Schröder gefahren hatte.
„Machst Du mir, liebste Andrea“, denn diese hatte sich mir derweil genähert, „bitte einen Gyrosteller zurecht, mit recht viel Giros und statt dem Krautsalat zwei Scheiblein goldbraunen Toast?“
„Klar, gerne.“
„Und bitte nichts Grünes auf dem Teller.“
„Ich verstehe.“ Andrea lächelte, nicht nur, weil Gertrud wieder von Krebs hervorbringenden Stoffen anfing, und ich doch lieber leckeren Salat essen sollte.
„Leckere Salate“, sagte ich, „gibt es nicht! Es gibt nur Salate, die schlecht schmecken, und welche, die weniger schlecht schmecken. Richtige Männer brauchen proteinreiche Nahrung für Geist und Körper. Und bitte eine Cola dazu.“
„Kein Bier?“ Andrea war sichtlich erstaunt, „nicht wie üblich so ein recht schönes großes, liebevoll gezapft, mit einem Häublein Schaum oben drauf.“
„Nein. Ich brauch’ mal wieder was Gesundes: Gyros mit Cola.“
„Das ist aber nicht gesund“, sagte Gertrud, Bertram schlug sich auf ihre Seite und Andrea stellte mir lächelnd einen Gyrosteller hin; - netterweise ohne Salatbeilage - und eine Cola.
„Wunderbar“, sagte ich, „schade, dass Andrea bereits verheiratet ist.“
Ich ließ mich auf keine weiteren Diskussionen ein, was Ehe, Salate und Krebs hervorbringende Stoffe betraf. Irgendwie kamen sie darauf, dass proteinreiche Nahrung nicht geschlechtsspezifisch ist, und wen sie lieber fahren, Frauen oder Männer. Ich ging ganz langsam nach Hause.
Dort begrüßte mich Anna-Karenia indem sie mir um die Beine strich, in die Küche lief und sich schnurrend neben ihren Goldrandteller setzte.
”Was möchtest Du denn heute?” fragte ich und hielt ihr zwei Dosen vor die Nase, „Rind oder Geflügel?”
Anna-Karenia beschnupperte beide Dosen und legte ihr linkes Pfötchen an die Geflügelkonserve.
”Eine gute Wahl!” Ich füllte ihren Goldrandteller und hängte meine Weste auf.
„Ich denke, wir verzichten heute mal auf unseren Feierabendfilm und gehen früh schlafen.“
Anna Karenina zeigte mir die mittlere Kralle ihres Pfötchens.
„Hast ja recht, meine Schöne. Eigentlich müsste ich mal wieder einige Stunden zusammenhängend schlafen, denn ohne ausreichenden Schlaf kann man Halluzinationen kriegen, haben die Realschullehrerinnen auf dem Seminar Kreatives Schreiben unter der Leitung der bekannten Lyrikerin Frau Donata Grönefeld-Schlierensief mir jedenfalls erzählt. Was meinst Du, wollen wir uns vorher ganz spießig einen Film anschauen, so richtig fies mit Chips und Bier für mich, und Du bekommst eine Dose Thunfisch?”
Ich griff mir zwei Videokassetten aus dem Regal.
„Guter Plan!”
Anna-Karenia stand in der Tür und lächelte.
„Hey”, sagte ich, „kann es sein, dass Du eben gesprochen hast?”
Sie nickte.
„Ah, ja. - Ich hab‘ hier mal ins Regal der ‘alten Filme‘ gegriffen, mir ist heute danach. Möchtest Du Blondinen bevorzugt mit Marilyn Monroe und Jane Russell oder Die Feuerzangenbowle mit Heinz Rühmann?”
Ich nahm die Kassetten aus den Hüllen und hielt sie ihr hin. Anna-Karenia studierte sorgsam die Etiketten, legte ihr linkes Pfötchen auf Die Feuerzangenbowle, sprang aufs Sofa und rollte sich in der Ecke mit Blick auf den Fernseher erwartungsvoll zusammen.
„Wenn Du meinst”, sagte ich in dem Moment, in dem sich das Telefon meldete. Ich legte die beiden Kassetten auf den Fernseher und hob den Hörer ans Ohr, „Hallo?”
„Du, Doris ist ausgefallen, sie hat ganz schlimm ihre Tage gekriegt.” Meine Chefin.
„Ja, aber...”
„Ich weiß, Du hast gerade eine Doppelschicht gefahren, aber es ist soviel los heute Abend. Ingolf habe ich eben noch erwischt, er kommt etwas später, mein Mann ist auch schon draußen. Du hast dafür das ganze Wochenende frei. Montag wieder ab sechzehn Uhr. Tut mir leid, es geht nicht anders.”
„Ich bin ja grundsätzlich flexibel, aber kann Schorse denn nicht...”
„Der kann nicht mehr fahren. Dem hat Doris gesagt, das sie ihre Tage gekriegt hat, und da hat er einen ausgegeben.”
„Und Gunter?”
„Dem hat Schorse gesagt, das Doris ihre Tage gekriegt hat, und da hat er auch einen ausgegeben.”
„Und Rainer?”
„Der hat mitbekommen, das Doris ihre Tage gekriegt hat, und hat auch einen ausgegeben.”
„Ah, ja. Ich verstehe.”
„Lass mich bitte nicht im Stich. – Oder hast Du etwa auch...”
„Noch nicht.”
„Gott sei Dank. Wann kannst Du denn da sein?”
„Ich schwing‘ mich aufs Rad. Sagen wir in einer Viertelstunde.”
„Das finde ich toll von Dir!“
„Ja, ich bin ein toller Mann. Schade, dass es mich nicht mehrmals gibt!“
„Gib nicht so an! – Da kommt um zehn einer an den Zebrastreifen vor dem Bahnhof. Eine Fahrt nach Hannover! Bitte nicht vergessen!“
„Okay, ich denk‘ dran. Bis gleich.“
Anna-Karenina steckte mir die Zunge raus, räkelte sich in die Höhe, machte ihren Buckel krumm und trottete mit beleidigtem Gesicht in die Küche. War vorerst nix mit Film und Thunfisch!
„Wir gucken den Film, wenn ich wieder komme. Ist versprochen!“
Anna-Karenina zog eine Augenbraue hoch und ich ein frisches Hemd an, mein schwarzes Seidenhemd, radelte schnell bei Andrea vorbei und kaufte Zigaretten und saure Bonbons.
„Was ist denn mit Dir los?“ fragte Andrea, „keine Schokolade heute? Was stimmt denn mit nicht Dir?“
„Alles. Ich fahre mal eben noch eine Schicht. Sonntag früh komme ich dann zu Dir zum Frühstücken. Kochst Du den Kaffee heute recht schön stark, bitte?“
„Ja, mach‘ ich. Und pass‘ gut auf Dich auf. Die Konjunktion des Mondes steht heute Nacht im Transit mit dem Uranus, was zu unvorhersehbaren Reaktionen führen kann.“ Andrea schürzte die Lippen und legte ihre Schneidezähne frei.
„Weißt Du, ich bin Taxifahrer! Das erste, was ich gelernt habe ist, das nichts endet wie geplant! - Bis nachher, meine Liebe.“
„Bis nachher, mein Lieber. - Sag’ mal, fährst Du eigentlich lieber Männer oder lieber Frauen? Wir haben vorhin drüber gesprochen.“
„Och, Hauptsache nette Menschen. Sagen wir mal Frauen... so als Mann... Du verstehst?“
„Natürlich! – Weißt Du, neulich war eine Wahrsagerin hier, die hat festgestellt, dass ich magische Fähigkeiten habe.“
„Sag bloß!“
„Ich weiß auch nicht. - Dann werde ich mal was versuchen... vielleicht schaffe ich’s ja, dass Du während der nächsten Schicht nur Frauen fährst.
„Darf ich nicht wenigstens einen Mann?“
„Na gut, einen...“
„Aber nicht, dass Du mir einen Transvestiten unterschiebst, und keine Zicken...“
„Na, Du wirst schon sehen!“
Ich beeilte mich, zum Taxi zu kommen.
