Eine Landkarte meiner Jugend

van Geoffrey

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Eine Landkarte meiner Jugend

Auf der Landkarte meiner Jugend finden sich Orte, die – allesamt nicht weit von meinem Zuhause entfernt - für mich eine besondere Bedeutung hatten. Von ihnen soll dieses Kapitel handeln.


Der Spielplatz

Der Spielplatz meiner Kindheit und Jugend war wirklich der Spielplatz unserer Wohngegend gewesen. In unmittelbarer Nähe gab es einfach keine vergleichbare Grünfläche, die ein Klettergerüst und ausreichend Platz zum Fußballspielen bot.

„Ich geh‘ zum Spielplatz.“ War eine von mir häufig gewählte Phrase, wenn ich nach der Schule noch Lust auf Gesellschaft, Spaß, Sport, Spiel und Abenteuer hatte.

Wenn wir Lausbuben uns am Nachmittag treffen wollten, verabredeten wir einen ungefähren Zeitpunkt. Ort des Treffens war und konnte kein anderer sein als „der Spielplatz“. Hatte man keine Verabredung getroffen, so konnte man immer noch hoffen, zufällig irgendjemanden dort, am Spielplatz, zu treffen.

War niemand da, oder wartete man auf die anderen, nutzte man einfach einsam aber fröhlich die zu Gebote stehenden Spielmöglichkeiten. Man erkletterte das Klettergerüst, das aus massivem Rundholz errichtet worden war oder rollte die Traktorreifen, die dort herumlagen, und zum Spielen einluden, durch die Gegend.

Nicht weit vom Spielplatz entfernt wohnte ein gewisser Andreas Höller, ein Schulkamerad, der so wie Bertl und ich schon auf Grund seiner räumlichen Nähe zum Stammpublikum des Spielplatzes gehören musste.

Alles an diesem Spielplatz verhieß Abenteuer. An der der Straße abgewandte Seite des Spielplatzes grenzte sich dieser durch einen Maschendrahtzaun vom dahinter liegenden verwilderten Grundstück ab. Bald hatte mir einer der Knaben beigebracht, wie man sich auf dem Rücken liegend unter dem Zaun auf die abenteuerliche Wiese wälzen konnte, indem man ihn so weit anhob, dass man mit ein paar Schrammen auf dem Rücken liegend unten durch konnte. Man konnte sich dort im hohen Gras vor den Erwachsenen verstecken, die uns darauf ansprechen konnten, was wir Kinder denn unbefugt auf dem Grundstück zu suchen hätten.

Einmal brachte mir der Bertl auf dem Spielplatz ein neues Kunststück bei, das seinesgleichen suchte: die Räuberleiter. Es gab auf dem Spielplatz einen eidottergelben Betonblock mit einer kreisrunden Öffnung in etwa 1,8 Meter Höhe. Dort durch zu klettern musste ein unerhörter Spaß sein. Eine Heldentat, die ihresgleichen sucht. Weil langes und angestrengtes Nachdenken schließlich doch fruchten muss, zog mich Bertl schließlich ins Vertrauen, wie man das anstellen konnte: mit einer Räuberleiter. Dann wies mich Bertl an, die Hände vor der Leibesmitte zu verschränken, etwa so, wie man es auch in der Kirche beim Beten machte. Dann stieg Bertl mit einem Fuß auf diesen Halt, zog sich hinauf, wobei er sich mit den Händen abwechselnd an mir oder an der Öffnung in der gelben

Betonmauer festhielt. Hatte er erst einmal mit den Händen sicheren Halt am unteren Rand der Öffnung gefunden, so stellte er beherzt den anderen Fuß auf meine Schulter, ließ den Halt des ersten Fußes auf meinen Handflächen fahren und ließ sich mit dem Knie auf dem unteren Rand der Öffnung nieder, während die Hände schon die Oberkante der Betonwand fassten.

Der Spielplatz war ein Biotop eigener Güte. Traf man in der Schule sozusagen „beruflich“ Gleichaltrige, so kreuzten sich unsere Wege aus Neigung und Lust an der Zerstreuung auf dem Spielplatz.

Einer der Spielplatzbuben war Jürgen, mit dem sich mein Freund Bertl anfreundete. Mir selbst war der Bursche zu grob, und sein Humor zu boshaft.

Da seine Eltern ein Wochenendhaus ganz in der Nähe des Spielplatzes hatten und auch, weil Bertl ihn als kurzweiligen Burschen schätzte, traf ich ihn manchmal.

