Eine Nacht im Kloster

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Als Fremder nachts irgendwo ankommen, das ist nicht jedermanns Sache. Man fragt sich daher beizeiten durch, von Gasthof zu Gasthof, ob sie etwas für die Nacht frei haben. Bei peripher gelegenen Pensionen ruft man bloß an. Es kann vorkommen, dass in kleinen Städten schon mittags alle Zimmer belegt sind – vielleicht ist es am Montag vor Himmelfahrt. Millionen müssen dann unterwegs sein. Mag sein, dass man hungrig ist und bald zu Mittag essen möchte, aber die Sorge um die Nacht treibt einen weiter und weiter …

Reisen an sich ist, dachte er, alles in allem nicht sehr vergnüglich. Wenn einen jedoch zu Hause, in der eigenen Stadt, die stets gleichen und schon tausendmal empfangenen Signale nur noch schmerzen, wenn das Gefühl zunehmender Erstarrung die Brust beengt und den Geist veröden lässt – und das ist oft schon nach einem halben Jahr in der Stadt der Fall -, so muss man an Ortsveränderung denken. Es ist weniger Lust auf Neues als vielmehr Unvermögen, das Alte noch weiter zu ertragen. Bei diesem Zustand sagt man von einem Menschen gewöhnlich: Er braucht Erholung. Also heißt es, sich mit möglichst geringem Aufwand neuen, weniger künstlichen Eindrücken auszusetzen. Man braucht dann bloß aufs Land zu fahren. Die Sinne werden dort unmittelbarer angesprochen als in der Großstadt, die fast nur noch eine Welt aus Piktogrammen ist. In der Stadt haben selbst bunte Tücher, statt einfach nur zu schmücken, noch eine tiefer gehende Bedeutung.

Ihm fiel jetzt zu seinem Glück das Kloster ein. Es lag abseits der Hauptstraßen in einem verborgenen Winkel des Landes, zu Fuß zwei Stunden von der kleinen Stadt. Am Telefon eine geistlich besorgte Altstimme – nicht die Zentrale, sondern die Pforte -: Sie werde ihn mit dem Gasthof verbinden. Dann eine kräftigere jüngere Stimme (Mezzosopran), welche die Frage nach der Herberge ohne Umstände bejahte. Er möge nur gleich kommen, nicht später als sechs Uhr, dann würden sie nämlich fortgehen.

Er beschloss, sich vor dem Marsch noch zu stärken. Zum Mittagessen kehrte er in einem der Gasthöfe ein, die ihn für die Nacht abgewiesen hatten. Für den Altar, von Riemenschneider, war dann allerdings heute keine Zeit mehr.

Die Sorge, nach Einbruch der Dunkelheit am fremden Ort Unterkunft suchen zu müssen, war er für diesmal los. Zwischen Suppe und Braten konnte er es sich eingestehen: Diese immer wiederkehrende Furcht war zumindest übertrieben, ja eine Art Zwangsvorstellung. Irgendeine Unterkunft fand sich am Ende immer, und seine Ansprüche waren durchaus bescheiden. Doch darum ging es im Grunde gar nicht, vielmehr war es so, dass ihn die Nacht der Möglichkeit beraubte, mit der neuen Umgebung bald schon vertraut zu werden. Er musste an Prousts großen Roman denken: Ging es ihm nicht ähnlich wie dem Erzähler mit seinem Horror vor fremden Hotelzimmern und ihrem absurd-feindlichen Mobiliar? Prousts Balbec war heute überall. Aber es waren in seinem Fall nicht die Zimmer, die Orte selbst waren möbliert und nur für den Tag möbliert. Was am Tag harmlosen Zwecken dient, erscheint bei nächtlicher Beleuchtung verzerrt und drohend, rätselhaft oder absurd … Ein menschenleeres Lampengeschäft, in dem alle zum Verkauf stehenden Leuchten intensiv, im Übrigen jedoch sinnlos vor sich hinstrahlen, ist ebenso schreckenerregend wie der lange unbemerkt bleibende, unbeleuchtete Riesenturm einer gotischen Kirche, der einen mit seinem schwarzen Schlagschatten erst im letzten Augenblick anfällt und überfällt. Letzte Passanten sind entweder eilige Flüchtlinge oder Halunken, denen nicht über den Weg zu trauen ist. Hunde und Katzen haben für diese Atmosphäre voller Tücke die richtige Witterung: Im Herumstöbern durch einen seltenen Einzelgänger aufgeschreckt, werden sie sogleich aggressiv oder fliehen … Er hätte sich jetzt noch viel mehr Details ausmalen können. All das war natürlich lächerlich und die Diagnose klar: Am Vertrauen fehlte es. Immer wieder musste es mühsam erworben werden, und das war eben nur bei Tag möglich.