Doris schien das Taxi etwas überstürzt verlassen zu haben, das Funkgerät war noch an, und aus dem Radio dudelte Popmusik. Ich wechselte auf den Klassiksender, meldete mich über Funk an und bekam auch gleich eine Fahrt.
Die Dame brachte ich anstatt zum Richtweg zum Richterweg, sie war daraufhin etwas ungehalten und äußerte starke Zweifel an meiner Ortskenntnis.
Die nächste Dame wuchtete einen Koffer auf die Rückbank, bevor das Taxi endgültig stand; - sie gab mir somit keine Gelegenheit, ihr den Wagenschlag zu öffnen, murmelte „kein Benehmen haben die Taxifahrer heutzutage! Zum Bahnhof!”, ließ sich in den Beifahrersitz und die Augenlider fallen.
Ich fuhr sie zum Bahnhof. Dort öffnete sie ein Auge und murmelte: „Ich wollte aber zum Bahnhof nach Hannover.”
„Kein Problem! - Möchten Sie einen sauren Bonbon?“
„Danke schön.“
Ich sagte der Zentrale Bescheid, startete das Taxameter neu und brachte sie zum Bahnhof nach Hannover. Dort rauchte ich mit einer Kollegin, die sich seit einer Stunde neben dem Ernst Augustdenkmal die Reifen platt gestanden hatte, eine Zigarette und stimmte ihr zu, als sie erwähnte, das die Konjunktur im Taxigewerbe ja wohl rückläufig sei. Sie vermutete eine Massierung negativer Gedanken bei den Fahrgästen und leider auch bei den Fahrern.
Ich dachte bewusst positive Gedanken als ich vom Taxenplatz fuhr, aber das nützte nichts. Ich musste mich irgendwann falsch eingeordnet haben und fand mich unversehens in einer Gegend wieder, die mir gänzlich unbekannt war.
Half alles nichts, ich entschloss mich, den ‘Plan A’ zur Anwendung zu bringen: Kurz anhalten und den einen oder anderen Blick in die Karte werfen. Ich war gerade dabei, als jemand die hintere Tür öffnete und einen Besen auf die Sitzbank warf. Ein stieg sogleich eine ältere Dame und murmelte:
„Sie schickt Valpurgia! Können Sie mich mal eben zum Bocksberg fahren?“
Wegen ihres etwas ungewöhnlichen Erscheinungsbildes - sie trug einen schwarzen, hohen, etwas geknickten Hut, eine Warze auf der Nase und einen vielfach geknoteten Rock – erwähnte ich, das bei derartigen Fernfahrten Vorkasse üblich ist. Das empfand sie als Impertinenz, entschied doch lieber den Besen zu nehmen und stieg wieder aus.
„Wird natürlich zeitlich etwas eng“, murmelte sie, „aber ich kann ja die Zeit etwas zurückdrehen, wenn ich Gegenwind hab...“
„Hat ihr Besen keinen Turbo?“ fragte ich, aber sie drehte nur die Augen gen Himmel und hob dahin ab.
Schade, wäre eine schöne Fahrt gewesen - so ich den Bocksberg denn gefunden hätte - auf meiner Karte war er nicht verzeichnet. Wenn ich meinen Boss über Funk gefragt hätte, wären ihm möglicherweise Zweifel an meinen Fähigkeiten als Fahrer gekommen.
‘Plan B’ – einen Taxifahrer fragen – kam zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Frage, da sich eine schmucke Polizeihostess mit grimmig-entschlossenem Gesichtsausdruck näherte. Ich hätte schwören können, dass das runde Schild soeben noch nicht neben der Beifahrertür gestanden hatte. War also an der Zeit, aufzubrechen, zumal ich meine Orientierungspause offensichtlich im absoluten Halteverbot absolviert hatte.
Also, ‘Plan C’! Solange geradeaus, bis ich an irgend etwas Bekanntem vorbeikam, nach dem Motto: Egal was schief geht, tue so als wäre es Absicht.
Erwies sich als außerordentlich effektiv, der ‘Plan C’, und als ich recht bald auf der B 65 gen Lehrte rollte, erreichte mich ein Funkruf meines Chefs.
„Sag‘ mal, hast Du eine neue Freundin?“
„Nicht dass ich wüsste. Wie sah Sie denn aus?“
„Eine sehr schöne, schwarzhaarige Frau. Sie kam bei Dir aus dem Haus, ließ sich von mir zum Crédence fahren und sagte, dass Du das bestimmt regeln würdest.“ Ich konnte am Funk hören, wie mein Boss grinste. „Nimmst Du bitte als Nächstes ‘Auf den Blockäckern 26’?“
Ich bestätigte und suchte zunächst die Pohläckern auf, bevor ich meinen Irrtum bemerkte, zu den Blockäckern fuhr und dort einer imposanten Dame die Tür aufhielt. Wieso kam eine schöne, schwarzhaarige Frau bei mir aus dem Haus und fuhr auf meine Kosten mit meinem Chef Taxi?
Ich grübelte darüber nach, während die Dame neben mir auf dem Weg nach Sehnde kleine Geschichten von den lebend gebärenden Zahnkarpfen und anderen Maulbrütern ihres Mannes erzählte, und das der böse mit ihr war, nur weil sie mehrmals den Stecker der Sauerstoffpumpe raus gezogen hatte.
„Herrgott, irgendwo muss ich doch meinen Staubsauger anschließen.“
„War denn sonst keine Steckdose frei?“
„Doch schon, aber ich wusste doch nicht, wofür die Stecker alle sind. Kann ich denn wissen, dass die Fische gleich sterben?“
„Warum haben sie denn einen Stecker raus gezogen, von dem sie nicht wissen, wofür der ist?“
Diese Frage hätte ich besser nicht stellen sollen, denn sie unterstellte mir, etwas gegen Frauen zu haben, weil ihr Mann, der was gegen sie hätte, die gleiche Frage auch immer stellte, wenn sie irgendwo einen Stecker raus gezogen hatte.
„Wissen sie“, sagte ich, „da gibt es ein Krankenhaus, in dem regelmäßig die Patienten auf einer bestimmten Station starben, immer Sonntag Nacht, zur gleichen Zeit. Es dauerte ein Weilchen, bis man die Ursache fand: Es war die Putzfrau, die jedes Mal den Stecker der Beatmungsmaschine heraus gezogen hatte, um ihren Staubsauger anzuschließen...“
Die Frau tobte los und versicherte mir, dass unser Unternehmen in ihr einen Stammfahrgast verloren hätte.
Da half auch kein Bestechungsversuch mit sauren Bonbons mehr.
Na gut. Kassieren, Tür aufhalten, aussteigen lassen, noch ‘einen schönen Abend’ wünschen, Tür zu, Fahrt aufschreiben, Taxameter nullen, Blinker setzen, Rückspiegel, wenden. Mein Blick glitt kurz zu der Tür des Hauses nebenan, vor der eine Dame mittleren Alters stand.
Die Tür wurde halb geöffnet, ein Koffer flog raus und der Dame vor den Bauch. Ich beendete den Wendevorgang, hielt auf der anderen Straßenseite und kurbelte die Scheibe herunter.
Die Dame hatte den Koffer zwischenzeitlich aufgenommen und kam auf mich zu.
„Möchten sie ein Taxi?“ fragte ich.
„Sehr gerne! Das trifft sich ja gut!“
Ich nahm ihr den Koffer ab, legte ihn in den Kofferraum und ließ die Dame einsteigen. Sie wollte nach Lehrte.
„Sie werden sich jetzt wahrscheinlich wundern“, sagte sie.
„Worüber sollte ich mich wundern? Ich bin Taxifahrer und in Folge dessen umfassend desillusioniert. - Möchten sie einen sauren Bonbon?“
„Nein“, sagte sie und nahm einen. Durch die kleine Geschichte, die sie mir unaufgefordert erzählte, während sie den sauren Bonbon mampfte, stieg ich nicht so recht durch, war etwas konfus, der Gang der Handlung. Eigentlich war es ihr Haus und ihr Mann, der darin mit einer gemeinsamen Freundin lebte, aber sie durfte nicht rein, weil ihr Mann arbeitslos war, und sie recht gut im Süßwarenvertrieb verdiente. Da lief irgend so eine juristische Sache, aber sie sollte ihr Haus einhüten, während ihr Mann mit besagter gemeinsamer Freundin auf ihre Kosten in den Urlaub fliegen wollte. Irgendwas hatte irgendwie nicht geklappt und das Einhüten erübrigte sich. Jedenfalls bat sie mich, sie beim Mephisto aussteigen zu lassen und lud mich, während ich den Koffer auslud, zu einem Eierlikör ein.