Waren mehrere Kinder auf dem Spielplatz, so konnten wir „das Spiel aller Spiele“ spielen: Fußball. Das war für uns Kinder damals eine furchtbar wichtige Sache. Fußball machte uns irgendwie erwachsen. Wir schrien uns die Seele aus dem Leib, rannten wie verrückt und machten uns wichtig, als ginge es um Leib und Leben.

Den Mangel an gemäßen Einrichtungen machten wir durch Improvisation wett. Die „Torstangen“ wurden von irgendwelchen Utensilien wie ausgezogenen T-Shirts, Holzstückchen oder Autoreifen gebildet. Wir maßen die Weite des Tores mit unseren Schritten, und wenn der Gegner hinterlistiger Weise dieselbe zu eng bemaß, so korrigierten wir diesen Frevel mit wichtiger Miene.

Eine gefährlichere Lustbarkeit, eine Art Mutprobe, war das Herunterspringen vom Klettergerüst. Dazu musste man seine Angst überwinden. Aber wenn man es geschafft hatte, und die Torheiten der Anderen endlich auch nachahmte, fühlte man sich großartig und gehörte dazu.

Außer den Klettergerüsten, ausreichenden Grasflächen und dem eidottergelben Betonblock gab es noch etwas, was man als Spielmöglichkeit nutzen konnte: Auto- und Traktorreifen unterschiedlicher Dimensionen. Während man die Autoreifen rollen und mit geschickten Tritten in Bewegung halten konnte, waren die Traktorreifen allenfalls geeignet, sie anzuheben und sie umfallen zu lassen, oder auf ihnen herumzuspringen.

Die älteren Kinder nannten uns Kleineren damals „Heanadreck“ (Hühnerdreck). Die Älteren waren immer gefährlich, denn sie konnten uns Kleinere dreschen, wenn sie wollten, oder auch – einem derben Humor entsprechend - zu sinnlosen Arbeitsdiensten zwingen.

Die kleine Welt des Spielplatzes hatte für uns einfach alles: Abenteuer, Herausforderung, Spaß und Gefahr.

Der Spielplatz war der Schauplatz unserer Spiele und Abenteuer. Dort mussten wir uns als kleine Mitglieder dieser Gesellschaft in den Dimensionen unserer kindlichen Herausforderungen bewähren.

Was erzählten wir uns dort nicht für Geschichten. Halb waren sie Scherz, halb Ernst, und oft genug aus der eigenen überreichen Phantasie geschöpft.


Die Tauschzentrale

„Die Tauschzentrale“ war eine Gebrauchtwarenhandlung, ein Second-Hand-Shop. Dort lockten bunte Abenteuergeschichten in Form von Comics. Verwaltet wurden diese von der „Alten Frau Röckl“ und ihrer Tochter, der „Jungen Frau Röckl“. In der Hauptsache lebte das Geschäft vom Verkauf von Second-Hand Kleidern, welche von den überwiegend weiblichen Kunden dem Tauschladen bis zu deren Verkauf in Kommission überlassen worden waren.

Dort, in der Literaturecke, fand man in großer Vertrautheit die uninteressanten Liebesromane, neben der wahren Literatur: Superheldengeschichten.

Mein Halbbruder Thomas hatte mich irgendwann überredet, gegen das mütterliche Verbot zur Tauschzentrale zu gehen, um dort „Hefterln“ zu tauschen. Gut, dachte ich mir, was man durfte und was nicht war einerlei, wenn man heimlich dem verbotenen Genuss frönen konnte.

So ging ich also des Öfteren heimlich zur Tauschzentrale und träumte mich beim Lesen in die abenteuerliche Welt der Superhelden.

Interessierten mich anfangs die unglaublichen Abenteuer des Übermenschen „Superman“, so mussten bald mehrschichtigere Charaktere her: die Spinne (wie Spiderman eingedeutscht genannt wurde), Die Fantastischen Vier, Die Rächer und andere.

Neben diesen Superheldengeschichten waren und blieben die bunten Abenteuer von Mickey Maus und Donald Duck unsere Dauerbrenner. Die Erlebnisse der Bilderbuchente mit der erstaunlichen Bandbreite unterschiedlicher Emotionen und Betätigungsfelder fesselte uns Kinder. Unsere Fantasie machte aus den gezeichneten Abenteuern echtes, pralles Leben.

Bertl und ich pilgerten manchmal gemeinsam zur „Tauschzentrale“. Es gab dort diesen unverwechselbaren Geruch, der den Hefterln bis heute eigen ist und der wohl vom Geruch gebildet wird, den Papier und Druckfarben verströmen.