Nicht dass er die Nacht an sich fürchtete. War die Umgebung vertraut, war sie willkommen. Sie lullte ein, deckte Unschönes zu und erlöste einen von der Monotonie des allzu Vertrauten.

Er brach dann unmittelbar vom Gasthaus auf und verließ die kleine Stadt und das unscheinbare Tal, in dem sie lag. Oben angekommen, folgte er einem Feldweg, der sich an Äckern und Hecken vorbei und durch Wäldchen zog, immer ziemlich eben dahin. Es ging über eine Art wellige Hochebene, an drei Horizonten verschwammen höhere Berge im Dunst. Ein Aussichtsturm, aus grauen Feldsteinen gemauert und nicht sehr hoch, stand etwas abseits in den Feldern. Er hätte die Landschaft gern von oben betrachtet und sich einen Überblick verschafft. Aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen: Sich die Unterkunft für die Nacht zu sichern, war jetzt wichtiger. Und war es sonst im Leben nicht oft ähnlich: Der Tag forderte dies und das – und dabei wäre man gern stehen geblieben und hätte den Lauf der Dinge einmal in aller Ruhe verfolgt …

Ob die Nonnen wohl sehr empfindlich sein würden? Er ermahnte sich, rechtzeitig daran zu denken, den obersten Knopf seines Hemdes zu schließen. Und hemdsärmelig musste er dann auch nicht mehr sein. Noch nie hatte er ein Nonnenkloster von innen gesehen, er war indessen bereit, sich für eine Nacht einem Regiment von milder und sinnenferner Strenge zu unterwerfen.

Er unterhielt sich damit, ein Kaffeehausgespräch zu rekapitulieren, das er tags zuvor im Neustädter Lamm mitangehört hatte. In Neustadt hatten sie es also letzten Winter riskiert, so eine komische Oper namens Palästina aufzuführen, aber nur die Musik, leider ohne Kostüme und ohne Tanz, sagte die eine Dame zur anderen, ihrem Besuch von auswärts. Ergreifend sei es ja gewesen, aber vielleicht doch etwas zu modern. Eigentlich höre sie, wenn schon Gesang, dann doch lieber die Chansons von Hildegard Knef. Er hatte die Dame gestern nicht richtig verstanden, erst jetzt begriff er, dass man sich an eine konzertante Aufführung von Pfitzners Palestrina gewagt hatte. Das war allerdings ein starkes Stück! Er lachte laut, allein auf freiem Feld, damit Bergson klar widerlegend, den er auf dieser Reise abends las und der geschrieben hatte: Wir würden die Komik nicht genießen, wenn wir uns allein fühlten.

Er hatte jetzt etwa die halbe Strecke zum Kloster zurückgelegt. Der Weg führte gerade am einzigen Dorf unterwegs vorbei. Ein Hofhund bellte, er war hoffentlich angekettet.

Hinter dem Dorf begannen Obstgärten. Die Kirschen waren schon abgeblüht, Äpfel und Birnen standen zum kleineren Teil noch im Flor, aber in einigen Tagen würde es auch damit vorbei sein. Eine Wiese war gelb überschäumt vom Löwenzahn, der wie toll blühte. Alles gedieh, auch die im letzten Herbst gepflanzten Bäumchen belaubten sich und sprossen empor. Die frischen Farben, die zarten Formen, all das tat den Augen nach den winterlichen Entbehrungen gut. Wegen solcher Eindrücke fährt man aufs Land. Er versenkte sich in den Anblick der rein weißen Birnenblüten, in die cremefarbene Apfelblust und ihr irritierend heftiges und unregelmäßiges Geäder. Dann verglich er die eben ausgerollten Blättchen untereinander. Die jungen Birnenblätter glänzten wie in aller Unschuld lackartig, wogegen das neue Grün der Apfelbäume von Anfang an einen silbrigen Grauschimmer aufwies, etwas pelzig Aufgerautes, das an Erfahrung und Abhärtung denken ließ. Zwei so nahe verwandte Baumarten – und erschienen in ihren einzelnen Formen reich an Kontrasten.