Ich lehnte höflich ab, weil sich der Genuss von Eierlikör nicht so recht mit meiner Vorstellung von Männlichkeit in Einklang bringen lässt, „da könnt‘ ich ja gleich Sahnetörtchen essen und auf dem Balkon Filterzigaretten rauchen.“
Das sah sie überhaupt nicht ein und bot mir an, gelegentlich mal was zusammen zu trinken. Guter Plan, aber erfahrungsgemäß wird seltener als nie was draus.
Egal, ich rollte den Taxenplatz am Bahnhof an und stand da solange rum wie Frau Lot bis der Mann mit dem Koffer kam. Er gab mir sogar die Hand, nachdem er aus dem Bahnhof gekommen war, obwohl wegen Gleisbauarbeiten seit einer Stunde alle Züge umgeleitet worden waren. Sein Anzug nebst Krawatte - diesmal dunkelrot - seine gepflegten Hände mit den manikürten Fingernägeln passten nicht zu einem Mann, der die Woche über im Freileitungsbau malocht und im Bauwagen haust.
„Wieder zum Kröpcke?”
„Wieder zum Kröpcke!”
Ich legte seinen leichten Koffer hinten rein und brachte ihn zum Kröpcke, während er mir abermals entzückende Geschichten vom Freileitungsbau erzählte.
Er gab mir wieder ein gutes Trinkgeld, ließ seinen Koffer im Wagen und verschwand in der vom Halbmond schwach erleuchteten Nacht.
Zurück nach Lehrte. Ich parkte mich am Taxenplatz ein und drehte das Radio etwas lauter; Vivaldis Cellokonzert in G..
Eine Zigarettenlänge später beugte sich eine dunkelhaarige Dame ans Fenster:
„Sind sie frei?“
„Ja!“ Aussteigen, um den Wagen gehen, Tür aufhalten. Sie stieg mit knisternden Strümpfen ein und verbreitete ein Wolke Chanel im Wagen.
„Zur Bierschwemme bitte“, sie strich ihren Rock über ihren vornehm zusammengelegten Beinen glatt und entfernte mit spitzen Fingern einen imaginären Fussel von ihrer Kostümjacke, „würden sie bitte den Sender wechseln?“
„Ganz wie sie wünschen.“ Ich tippte die Stationstasten durch, irgendwo grölte jemand irgendetwas von irgendwelchen nackten Friseusen mit irgendwie nassen Haaren.
„Der ist schön, den lassen sie bitte!“
Na gut, die kurze Strecke würde ich das ertragen, aber die elegante Dame bat mich bei der Bierschwemme kurz zu warten. Zurück kam sie mit Michael im Arm.
„Hey du Penner!“ rief Michael, strich sich glättend mit Daumen und Mittelfinger über sein Bärtchen und gab der eleganten Dame einen Klaps auf den Hintern, „darf ich dir meine Tonkünstlerin vorstellen?“
Normalerweise hätte ich ihm einen erzählt, von wegen Penner, aber in Anwesenheit der Dame hielt ich mich dezent zurück.
Ich brachte die beiden zu Michaels Parzelle, meldete mich in der Zentrale frei und fuhr auf einen Becher Kaffee und ein Mettwurstbrötchen zu Andrea.
`Bleifuß Bertram´ war auch wieder da und erzählte von dem Tag, als er Gerhard Schröder gefahren hatte. Die Geschichte war mittlerweile so interessant wie Binderfarbe beim Trocknen zuzuschauen.
Andreas Mettwurstbrötchen war delikat, ich bestellte noch eins. Als ich dieses sowie einen weiteren Becher Kaffee genussvoll zu mir genommen hatte, meldete sich das Handy und beorderte mich zum Hotel Meridian.
Ich bestätigte die Adresse und fügte noch: „Ach, wieder diese Lilo Wanders!“ hinzu, nachdem die Chefin aufgelegt hatte.
„Wie? Lilo Wanders?“ fragte `Bleifuß Bertram´.
„‘fährt öfter mit mir. Hoffentlich versucht Herr Wanders nicht wieder die Nummer mit dem Frauennachttaxi.“
„Gilt das Frauennachttaxi eigentlich auch für Transvestiten?“ fragte Andrea.
„Nein“, sagte `Bleifuß Bertram´.
„Müsste aber eigentlich“, meinte Andrea, „stell dir doch mal vor, da ist eine weibliche Seele im Körper eines Mannes gefangen...“
„Tja, das Problem muss gelöst werden!“
Eine elegante Frau mit Vertreterkoffer kam rein und meinte, sie hätte etwas Interessantes für Taxifahrer.
Ich merkte auf, aber das Interessante stellte sich als Rückwärtseinparkhilfe heraus. Dieses Produkt wäre vielleicht für Eierlikörtrinker, Weichgummilutscher, Sitzheizungsbraucher, Schattenparker, grundsätzlich-alle-Verkehrsregeln-Beachter, Leichtkugelbowler, Beckenrandschwimmer oder regelmäßig ein Wellness-Center-Besucher erstrebenswert. Etwas befremdlich war nur, dass `Bleifuß Bertram´ - der Mann, der Gerhard Schröder gefahren hatte - Interesse zeigte.
„Ich will Lilo nicht wieder so lange warten lassen! Ciao Ihr Lieben.“
Vor dem Meridian gingen zwei ältere Damen an Bord und wollten zu einer Videothek, ‘in der die Rambo-Filme haben’.
Ich fuhr sie zum ‘Video-Country’ und wartete etwas länger als die Zeit, die man normalerweise braucht, um eine Mitgliedschaft zu erwerben und mit ausgestrecktem Zeigefinger an den Regalen mit den Actionfilmen entlang zu gehen.
Die Damen kamen mit vier Kassetten wieder heraus, dezent kichernd, zumindest die eine. Ich fuhr sie in eins der Seniorenheime, und die Kichernde erzählte ihrer Gefährtin derweil entzückende Anekdoten aus ihrer Jugend, und wie sie mal mit drei Männern gleichzeitig - aber das würde sie ja gleich selber sehen.
Ich hätte gerne etwas zugehört - voller Diskretion versteht sich - aber mein Chef beorderte mich per Funk zur nächsten Adresse.
Da fuhr ich sogleich hin. Eine ältere Frau mit altmodischer Einkaufstasche ging an Bord und wollte nach Bilm. Unterwegs erwähnte sie hübsche Details aus den Rezepten ihres Großvaters und fragte, ob ich denn vielleicht Interesse an Schweinskopfsülze hätte - hausgemacht. Die Menschen heutzutage würden viel zu wenig Schweinskopfsülze essen, was zu allgemeiner Verwirrung führen würde, und überhaupt ginge deshalb die ganze Ozonschicht kaputt, und ich sollte man aufpassen und nicht unter einem Ozonloch durchfahren.
Das versprach ich ihr, zeigte in keiner Weise Interesse an Schweinskopfsülze und war nicht im geringsten verdutzt, als sie mir, als ich ihr beim Aussteigen half, einen kurzen Blick in ihre Einkaufstasche gewährte. Ein Schweinskopf war drin.
Irgendwo zwischen Bilm und Ilten fuhr ich an den Straßenrand, stellte den Motor ab, kurbelte die Scheibe herunter, drehte und zündete mir eine Zigarette an.
Die Nacht, die bereits vor geraumer Zeit begonnen hatte, sich über die hiesigen Breitengrade zu wälzen, zeigte sich von ihrer mysteriösen Seite. Eine Sternschnuppe ging nieder, aber ich kam nicht dazu, mir etwas zu wünschen, denn plötzlich, wie aus dem Nichts erschienen, saß eine Frau auf der Rückbank.