Hochglanzmagazine riechen ganz gewiss anders als Comics. Aber zurück zu unserer Tauschzentrale.



Deren Besitzerin, die „Alte Frau Röckl“ hatte etwas ungemein joviales und redete mit uns Kinder immer interessiert über unsere kleinen Alltagsgeschäfte und Alltagserlebnisse.



Bald hatten Bertl und ich zu Hause einen ansehnlichen Stapel Comics liegen. Der beneidenswerte Bertl hatte sich auf die „Lustigen Taschenbücher“ vom Ehapa-Verlag spezialisiert. Das waren die Abenteuer der Ente und der Maus. Bertl hatte davon schon bald weit mehr als jeder andere Gleichaltrige, den ich kannte.



Der Baumgartner



„Der Baumgartner“ war der einzige in unserer Straße gelegene Greissler. Er war, aus Bertls und meiner Sicht „weiter unten“ gelegen. „Unten“ bedeutete nach unserem damaligen Sprachgebrauch, dass das Geschäftslokal recht peripher und von der Ortsgrenze nicht weit entfernt gelegen war. „Weiter oben“ bedeutete dagegen: näher an der Hauptstraße gelegen. Folgerichtig sagten wir, wann immer wir uns zu einem Zielpunkt an der Hauptstraße aufmachten, wir würden „auffe“ (hinauf) zu N.



fahren. An der Hauptstrasse gab es wieder zwei Möglichkeiten: man konnte nach links „eine“ (hinein) Richtung Ortskern, den das Gemeindeamt darstellte, fahren, oder man konnte nach rechts „ausse“ (hinaus) nach Silberwald fahren.



Was bot nun „der Baumgartner“, dieser Ort kindlicher Freuden und Genüsse. Wollte man ein Eis kaufen, so war die nächstgelegene Bezugsquelle „der Baumgartner“. Oder wenn man – selten genug – genügend Geld für neue Comics hatte, so konnte man sich zwischen den Zeitungen und Magazinen umsehen, und nicht selten fand man nach ausgiebigem Suchen das gewünschte, äußerst bunte Superheldencomic, das für unbeschwertes Lesevergnügen sorgen sollte.



Der Besitzer des Ladens, „der alte Baumgartner“, war ein beleibter Mann mit zerzausten, grauen Haaren und einem aufgeschwemmten, geröteten Gesicht. Er war aus unserer Straße nicht wegzudenken und gebot über ein Warensortiment, das von der Barbi-Puppe über Comics, Hygieneartikel bis hin zum Waschmittel und zum Milchpackerl reichte.



Über der Verkaufstheke war ein Regal angebracht, das mit einem wahren Universum an Spielzeug aller Art überbordend gefüllt war. Sehr selten stieg der „alte Baumgartner“ auf die Leiter, um einen sehnlichen Kinderwunsch zu erfüllen, wenn eine Mutter oder Oma Anlass hatten, einen kleinen Mitbürger zu belohnen.



Als einer der letzten Vertreter der aussterbenden Gattung der Greissler schloss „der Baumgartner“, wenn ich mich recht erinnere, in den 1980er-Jahren für immer seine Pforten, als Herr und Frau Baumgartner in Pension gingen.



Die Ära und Herrschaft der Supermärkte hatte unwiderruflich begonnen. Die letzten Schleichwege zum „Klein Aber Fein“-Biotop waren damit für immer versperrt.



Die Grenzstraße



„Die Grenzstraße“ hieß nicht nur so, sie bildete tatsächlich die Ortsgrenze unserer kleinen Strasshofer Welt. Sie verlief quer zu unserer Flugfeldstrasse und war der letzte Vorposten der Zivilisation. Nach ihr kamen nur noch ein paar Häuschen und nach diesen die Prärie – damit meine ich die weiten, ebenen Felder des Marchfelds, die schon zum Ortsteil Gänserndorf Süd gehörten. Dort begannen meine endlosen, schweißtreibenden Radtouren. Dort lockte neues Territorium, endlose Abenteuer mochten auf mich warten.



In meiner Fantasie zeichne ich diese Landkarte meiner Jugend manchmal nach und flaniere ein wenig auf ihren Straßen. Die genannten Örtlichkeiten werde ich aber niemals so wiederfinden, wie sie sich meinem Gedächtnis eingeprägt haben. Den Spielplatz gibt es noch, und wenn ich im Wagen vorbeifahre gehen meine Gedanken manchmal zurück zu jenen Spielen und Abenteuern, die wir damals zu bestehen hatten.
 



 
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