Sein Großvater hatte daheim die ersten Obstgärten angelegt; sie waren längst verwildert. Sein Vater hatte weitere Obstgärten angelegt; auch sie wurden nicht mehr gepflegt. Er selbst pflanzte keine Apfelbäumchen. Er entstammte einer verrotteten Familie! Das war aus den Buddenbrooks. Zitieren war seine Passion. Manchmal schien es ihm, er lebe bloß, um Situationen wiederzufinden, die er aus der Literatur kannte.

Wenn er unbedingt positiv denken wollte, durfte er auf den eigenen Entwicklungsstand stolz sein. Im Grunde hatte er sich selbst erzogen. Zwar war auch in ihm das Bedürfnis nach Orientierung vorhanden gewesen, zuweilen hatte es sich sogar recht heftig geäußert. Die Suche nach Figuren, die Identifikation ermöglichen sollten, verlief indessen stets enttäuschend. Diese Erfahrung verfolgte ihn seit über dreißig Jahren, als läge dem ein Naturgesetz zugrunde.

Mehr als eine Ahnung, ein sicheres Gefühl, also Instinkt, trieb ihn in jungen Jahren hinaus in die Welt. Aus Instinkt suchte er Distanz zu Familie, Herkunft, Heimat. In seinem heimatlichen Nest wäre er zwangsläufig eine Figur à la E.T.A. Hoffmann geworden: ein deformierter Kleinstadtcharakter. Und in der Großstadt? War er, trotz allem und auf andere Weise, vielleicht auch eine Figur wie bei E.T.A. Hoffmann geworden. Es sollte ein Experiment werden. Alles wollte er sich neu schaffen, wie er es für richtig hielt: die innere wie die äußere Welt. Es war ihm gelungen, auch ein Grund, stolz zu sein. Aber seit er auf die vierzig zuging, sah er immer deutlicher: Alles lief zwar in einem anderen Rahmen, doch im Grunde nach denselben Gesetzen wie in der Jugend ab. Nur eines war neu, eine beginnende Müdigkeit. Er begann sich aus dem immer gleichen Kreislauf von Hoffnung, Erfahrung und Enttäuschung hinauszusehnen. Die großen Inhalte – er hatte sie vergeblich außerhalb der eigenen Person gesucht.

Dazu kam, dass die Parallelen sich aufdrängten. Der Blick wurde schärfer, auch sich selbst gegenüber, und er sah: Auch er war nur einer aus seiner Sippe. Dieser einzig noch möglichen Identifikation war er so lange wie möglich ausgewichen, ein langer, ermüdender Umweg.

Die große Stadt, in der er unbedingt hatte leben wollen, war, alles in allem, auch nur eine Enttäuschung. Um Erfolg zu haben oder sich Erfolg und Zufriedenheit vorzutäuschen, war ein zunehmend größerer Aufwand nötig, emotional wie physisch. Der Aufwand wurde größer, die Ergebnisse wurden allmählich dürftiger. Was nutzte es einem dann noch, in einer großen Stadt zu leben? Seit einigen Jahren betrachtete er die Heimat mit anderen Augen. Jedoch verstand er unter Heimat nicht mehr dasselbe wie zwanzig Jahre früher. Er war jetzt planlos und ziellos in weiten Landschaften unterwegs, um sich aus einzelnen Eindrücken eine ideale Heimat zurechtzumodeln. Denn darüber war er sich klar: Heimat hatte es in der Wirklichkeit nie gegeben, und es würde sie außerhalb des eigenen Kopfes auch nicht geben. Heimat war nur ein Wort; es bezeichnete ein Mosaik unterschiedlicher positiver Bilder, die man sich verschafft hatte und bei sich aufbewahrte.