„Bitte zum Verwirklichungstreffen.“
Ich hatte keine Tür klappen gehört, keine Bewegung des Taxis wahrgenommen. Aber sie war da, ich konnte sie im Rückspiegel sehen.
„Möchten sie einen sauren Bonbon?“
Ich reichte ihr die Tüte nach hinten.
„Oh, danke.“
Ich spürte ihre Finger als sie in die Tüte griff.
„Zum Verwirklichungstreffen bitte!“
„Sehr gerne. – Verraten sie mir bitte, wo das Verwirklichungstreffen stattfindet?“
Sie war der Ansicht, dass ich wissen müsste, wo das Verwirklichungstreffen stattfände, aber ich erzählte ihr, dass ich Wiedertäufer sei. Das akzeptierte sie und wollte als Alternative zum Verwirklichungstreffen zur Pumpe gefahren werden.
„Ganz wie sie wünschen.“ Ich startete den Motor.
„Sie sind Wiedertäufer, sagten sie? Dann darf ich sie doch sicher mal um ihre Meinung bitten.“
„Worum geht’s?“
„Hier“, sie knöpfte ihre Bluse auf, „wie finden sie sie? Ich hab sie mir vergrößern lassen, von B auf D!“
Sie reckte mir ihre Brüste entgegen, auf der oberen Hälfte ihrer rechten Brust war eine Schlange tätowiert, eine Kobra, halb aufgerichtet, als schütze sie die Brüste; - die Tugend einer Jungfrau. Die Schlange schlängelte sich über die Schulter, den Oberarm herab und endete knapp über dem Handgelenk der jungen Dame.
„Ich nehme an, sie meinen nicht das Reptil.“
„Nein, ich meine nicht die Schlange!“
„Exzellent! Um nicht zu sagen: Faszinierend, gnädiger Frau! Aber hätten sie die Güte, sich wieder zuzuknöpfen? Ich möchte irgendwelchen Gerüchten keinen Vorschub leisten...“
„Nein, nein, aber irgend etwas Seltsames ist damit passiert. Würden sie sie mal anfassen?“
„Aber gnädige Frau!“
„Bitte.“
„Natürlich gerne, aber nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht...“
„Nein, nein, keine Sorge. Fassen sie sie ruhig mal an.“
„Na gut, ganz wie sie wünschen.“
Ganz vorsichtig versuchte ich die Haut über den Knospen ihrer Brüste zu streicheln, aber meine Fingerspitzen glitten ins Leere. Erst nach einigen Zentimetern verspürte ich samtweichen Widerstand. Die Kobra erschien mir plötzlich dreidimensional, sie drehte den Kopf und züngelte mir entgegen. Ich zog meine Hand zurück. Die Kobra ruhte sofort wieder auf ihrem Busen wie Anna-Karenina daheim auf ihrem Kissen.
„Sehen sie, das passiert seit der Vergrößerung immer, wenn ein wahrhaft aufrechter Mann versucht, sie zu liebkosen“, seufzte die Dame und schloss ihre Bluse, „nur die ursprüngliche Größe ist wahrzunehmen.“
„Sind sie sicher, dass sie nicht die Schlange meinen?“
„Ich meine nicht die Schlange! Die habe ich erst nach der Operation tätowieren lassen!“
Mit einem etwas seltsamen Gefühl in der Magengegend brachte ich sie zur Pumpe. Da saß Herman an der Theke. Er wollte ganz schnell nach Hannover rein und mir unbedingt vorher einen ausgeben, weil ich ihn am Donnerstag, als er so betrunken war, nicht nach Hannover gefahren hatte.
„Grundsätzlich können wir mal einen zusammen trinken, aber nicht heute. Ich gehe mal schnell für Königstiger, und dann fahren wir.“
Herman nickte das ab und ich suchte das kleine Gewölbe auf, wusch mir anschließend ausgiebig die Hände und kehrte zu Herman an der Theke zurück.
„Können wir denn?“
„Jetzt habe ich mir noch ein Bier bestellt. Da musst du in einer halben Stunde wiederkommen.“
‘Idiot!’ dachte ich und sagte laut: „Okay, eine halbe Stunde. Plus minus fünf Minuten. Bis dahin.“
„Bis dahin! Dann fahre ich mit dir nach Hannover, ist versprochen.“
Beim Rausgehen zupfte mich jemand am Ärmel. Die wohlbeleibte Dame von heute Abend, die freudig ihrer Niederkunft entgegen sah. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erweckte sie den Anschein, als wäre sie alternativ zur Schwangerschaftsgymnastik in dieses Lokal gegangen, was dazu beigetragen hatte, das ihr die Kontrolle über sich ein ganz klein wenig zu entgleiten drohte.
Doch ich sah mich grausam getäuscht. Sie war betrunken und gab mir die Schuld daran, weil ich sie nicht zur Schwangerschaftsgymnastik begleiten wollte, die eigentlich töricht war, weil sie bereits unmittelbar vor ihrer schweren Stunde stand, und ich sowieso ein Macho und Chauvinist sei, und ob ich denn eine Tätowierung hätte.
„Nein, ich habe keine Tätowierung.“
„Gut, dann darfst du mich jetzt nach Hause bringen!“
Ich sah zwar keinen direkten Zusammenhang, brachte sie trotzdem heim. Dort war sie nur schwer davon abzubringen, meine Aussage, was die Tätowierung betraf, zu überprüfen. Hernach brachte ich sie zur Haustür, doch in dieser stand bereits ein Mann, blähte kurz die Nüstern und sagte:
„Die nehmen sie man wieder mit! Die ist ja betrunken! Die will ich hier nicht haben!“
Sprach’s und schlug die Tür zu.
„Wissen sie“, sagte ich zu der Frau als wir wieder zum Taxi gingen, „ich möchte einmal, nur ein einziges Mal, eine Nachtschicht fahren, in der ich die Fahrgäste von A nach B fahre, und damit gut. – Was machen wir jetzt? Haben sie einen Liebhaber, eine Geliebte, einen Freund oder eine Freundin, wo ich sie hinfahren könnte?“
„Nein. - Es sei denn sie gewähren mir nur für diese Nacht...“ Ich hielt ihr des Taxis Tür auf. Sie stieg ein. Ich ging um den Wagen herum und setzte mich wieder hinter das Lenkrad.
„Sie werden sich kaum mit Anna-Karenia vertragen, meine momentane Lebensgefährtin. Sie kann sehr kratzig werden wenn sich bei mir jemand anders ausbreitet.“
„Ich verstehe“, sie drückte mir fünfzehn Euro in die Hand, ich nullte das Taxameter, „dann fahren sie mich eben zur Polizei.“
Dort schoben die Herren Dienst, die kürzlich die beiden von meinem Chef und mir bereits fachmännisch zusammengeschlagenen Herren übernommen hatten, denen es nicht gelungen war, sich gewaltsam meines Wechselgeldes zu bemächtigen. Aber das ist eine andere Geschichte.
„Guten Abend Frau Vollendorf“, der Hauptwachtmeister setzte seine Kaffeetasse ab, „müssen wir ihnen wieder zwangsweise Zutritt zu Ihrer Wohnung verschaffen?“
„Ich wäre ihnen dankbar“, sagte ich.
„Kein Problem. Grüßen sie ihren Chef schön.“
Der Hauptwachtmeister nahm seine Tasse wieder auf.
„Haben sie hier eigentlich schon eine Espressomaschine?“ fragte ich.
Mit bescheidem Lächeln um die Mundwinkel schüttelte der Hauptwachtmeister den Kopf.
„Sauerei!“ sagte ich mit freundlichem Lächeln, „mein Chef erwähnte kürzlich, dass unsere Polizei nicht ausreichend ausgerüstet ist. Das sollte man ändern!“
„Gute Idee“, der Hauptwachtmeister schob seine Pistole ins Halfter, „ich denke, wir müssen mal wieder tätig werden! – Erwin, Show-Time!“
Gewissermaßen erleichtert, weil die Dame nicht im Taxi niedergekommen war, verließ ich die Wache und nahm Kurs auf den Bahnhof. Herrgott, ich hätte Herman fast vergessen! Schnell zur Pumpe. Ich kam innerhalb der vereinbarten Zeit an, aber Herman war nicht mehr da.
