Eine merkwürdige Begegnung

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van Geoffrey

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Eines Tages kam ich an einem Felsen vorbei, auf welchem ein Mann saß, der nur stumm dasaß. Hin und wieder schien er lautlos mit dem Mund Worte zu formen. Erstaunt blickte ich dem seltsamen Treiben eine Zeit lang zu und fragte den anderen nach einer Weile schließlich, was er hier tue, und ob er nicht einer vernünftigen Beschäftigung nachgehen wolle. Der andere entgegnete:
"Ich übe mich in der Rede. Aber ich spreche eigentlich selten, denn als ich mich erstmals zur Rede vorbereitet habe, erkannte ich, dass es zuvor notwendig ist, gutes Denken zu üben. Denn ehe man sein Wort an die Mitmenschen richtet, sollte man sich von allem befreien, was gutes Reden trübt. So ist es nicht gut, sich selber einen höheren Wert zu geben, als den Mitmenschen. Frei sollte man vor allem von Furcht sein, von Gier, von Anmaßung, Neid oder gar Mißgunst. Als ich nun in meinen Vorbereitungen, gut zu denken, fortschritt, erkannte ich immer mehr dieser schädlichen Eigenschaften in mir und so wurde mir immer deutlicher, wie notwendig ich es habe, mich von diesen zu befreien, ehe ich auch nur ein Wort zu einem Menschen spreche. Weit davon entfernt, meine Worte zu überdenken, sah ich mich genötigt, mich zuerst im guten Denken zu üben. Denn meine Worte sollen doch mir selber und meinen Mitmenschen nutzen. Leicht könnten sie aber Schaden stiften, wenn ich unbedacht spräche. Zuerst also will ich gut und in rechter Weise denken, denn aus dem folgt die gute Rede. Jetzt spreche ich zu dir mit allen guten Absichten, deren ich fähig bin. Und da nun alles Notwendige gesagt ist, und ich auch das unnütze Vielreden meiden will, schließe ich nun den Mund und schweige wieder, bis wieder eine Notwendigkeit meine Rede erfordert. Bis dahin wünsche ich dir einen guten Tag."
Damit schwieg der merkwürdige Mann wieder, und setzte in seiner Tätigkeit, lautlose Worte mit den Lippen zu formen, fort. So ging ich wieder meiner Wege weil nun wirklich alles Notwendige gesagt schien. Ich sann noch lange darüber, wie selten wir doch alle unsere Rede bedenken und wie oft die Stimme des Menschen in unbedachter Weise gebraucht werde.
 

Ilona B

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Hallo van Geoffrey,
Dein Schreibstil gefällt mir und Deine Geschichte hat mich angesprochen.
Es ist allerdings vernünftig das Dein Protagonist noch übt, denn an all die höheren Werte, die er vor Redebeginn beachten will, hält er sich noch nicht. Z.B. Anmaßung kann ich noch im folgenden Abschnitt erkennen und das mit dem Vielreden klappt auch noch nicht ganz. ;)
Und da nun alles Notwendige gesagt ist, und ich auch das unnütze Vielreden meiden will, schließe ich nun den Mund und schweige wieder, bis wieder eine Notwendigkeit meine Rede erfordert.
Aber ehrlich gesagt, wäre es auf der Welt sehr still, wenn sich alle daran halten würden, deswegen fand ich den letzten Satz am besten.
Ich sann noch lange darüber, wie selten wir doch alle unsere Rede bedenken und wie oft die Stimme des Menschen in unbedachter Weise gebraucht werde.
Herzliche Grüße Ilona
 

van Geoffrey

Mitglied
Danke für Lob und Kritik

Nun, meine Kurzgeschichte hatte ich nur versehentlich hier gepostet, weil ich denke, dass sie eigentlich zur Kurzprosa gehört.
Sie ist eine Lehre, eine Allegorie, die ich nur verlegenheitshalber in eine Geschichte gekleidet habe. So ist natürlich einer, wie der Protagonist dieser Begegnung, schwer im wirklichen Leben vorstellbar. Er ist einfach eine Aussage, die ich der Einfachkeit halber in eine Person gekleidet habe - also das, was man Allegorie nennt. Die Aussage ist einfach ein Gedanke, denk ich für achtenswert halte, ohne dem Gedanken einen universellen Charakter geben zu wollen, als wäre die Welt UNBEDINGT schöner, wenn alle sich so verhielten.
Nein, Grabesstille in der Welt ist natürlich kein angenehmer Gedanke.
Es gibt ja auch kluge und unterhaltsame Vielredner. Und einer, der mich zum Schmunzeln bringt, ist mir unendlich wertvoll. Dem Wert der rehtorisch Unterhaltsamen will ich mit meiner Geschichte nicht widersprechen.
Danke noch einmal für die Anregung, für Lob und Kritik.
 

herziblatti

Mitglied
Hallo van Geoffrey, eine wohlgelungene Kurzprosa, die mich erquickte - um mich Deinem Sprachduktus ein wenig anzunähern :) LG herziblatti
 



 
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