Eine Nacht im Chateau

Fritz Huber

Mitglied
Das prächtige Hotel Chateau hieß alle willkommen, die der rasenden Eile des Alltags entkommen konnten und sich im Einklang mit der Natur wiederfinden wollten. Das Hotel befand sich in Obhut des umgebenden Waldes, wie die gesamte deutsche Stadt Bad Lauterberg, ein Kurort, den sich noch vor etwa zwanzig Jahren nicht jeder leisten konnte, sondern für sich die Herrschaften mit prallgefühlten Portemonnaies und versagten Nerven beansprucht haben. Erst vor gar nicht so langer Zeit entschlossen sich die Betreiber der Gaststätten und mittelluxuriösen Etablissements, kostengünstigere Alternativen anzubieten, um den Arbeitern aus der oberen Mitte der Gesellschaft einen Einblick in den Genuss des Lebens zu verschaffen, der von nun an nicht mehr ausschließlich den Reichen und den Schönen vorbehalten war.
So nutzte auch Felix Schubert die Gelegenheit, seinem jungen Geiste eine schmackhafte Sensation zu gönnen, für die er, weiß Gott, recht lang den Gürtel enger schnallen musste. Als ausgebildeter Schriftsetzer, verdiente man etwas mehr als genug, um sich die nötigen Utensilien für den Haushalt zu leisten und sogar wöchentlich vorgereiften Chiquita und die guten, selbstgedrehten Marlboro zu erlauben, wenn die lokale Druckerei, wo er arbeitete, genug Profit erzielen konnte und er deswegen einige Scheine ,,unter dem Tisch‘‘ bekam. Nun hatte er genug ins Glas gelegt, um seine betriebsfreie Zeit in der exquisiten Pension zu verbringen.
Musste man doch in die Gesichter der edlen Leute schauen, die auf den jungen Burschen hinabblickten, in ihm einen Ganoven sahen, der keinen Eindruck eines adligen Erben oder Sohnes eines Ehrenmannes machte. Der junge Mann ließ sich für den Abend in einem breiten Ohrensessel aus dunklem Leder an einem großen Fenster nieder, um sich den Anblick der hohen Fichten, die vom Winde geneigt wurden, zu ergötzen. In seiner rechten Hand ruhte Glas Whisky aus irgendeinem erlesenen Jahrgang und er genoss das leise Spiel des Klavieres. Gute klassische Musik und der Anblick des deutschen Waldes wirkten für ihn wie eine richtige Kur und er wäre glatt eingeschlafen, wenn er keine Stimme neben sich vernommen hätte.
-Verzeiht, haben Sie Lust auf eine Runde? – Felix zuckte kurz überrascht und schaute hoch. Neben ihn ein gutaussehender Mann Anfang dreißig, im Smokinghemd in Schwarz und dazu passender Hose mit definierten Bügelfalten und keck-wirkenden Galonstreifen, die dem Erscheinungsbild des Mannes eine zusätzliche Frische verliehen hat. In seiner Hand ein zugeklapptes Reiseschachbrett.
Nachdem Felix genickt hat, setzte sich der Mann an einem Sofa gegenüber, klappte das Brett auf dem kleinen Tischchen aus und verteilte die Figuren. - Es ist mein letzter Abend hier, bevor ich abreise – sagte er. – Da suchte ich mir einen Kompagnon, um die Zeit totzuschlagen. Ein guter Spielkamerad schadet nie – lächelte er herzlich. Felix schaute zu ihn, die Augen des gegenüber sahen müde aus, unendlich müde, die Lippen waren recht wenig gefüllt mit Blut. Ach ja, dieses Reisefieber. – dachte sich Felix. – Da muss jeder durch. Als er ihn fragte, wie lange er sich im Hotel schon aufhalte, erwiderte er – Etwa einen Monat, wenn mich nicht alles täuscht. Heute ist mein letzter Abend hier. – wiederholte er zerstreut und schaute ins Fenster zu den Fichten. – Dann kehre ich endlich zu meiner Liebsten zurück.
Erstaunt über seinen Gegenüber, fragte ihn Felix über seinen Beruf und dieser antwortete, er habe als Bibliothekar gearbeitet. Auf die Frage, wie er sich über derart lange Zeit den Aufenthalt im Chateau leisten konnte, zuckte dieser nur mit den Schultern und sagte - Hier und da mal was verkauft und so kommt man schon auf die nötige Summe. Irgendwann merkt man, dass nicht alle Sachen, die man besitzt, von Relevanz sind und es tut nicht mehr weh, sich von diesen zu verabschieden. Mit dieser Reise wollte ich einen langen Traum von mir und Diana erfüllen, da in diesem Hotel ihre Eltern vor langer Zeit ihre Hochzeit gefeiert haben. Hier wollte ich ihr den Antrag machen. Sie kam dennoch in einen Unfall und konnte nicht mehr mitkommen.