„Der ist gerade mit Karl nach Hannover rein gefahren. Du bist ja nicht gekommen.“
Etwas deprimiert parkte ich mich beim Bahnhof ein, hinter `Bleifuß Bertram´. Der war gerade von Andrea gekommen, aber die Nummer mit dem Transvestiten im Frauennachttaxi war noch nicht ganz ausdiskutiert, zudem trug er sich tatsächlich mit dem Gedanken, seinem Chef das Ding mit der Rückwärtseinparkhilfe nahezulegen.
Glücklicherweise kam Ingolf entlang, stelle sein Taxi hinter meins und schnipste seine Zigarettenkippe in den Gully. Er traf immer, aus jeder Position des Taxenplatzes.
„Tja“, sagte Ingolf nachdem er ausgestiegen war, „ein Taxi hat nichts mit Fortbewegung zu tun. Der Sinn des Taxis ist, sich mit möglichst vielen Artgenossen auf dafür vorgesehenen, ausgezeichneten Flächen zu treffen. Dann steigen die Fahrer aus und führen hehre Gespräche, zum Beispiel darüber, was es alles soll.“
Ruck Zuck waren wir beim Taxi im philosophischen Sinn, ich vertrat den Standpunkt, dass ein Taxi lediglich ein Verbund loser Teile ist, die einzig und alleine durch die Kunst des Fahrers zusammengehalten werden. Diese Teile sind beseelt und haben nichts anderes im Sinn, als den größtmöglichen Schaden an Physis und Psyche des Fahrers anzurichten, wobei sie von zumindest einigen Fahrgästen nach Kräften unterstützt werden.
Letzteres wollte und konnte Ingolf mir im philosophischen Sinn nicht widerlegen, aber heute kamen wir irgendwie auf die Überlegung, dass die Möglichkeit besteht, das wir lediglich die Träume eines großen, schlafenden Wesens sein könnten, und wenn dieses aufwacht, hören wir sowieso alle auf zu existieren. So ähnlich fühlte ich mich auch; - irgendwie schlafend, alles kam mir ein ganz klein bisschen surreal vor, und ich war noch am nachdenken, da parkte die Kreolen-Roswitha ihr Taxi unvermittelt ein wenig schludrig hinter Ingolf und brach gnadenlos in unser Gespräch ein:
„Kinnings, ich hab‘ den Beweis!“
„Den Beweis wofür?“ fragte Ingolf.
„Dass mein Mann eine andere hat!“ Roswithas Kreolen schaukelten, was ihre aufgewühlte Gemütslage verriet. Ich hatte sie noch nie ohne die mächtigen Ringe in den Ohrläppchen gesehen.
„Erzähl!“ meinte Ingolf, während ich mich darauf beschränkte, die Stirn zu runzeln.
„Also, da waren doch die Großmodellflugtage bei Steinwedel. Da ist er mit Benno hin. – Aber Benno hatte abends vom ständigen Hochgucken einen Sonnenbrand im Gesicht, und Diether nicht! Da wird er wohl inzwischen bei einer anderen Frau gewesen sein!“
„Die hatten da sicher auch ein Bierzelt“, sagte ich, „vielleicht hat er da drin gesessen, das eine oder andere kühle Bier zu sich genommen und den Flugvorführungen von dort aus beigewohnt. Mit wessen Auto sind die gefahren?“
„Mit Bennos.“
Ich hätte Roswithas exorbitante Beweisführung gerne entkräftet, denn ich kenne Diether als Mann, der jeder Komplikation aus dem Wege geht und schon rot wird, wenn er ein Damenfahrrad sieht, aber aus dem nahen Restaurant kamen drei Paare.
Die wollten nach Immensen und die Damen bedauerten, dass kein Großraumtaxi zur Verfügung stand, weil sie doch so gerne alle gemeinsam zu fahren beabsichtigten, nachdem ihre Männer sie so großzügig zum Essen eingeladen hatten, und keines der Paare wollte sich trennen. Die Damen diskutierten ein Weilchen rum, wer denn mit `Bleifuß Bertram´ und wer mit mir fahren wollte, bis ich den Vorschlag machte, das `Bleifuß Bertram´ die Herren und ich die Damen per Frauennachttaxi nach Hause fahren würde.
Fand allgemeine Zustimmung, dieser Vorschlag, und die Herrschaften begannen an Bord zu gehen, bis auf ein Paar, das sich, eng umschlungen Küsse tauschend, nur ungern trennen wollte.
Schließlich, nachdem `Bleifuß Bertram´ mehrmals ungeduldig gehupt hatte, quetschte sich die junge Dame neben die anderen auf die Rückbank. Ihr junger Herr kam zu mir und nahm mir das Versprechen ab, extrem vorsichtig zu fahren, er würde diese Frau über alles lieben, und sie wäre das Kostbarste, was er hätte. Sie stieg noch mal aus und sie umschlangen sich erneut in unübersehbarer Leidenschaft.
Die Damen auf der Rückbank seufzten, und `Bleifuß Bertram´ kam entlang, die beiden zu trennen. Das klappte erst nachdem die beiden Herren in Bertrams Taxi bedrohlich zu brummeln begonnen hatten.
Die junge Dame warf ihrem Herrn tränenfeuchten Auges noch eine Kusshand zu und murmelte: „Blödes Arschloch!“ bevor ich des Taxis Tür hinter ihr schließen konnte, während der `Bleifuß Bertram´ bereits mit wimmernden Reifen startete und ich mich hinters Lenkrad setzte.
„Na, dann wollen wir uns doch auch mal auf den Weg machen“, ich drehte den Zündschlüssel, „nach Immensen sagten sie?“
„Quatsch“, murmelte die Dame in der Mitte, „bitte nach Peine zur Disko!“
„Wieso Disko?“ die Dame, die sich schwer hatte von ihrem Herrn trennen können, „in Hämelerwald gibt’s einen Swingerclub, in dem auch einzelne Damen Zutritt haben! Da fahren wir jetzt hin!“
„Au ja“, jubelten die beiden anderen Damen, „das machen wir jetzt!“
„Entschuldigung meine Damen, aber ich weiß nicht, wo in Hämelerwald ein Swingerclub ist“, versuchte ich die Situation zu entschärfen. Das glaubten sie mir nicht und drohten an, eins der beiden anderen Taxis zu nehmen. Bei Ingolf war ich mir nicht ganz sicher, aber Roswitha hätte die Damen sicherlich mit voller Begeisterung zum Swingerclub gefahren.
Was half’s? Nichts half’s!
Die Damen baten mich, im Fond des Taxis Licht zu machen und legten mächtig Rouge auf, bis ich vor dem Swingerclub einkurvte. Keine der Damen wollte mir den Vordruck für das Frauennachttaxi ausfüllen, weil sie ihre Adresse dann hätte preisgeben müssen. Wieder war eine langatmige Diskussion fällig, bis eine Dame kichernd den Namen Anneliese erwähnte und das Formular grinsend ausfüllte.
Ich fuhr etwas deprimiert zurück. `Bleifuß Bertram´ war bereits wieder da und wollte wissen, wo ich solange geblieben wäre, die Herren waren sehr in Sorge.
„Die Damen haben spontan umdisponiert“, sagte ich, „sie wollten zweckbestimmt nach Hämelerwald um den Abend dortselbst möglicherweise orgastisch kulminieren zu lassen. Vielleicht ist es ein Naturgesetz, dass die Damen häufiger intuitiv umdisponieren als die Herren.“
„Was?“ `Bleifuß Bertram´ zeigte sich etwas erstaunt, doch er bekam eine Fahrt bevor er irgendwelche Fragen stellen konnte. Ich rückte vor, auf die Pole-Position und drehte das Radio etwas lauter. Fröhlicher Vivaldi, die vier Jahreszeiten. Langsam begann Müdigkeit hinter meine Augäpfel zu kriechen, jetzt, wo ich langsam zur Ruhe kam und ich lehnte mich zurück, die Musik genießen.
Ich kam nicht so recht zum Genießen, während des Sommers der vier Jahreszeiten stieg eine heftig nach hochprozentigen Drinks und Moschus duftende Dame in Netzstümpfen und Stöckelschuhen unvermittelt ein und riss mich damit in die Realität zurück.
„Schöne Musik haben sie! ‘hört man selten in einem Taxi. - ‘Am Birkenhain’ bitte!“
„Sehr gerne, Frau Doktor Gelbspötter. Haben wir denn wiederum ein wenig der Völlerei gefrönt?“
„Ach, sie sind’s wieder! Sie wissen doch, dass ich mir einmal im Monat einen freien Abend gönne ... wenn es die Hormone fordern.“
„Gewiss, gnädige Frau. Ich bin Taxifahrer; - nichts Menschliches ist mir fremd.“
Ich hatte Frau Doktor Gelbspötter bereits einige Male gefahren, sie ist Dr. Phil., beantwortet in einer feministischen Zeitschrift die Leserbriefe, arbeitet in einer Partnervermittlung und gönnt sich hin und wieder mal einen ‘freien Abend’.
Ich brachte sie heim, sie füllte mir den Vordruck für das Frauennachttaxi aus, während sie einen sauren Bonbon lutschte, gab mir einen Fünfer, und ich geleitete sie mit meiner Taschenlampe zum Hauseingang.
„Das ist aber nett, dass sie mich zur Tür bringen! Sie sollten hin und wieder etwas tun, was konträr zu dem steht, was sie die meiste Zeit des Tages tun“, sagte sie mit etwas schwerer Zunge, „sonst kann es zur Verwirrungen kommen. Es muss aber etwas sein, was sie können, was sie gelernt haben.“
„Ich werde es selbstredend beherzigen, Frau Doktor. Morgen gehe ich schwimmen.“
„Da tun sie gut dran!“
Sie ging hinein und schloss die Tür.
Das war’s. Keine Komplikation, kein Stress; - seltsam.
Immer wenn man glaubt, alles läuft nach Plan,
hat man etwas übersehen’,
dachte ich und fuhr langsam zum Bahnhof zurück.
Dort stand ein weißer Edsel mit Taxenschild ganz alleine auf dem zweiten Platz. Lilith mit ihrem Oldtimertaxi - ein echter Hingucker; - das Taxi auch.
Der weiße Lack ihres Taxis schien von sich aus zu leuchten, Lilith stand an die Beifahrertür gelehnt und der Rauch ihrer Zigarette stieg senkrecht in die Höhe. Sie trug wieder ihr toughes Parfum, etwas süßlich, etwas herb, ein wenig Hanf und etwas undefinierbares.
„Hallo!“ Ihre Stimme war rauchig, ihre Bluse zwei Knöpfe zu weit geöffnet, ihre Jeans zu eng und ihre Schuhe hochhackig, „möchtest Du auf die Pole-Position?“
„Aber ich bin doch nach Dir eingerollt.“
„Macht nix.“
„Wenn es Dich beruhigt, fahre ich nach vorne. Aber nicht, dass Du nachher böse bist mit mir.“
„Keine Sorge!“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, „wollen wir es wieder versuchen? Es ist ruhig heute, vielleicht sind wir ungestört.“
Ihr Lächeln war herausfordernd.
„Klar!“ Ich fuhr meinen Wagen nach vorne, stieg aus und verschloss ihn.
„Schwarz oder Weiß?“ fragte Lilith.
„Schwarz! Wie üblich.“
Sie holte ihr Schachspiel mit den Magnetfiguren aus dem Taxi, baute die Figuren auf und stellte das Spiel auf den Kofferraum ihres Edsels.
Als wir kürzlich gespielt hatten, pflegte sie ihre Bluse einen Knopf weiter aufzuknöpfen nachdem ich gewonnen hatte. Ihre Bluse hatte sieben Knöpfe, wir waren beim vierten Knopf.
Sie eröffnete Spanisch, ich zog den Königsbauern.
Wir spielten; sie sehr ernsthaft, ich ein wenig unkonzentriert, was dazu führte, dass mein Damenopfer nicht funktionierte. Lilith schürzte die Lippen und schlug meine Dame. Gnadenlos.
Sie nestelte am untersten, geöffneten Blusenknopf, ein sicheres Indiz dafür, dass sie mich in spätestens drei Zügen matt zu setzen gedachte. Ihr Blusenstoff knisterte.
Während ich angestrengt grübelte, trat ein älterer Herr heran.
„Entschuldigung, ich unterbreche sie ungern, aber ich müsste dringend nach Evern, und ich würde gerne mit dem Oldtimer fahren“, er hielt einen zusammengefalteten Zwanziger hoch, „dieses als Trinkgeld im Voraus.“
„Klar“, sagte Lilith, „ich bring‘ sie hin.“
Mit einer Hand schloss sie einen Blusenknopf, mit der anderen reichte sie mir das Schachbrett, „ich glaube, Du bist am Zug. Bis gleich. – Denk’ schon mal über den nächsten Zug nach.“
„Danke.“ Ich nahm das Schachbrett und legte es in meinem Taxi auf das Armaturenbrett, „ich überleg‘ mir den nächsten Zug.“
Liliths Edsel fuhr mit wiegenden Heckflossen davon.
‚Irgendjemand müsste mir mal die Frauen erklären‘, dachte ich, setzte mich hinters Steuer und blickte auf die Figuren vor mir. Die weiße Dame schien mich anzugrinsen, sie hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit Lilith. Ich müsste mit einem Springer raus, könnte sie damit bedrohen und hätte gleichzeitig die Möglichkeit zu einer Rochade.
In diese Überlegung hinein meldete sich mein Chef über Funk:
„Bist Du gestorben? Oder warum meldest Du Dich nicht mehr frei?“
„Entschuldige, aber ich habe gerade ein paar interessante Fahrten absolviert, und mich hier am Bahnhof ein wenig eingeparkt. - Wo soll ich denn dann jetzt mal eben vielleicht ein Bisschen hin fahren oder so?“
„Zum Crédence. Dort wartet eine schöne Frau auf Dich. Sie will nur mit Dir fahren.“
„Wohlan! Dann will ich sie nicht warten lassen.“
Ich stellte das Schachbrett auf die hintere Ablage und war gespannt auf die Frau, die nur mit mir fahren wollte. Als eine schöne, schwarzhaarige Frau beim Crédence und zu dem Haus wollte, in dem ich auch wohnte, war ich doch etwas irritiert.
Sie sprach ein gepflegtes Amerikanisch, bezahlte in Dollar und meinte, nachdem ich ihr kavaliersmäßig den Wagenschlag geöffnet hatte und sie mit geschmeidigen Bewegungen ausgestiegen war, dass wir uns bald wiedersehen würden.
Sie schüttelte ihr Haar, warf ihr Jäckchen grazil über die Schulter und ging mit wiegenden Hüften zur Tür. - Ich war mir sicher, sie schon mal gesehen zu haben.
„Bist Du wieder frei?“ Mein Chef!
„Ja, die Dame ist soeben von Bord gegangen.“
„Gut, dann fahr‘ doch bitte noch mal zur Crédence, da warten diesmal zwei Damen.“
„Seltsam“, sagte ich, als ich startete, „heute Nacht fahren nur Frauen mit mir.“
„Dann freu‘ Dich doch.“
„Das tue ich auch. So“, ich parkte vor dem Crédence ein, „dann hole ich die Damen mal eben ab.“
Motor abstellen, aussteigen, Taxi verschließen, rein gehen, „Ihr Taxi bitte.“
„Wir hatten aber ausdrücklich um eine Frau gebeten! Warum hat das denn so lange gedauert?“ Eine Frau mit derbem Gesicht, Herrnhaarschnitt und Schlabberpullover knallte ein halbvolles Weinglas auf die Theke.