Um die gebuchte Reise dennoch nicht zu verlieren, bin ich hiergeblieben. So ist es.
Felix bewegte seinen Bauern zu D3 und musste zusehen, wie der Gegenüber seinen Läufer mit der Dame vom Spielfeld beförderte. Insgesamt hatte er schon inzwischen weniger Figuren aufm Schlachtfeld als sein Opponent. Wie konnte er sich aber aufs Spiel konzentrieren, wenn der Andere derartige Geschichten erzählte?
- Nein, Diana konnte kein Schach spielen. – erwiderte er auf Felix‘ Frage. – Hat sie nie gelernt und weigerte sich kategorisch, mit mir zu spielen. – lachte er. – Dafür waren wir oft und sehr lange im Wald. Im Schatten der kräftigen Eichen geborgen, lagen wir im Gras und lasen uns gegenseitig Gedichte vor, wie Heine und Arp, diskutierten lange über glückliche, gemeinsame Zukunft und am Ende schliefen so über Stunden, umarmt und ganz nah aneinander. Wenn Du, mein junger Zeitgenosse, dich für Poesie interessierst, kann ich dir im Nachhinein die Gesammelten Werke von Arp schenken, da ich inzwischen alle Gedichte da auswendig kenne. Ah, wir bekommen Besuch.
Felix schaute vom Spielbrett hoch und sah eine Kellnerin.
– Da Sie uns bald verlassen sollten, nehmen Sie bitte ein Geschenk unseres Hauses an. Sie sind bei uns stets ein willkommener Gast! – in ihren Händen trug die junge Frau eine pralle Flasche Dom Perignon. Entzückt stand der Mann auf, nahm das Champagne dankend entgegen und bat um zwei Gläser. So schnell kam Felix in den besagten Genuss des Lebens, saß in einem fünf Sterne Hotel mit einem dreihundert Mark teurem Champagne in der Hand und genoss gute Gesellschaft. Sein Gegenüber schaute nachdenklich aus dem Fenster, in seinen Gedanken vertieft. Träumt sicherlich von seiner Geliebten. – kam Felix zum Entschluss. Er empfand ehrliche Freude über dem Gegenüber, der sein ersehntes Glück finden konnte. So führten sie das Gespräch fort, der Mann fragte Felix über seinen Beruf und bemitleidete ihn um seine vergangene Bleivergiftung – einer häufigen Krankheit der Schriftsetzer und spielten gelegentlich weiter die Partie Schach, die Felix am Ende doch gewinnen konnte, da sein Gegenspieler seltsam abwesend schien, als ob er mit seinem Kopf ganz wo anders war. Auf einmal wachte sein Gegenüber auf und zuckte bloß mit den Schultern.
– Sie haben gut gespielt, mein Freund, ich habe das gemeinsame Spiel genossen. Felix drückte die ihm angebotene Hand, die eiskalt war. Der Mann stand auf und sammelte die Figuren ein, schloss das Brett und übergab das Spiel dem Burschen. – Hier, das gute Stück schenke ich Ihnen, als Andenken an mich. Wer weiß, vielleicht treffen wir uns wieder eines Tages und trinken wieder Champagne und spielen eine Partie. Ich muss los, die Reise steht an. Auf Wiedersehen, mein Freund.


Der Mann nahm die noch halbvolle Flasche Dom Perignon und ging in sein Zimmer und schloss die Tür ab. Im einsamen Zimmer setzte er sich erschöpft in angenehm weichen Sessel. Seine Sachen waren nicht gepackt, wieso denn auch? Das Licht einer einzelnen Kerze leuchtete auf ein eingerahmtes Bild einer schönen, jungen Frau mit leuchtend grünen Augen und dickem, kastanienbraunem Haar. Sie ist vor zwei Monaten gestorben. Er nahm das Bild und schaute sich seine Liebste an. Keine Träne vergoss er, da er über die Monate keine mehr übrighatte, dann nahm er aus der Tasche eine kleine Tüte mit Arsen, vermischte es mit dem Champagne und trank es aus. Innerhalb weniger Minuten war er tot.
 



 
Oben Unten