„Es tut mir leid, aber meine Kollegin hat sich heute überraschend frei genommen. Ihre Schicht wurde somit vakant, da habe ich mir erlaubt einzuspringen.“
„Na ja. Wir kommen gleich. Da musst du noch etwas warten oder was!“
„Herzlich gerne, meine Damen.“
Zurück ins Taxi, das Radio etwas lauter und zurücklehnen. Carl Ditters von Dittersdorf, Harfenkonzert in A Major; eine phantastische, filigrane Musik, ich genoss das Allegro Molto, während ich genussvoll einen sauren Bonbon lutschte. Die Müdigkeit begann wieder in mir hochzukriechen wie die Ameisen an einem verendeten Wildschwein, jetzt, wo ich einen Moment Ruhe tanken konnte. Während des Adagios wurde die hintere Tür aufgerissen, die Frau mit dem Schlabberpullover und ein ähnliches Exemplar wuchteten sich auf den Rücksitz.
„Was ist denn das für Barackenmusik? Hast du denn kein N-Joy oder was?“
„Schauen wir mal“, ich reichte den Damen die Bonbontüte nach hinten und tippte die Programmtasten an, irgendwann quollen Geräusche aus den Lautsprechern, als fiele ein Besoffener in eine Schießbude.
„Das lass an!“
„Ist das Musik?“ fragte ich vorsichtig.
„Na klar! – Willst du hier Wurzeln schlagen oder was?“
„Äußerst ungern. – Wo soll’s denn hin gehen?“
„Erst nach Rehtmar und dann nach Dolgen. Los, fahr schon oder was!“
„Äh, Ja!“ Ich wendete etwas regelwidrig über die Straße in Richtung Sehnde während sie begannen, meine sauren Bonbons zu vermampfen.
„Allzu viel davon ist ungesund, das kann bei Männern zu Wahnvorstellungen führen oder was. - Weißt du eigentlich, warum die Blondinenwitze immer so primitiv sind?“ eine der Damen von hinten, „damit ihr Männer die auch versteht! Höhöhö.“
Es folgten noch einige Witze dieser Kategorie: „Was haben Wolken und Männer gemeinsam?“
„Beide schweben in höheren Sphären“, vermutete ich.
„Quatsch! Wenn sie sich verziehen, kann es ein schöner Tag werden. Höhöhö. - Warum müssen Männer ein Chromosom weniger als Schweine haben?“
Ich zuckte die Achseln.
„Damit sich ihr Schwanz nicht kringelt. Höhöhö.“
Bis Retmar versuchten mich die Damen mit ausgelassenem Frohsinn dieser Kategorie aufzuheitern, aber als ich ihnen kavaliersmäßig die Tür öffnen wollte, waren sie einhellig der Ansicht, dass sie das alleine könnten, und ich sollte man ruhig sitzen bleiben mit dem Arsch.
Eine der Damen stieg aus und ging zu einem Haus, das dezent verborgen hinter Büschen gebaut worden war.
„Was ist?“ die mit dem Schlabberpullover hinter mir, „willst du nicht weiterfahren oder was?“
„Einen kleinen Moment noch, bis die Dame im Haus ist. In dem Gebüsch könnte sich ein Unhold versteckt haben. Eine Vorsichtsmaßnahme, die von unseren kultivierten Fahrgästen allgemein sehr geschätzt wird.“
„Das kannst du dir bei mir sparen!“
„Wenn sie meinen...“, die Dame war ins Haus gegangen, „dann fahren wir erbarmungslos weiter. Nach Dolgen sagten sie?“
„Hab‘ ich doch gesagt oder was! – Weißt du, was ist, wenn ein Mann eine Fliege verschluckt?“ Sie knüllte die leere Bonbontüte zusammen und warf sie über die Schulter nach hinten, „dann hat er mehr Gehirn im Bauch als im Kopf! Höhöhö.“
Es folgten noch einige Beispiele derart feinsinnigen Humors, bis ich das Taxi vor der angegebenen Adresse zum Stehen brachte.
„So, da haben wir’s! Achtzehnvierzig meint die Uhr. Soll ich sie zum Haus geleiten? Es ist etwas dunkel.“
„Was soll‘ denn der Quatsch? Kannst sitzen bleiben mit dem Arsch oder was.“ Sie gab mir zwei Zehner und stieg aus. „Wissen sie, was das ist, ein Mann im Knast?“
„Ein Irrtum?“
„Nein, artgerechte Haltung. Höhöhö.“
Sie knallte die Tür mit einem Kraftaufwand zu, der ausgereicht hätte, einen Güterzug anzuschieben.
Ich schrieb die Fahrt auf. Als ich das Blöckchen mit den Fahrtenbögen zuklappte, klopfte die mit dem Schlabberpullover ans Fenster.
„Würden sie nicht doch ... es ist so dunkel...“
„Herzlich gerne.“
Ich brachte sie zum Haus, zwei Schritte hinter ihr, den Lichtkegel der Taschenlampe vor ihr auf dem Boden und am Haus hübsch das Türschloss angeleuchtet, bis der Schlüssel drin steckte.
„Hier“, sagte sie, drückte mir einen Zettel in die Hand und schlüpfte ins Haus, „wenn du mich mal anrufen willst...“ Sie knallte die Tür zu.
Eine Handynummer und ein Name auf dem Zettel; - ausgerechnet Maria!
Zurück ins Taxi und erst mal eine Zigarette.
„Und nun auf Wunsch einer Dame aus Dolgen etwas für den netten, einsamen Taxifahrer, der sie so vorbildlich in dieser dunklen Nacht nach Hause gebracht hat“, schwafelte der Moderator lustlos im Radio.
Maria aus der ‘West Side Story’ folgte.
Die Dame hätte in der kurzen Zeit zwischen Türzuklappen und Zigarette anzünden telefonisch unmöglich zum Sender durchkommen und einen Wunsch äußern können – oder?
Ich war eine Spur zu müde, mich zu wundern, auch nicht, als ich auf der Rückfahrt kurz vor Ramhost Liliths weißen Edsel sah.
Er war platt, ein Metallstück lag auf dem Dach. Ein Notarztwagen entfernte sich mit funkelndem Blaulicht als ich hinter der Absperrung anhielt.
Bevor ich begriff was vorgefallen war, trat ein Polizist heran: „Fahren sie bitte weiter! Sie behindern die Bergungsarbeiten! – Ein Satellitentrümmer...“
„Bitte, was ist mit meiner Kollegin?“
„Der Notarzt versucht ihr zu helfen. – Bitte fahren sie weiter!“
„Natürlich.“
Ich fuhr weil ich nichts anderes tun konnte, und ich fuhr wie durch einen Tunnel aus Licht.
Mir fiel die Erzählung meiner Großtante ein, wie sie nach einer Gallenblasenoperation kurzzeitig klinisch tot war und nach ihrer Reanimation berichtete, durch einen hellen Tunnel geschwebt zu sein. Ich fuhr durch solch einen Tunnel, aber warum, zum Teufel, war ich plötzlich in Immensen?
Egal, weiter!
Irgendwann ragte irgendwo eine Hand mit erhobenem Daumen in diesen Tunnel und ich hielt.
Eine junge Dame am Straßenrand. Barfuss, blaues, schwingendes Kleidchen, schmale, durchsichtige Flügel und einen silbernen Stab in der Hand.
Ich hielt ihr die hintere Tür auf und sie glitt ins Taxi, eingehüllt in eine goldene Korona.
„Nach Dachtmissen bitte.“ Mit einer Stimme wie von Harfenklängen begleitet nannte sie mir die Adresse, zu der ich gelegentlich Herren fahre, die wild entschlossen sind, sich mit einigen Damen und etlichen Flaschen Sekt zu amüsieren.
Ich nickte und fuhr los.
Es war seltsam hell im hinteren Taxi, was meine Sicht im inneren Rückspiegel arg einschränkte.
„Darf ich hier rauchen?“ Wieder die Harfenstimme.
Ich nickte, gab ihr erst meine Zigaretten und dann mein Feuerzeug. Sie blies Rauchwolken in ihre Korona bis wir ankamen, und ich das Taxameter stoppte.
„Wissen sie, ich möchte hier noch etwas ‘arbeiten‘, um mein Taschengeld aufzubessern“, sie lächelte, „ich habe grad kein Portemonnaie mit, haben sie das denn nicht gesehen?“
„Ich habe nicht drauf geachtet. Was machen wir den jetzt?“
Sie ließ ihren silbernen Stab um die Finger kreisen.
„Ich erfülle ihnen statt dessen eine Wunsch. Drei Wünsche kriege ich noch nicht hin, ich absolviere nämlich gerade ein Praktikum in der Imaginationsbranche“, teilte sie mir mit silberhellem Kichern mit, „aber einen werde ich wohl schon schaffen.“
„Das ist ein Wort! Würden sie mir netterweise die Frauen erklären, wie die Frauen sind, was sie denken wenn sie schweigen, warum sie plötzlich weinen und was sie wollen wenn sie ‘ach, nichts’ sagen, Mein Wunsch ist, die Frauen zu verstehen.“
„Das ist etwas kompliziert. Ich bin, wie gesagt, noch in der Ausbildung. Haben sie eine etwas leichtere andere Möglichkeit?“
„Dann bringen Sie mir bitte Lilith wieder.“
„Okay“, sagte die Frau mit Harfenstimme, „’will sehen, was sich machen lässt. - Zumindest teilweise...“
Begleitet von einem Geräusch, als fiele eine Harfe um, verließ sie das Taxi und entschwand mit einer Intensität in der Dunkelheit, als knipse sie ihre Korona aus. Meine Zigaretten nebst Feuerzeug hatte sie mitgenommen und auf der hinteren Sitzbank mächtig viel goldenen Staub hinterlassen.
Half alles nix, auf zum Autohof, tanken, Zigaretten nebst Feuerzeug kaufen und kurz an den Staubsauger. Weg mit dem goldenen Zeugs, bevor der nächste Fahrgast dumme Fragen stellt. Zurück zum Taxenplatz.
Die Nacht begann sich aufzulösen, der Morgen machte mit fließendem Übergang an der Stelle weiter, an dem der Abend zuvor aufgehört hatte. Die Menschen lösten sich aus ihren Träumen und begannen das zu tun, was das Leben für sie vorgesehen hatte.
Ein tougher Duft begann mich einzuhüllen, „Na, was ist? Wollen wir nicht weiter spielen?“
Liliths Stimme, nicht zu lokalisieren, sie kam von irgendwo her.
„Warum eigentlich nicht?“
Ich griff mir das Schachbrett von hinten, stellte es auf das Armaturenbrett vor mir und ging mit dem Springer raus.
„Das habe ich befürchtet...“ Das knisternde Geräusch eines sich öffnenden Blusenknopfes erfüllte das Taxi und dann bewegte sich die weiße Dame.
„Nicht schlecht“, sagte ich und zog einen Läufer, „gardez la Dame!“
„Oh!“
Ein Feuerzeug schnappte auf, Zigarettenrauch drang von irgendwo her, die weiße Dame bewegte sich wieder, stieß gegen einen meiner Bauern und blieb auf dem Feld stehen. Der Bauer schwebte an den Rand des Feldes.
„Guter Zug“, sagte ich und überlegte, ob eine Rochade aus der Situation heraus noch sinnvoll war.
„Moin, Moin“, quarrte das Funkgerät in meinen Gedankengang, „kommst Du denn zur Zentrale, oder bist Du eingepennt?“
„Hab’ ich denn hier nie meine Ruhe! Moin Schorse! Ich bin nicht eingepennt, noch nicht. Jedoch hege ich die Hoffnung, das Du mich ablösen möchtest.“
„Na klar doch. Wenn Du Dich beeilst, ist noch Kaffee für Dich da.“
Das Schachbrett vor mir schob sich langsam ins Nichts, es verschwand wie hinter einem Vorhang aus dem, was zu sehen war, „wir machen Morgen weiter.“ Liliths Stimme.
„Das ist ein Wort“, sagte ich und startete den Motor.
Verdammt, der Mann mit dem Koffer, ich sagte noch schnell in der Zentrale Bescheid und raste los in Richtung Kröpcke. An die Fahrt dorthin habe ich keine Erinnerung mehr. Ich fuhr los und ich war da, die zwanzig Minuten, die ich normalerweise zum Kröpke brauche, schrumpften zu einer negativen Ewigkeit.
Auch diesmal erzählte er, wie er sich amüsiert hatte. Er hätte schwanken müssen, oder bewusst geradeaus gehen, wie die Betrunkenen, die behaupten, nichts getrunken zu haben. Er hatte einen Gang wie Gary Cooper in ‘Zwölf Uhr Mittags’, als er in Lehrte zwischen den Häusern verschwand. Seinen Koffer schlenkerte er lässig in der Hand. Sicher war er im Kino gewesen und hatte mir nur erzählt, dass er was getrunken hatte. Wieder hatte er mir ein großzügiges Trinkgeld gegeben und mir das Versprechen abgenommen, in der nächsten Woche am Freitag zur gleichen Zeit am gleichen Ort auf ihn zu warten.
Ich war verdammt zu mürbe, um mir irgendwelche Gedanken zu machen.
Abrechnen, dünnen Kaffee trinken und kurz erwähnen, dass nichts besonderes los gewesen war. Schorse brachte mich nach Hause.
Anna-Karenia lag auf dem Sofa, gähnte und sagte:
„Wurde auch langsam Zeit, dass Du heim kommst! Was ist nun mit Film und Thunfisch?“
„Hab‘ ich Dir doch versprochen!“
Ich öffnete eine Dose Thunfisch, legte den Inhalt auf Anna-Karenias Goldrandteller, drapierte die Mahlzeit mit gekochtem Schinken, trug sie ins Wohnzimmer und schob ’Die Feuerzangenbowle‘ in den Recorder.
Wir hatten den Film schon öfter gesehen, Anna-Karenia und ich, aber das Jane Russel in der ’Feuerzangenbowle‘ mitspielte, war mir bisher nicht aufgefallen, aber ich erinnerte mich der schwarzhaarigen Dame, die erst mein Chef und dann ich gefahren hatte -, es musste Mrs. Russel gewesen sein!
„Die ist ganz dumm“, sagte Anna-Karenia, „vorhin ist die mal kurz weggegangen, und als sie wieder kam, ist sie in die falsche Kassette gegangen.“
„Das erklärt natürlich alles, aber deshalb ist man noch nicht gleich dumm! Jeder kann mal was verwechseln, Du auch.“
„Wieso ich?“
„Normalerweise sprechen Tiere nur in der Johannisnacht.“
„Ist heute denn keine Johannisnacht?“
„Nein.“
„Entschuldigung, hab‘ ich wohl verwechselt“, sagte Anna-Karenia, „Miau.“
Schade, ich hätte gerne noch ein wenig mit ihr geredet, erfahren, wie sie denn die Welt aus ihrer Perspektive so sieht, aber eine bisher unbekannte Mattigkeit nagte an mir. Anna-Karenina schenkte mir ein kleines, mildes Lächeln und rollte sich auf dem Sofa zum Schlafen zusammen.

Helles Tageslicht floss in meine Wohnung, ich ging schlafen.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ui - das ist entschieden zu lang. Vor allem für's Bildschirmlesen. Mache mindestens zwei Teile draus. Und das Thema Sex und Topfkuchen solltest Du vertiefen.
;-)
 

Hagen

Mitglied
Hallo Doc!
Danke, dass Du Dich durch diesen langen Text gekämpft hast.
Über die Geschichte mit dem Topfkuchen denke ich nach.
Ich werde es gelegentlich mal antesten und darüber berichten.
Da mir derartige Experimente meistens 'ein wenig aus dem Ruder laufen', wird wahrscheinlich wieder ein Desaster draus.

Liebe Grüße
Hagen

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Wenn etwas auf verschiedene Arten schiefgehen kann, dann geht es immer auf die Art schief, die am meisten Schaden anrichtet.
 

Hagen

Mitglied
das ist mein Anspruch!
Hauptsache es macht Spaß!

Viele Grüße
Hagen

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Je dringender man ein Detail für eine gute Geschichte braucht, desto schwieriger ist es zu recherchieren; -
es sei denn, man hat die Geschichte selbst erlebt.
 



 
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