Seine Entwicklung in den letzten Jahren hatte ihn allmählich den Freunden in der großen Stadt entfremdet. Da war zum Beispiel Stefan. Seine Fluchten und die Fluchten weiterer Freunde führten in andere Richtungen. Sie flogen ein- oder zweimal im Jahr weit fort, jedes Jahr weiter. Sie glaubten, das entgangene Glück an konkreten Orten noch einholen zu können. Je weiter ein Ort entfernt und je größer er war, umso wahrscheinlicher musste es doch sein, dort eine tiefere Befriedigung finden zu können. Stefan kam jedes Jahr unzufriedener zurück, nicht weil er unterwegs keine Befriedigung gefunden hatte, sondern weil er dort, wo er sie nicht gefunden hatte, nicht länger hatte bleiben können: Die Befriedigung hätte sich sonst noch eingestellt, es war nur eine Zeit- und Geldfrage. Wie Prousts Erzähler von Balbec hätte man von Stefan und seinen Reisezielen sagen können: Der Aufenthalt dort hatte ihm nicht genutzt, und eben das erzeugte in ihm die starke Sehnsucht, bald wieder dorthin zurückzukehren.

Stefans Freunde dachten und litten wie er. Sie schickten ihm ironische Ansichtskarten aus New York und unironische aus Seattle oder Sydney. Stefan arrangierte sie an der Wand seines Wohnzimmers, und zwischen all diesen Karten aus Sydney, Seattle und so weiter störten die Karten dieses einen Sonderlings, der er selbst war, den beabsichtigten Gesamteindruck empfindlich. Dass Stefan dort Motive wie die Kartause von Münsterbach, ein Stück Spessartwald oder einen Gletscher in Graubünden duldete, es bewies, dass er wahrer Freundschaft fähig war. Der Schwerverständliche traf Stefans Freunde im Winter, und sie litten unter der eigenen großen Stadt, die ihnen nicht groß genug und, wie sie sagten, in jeder Hinsicht zu provinziell war. Sie fragten Stefans sonderbaren Freund, wo er im Urlaub gewesen sei, und wenn er zum Beispiel sagte: In Franken, fragten sie zurück: In Frankreich?

Er drang jetzt in einen Bereich des Waldes vor, in dem das Licht sich veränderte. Der Baumbestand war hier weniger dicht, die natürliche Beleuchtung erschien infolgedessen diffus und sogar künstlich. Zahlreiche Stämme waren gefällt oder entwurzelt worden und kleine Lichtungen waren entstanden; sie wuchsen bereits wieder zu. Der Wald war in seinem Inneren zugleich in Auflösung und in Regeneration begriffen. Alle diese Erscheinungen verteilten sich unregelmäßig über eine größere Fläche. Der Weg änderte häufig die Richtung. Ohne die Wegzeichen hätte er die Orientierung verloren.

Plötzlich assoziierte er die Szenerie mit einem Bild von Weisgerber. Es war ein Sebastian mit Reiter, und zwar die Ludwigshafener Version. Es fehlte hier allerdings die Gestalt des jungen Märtyrers, an einen Baum gebunden und sonderbar allein gelassen, es fehlte auch der Reiter im Hintergrund des Bildes, seine Haltung feierlich und drohend und sein Gesicht unkenntlich. Jedoch war die Stimmung des Ortes auch ohne die Personen die gleiche wie auf jenem Bild; ein Schauplatz, den die Akteure jederzeit betreten konnten.

Weisgerber, süddeutscher Maler der Jahrhundertwende und im Ersten Weltkrieg in Frankreich gefallen, er hatte ihn zufällig entdeckt oder wiederentdeckt, als er sich vor Jahren wegen einer Erbschaft in der Pfalz befand. Er nutzte die freie Zeit, um die Pfalzgalerie in Kaiserslautern kennen zu lernen. Er hatte sich durch alle Säle und Epochen vorgearbeitet, ein Saal und dann noch einer waren übrig, da lenkte aus dem allerletzten das sehr keusche und zugleich sehr erotische Bildnis eines jungen Mannes alle Aufmerksamkeit, deren er noch fähig war, auf sich. Es war Albert Weisgerber. Seither hatte er eine Reihe ähnlicher Selbstbildnisse dieses Malers gesehen, und jedes wirkte in derselben Weise scheu und aufreizend. Es verströmten diese Bilder unausgesprochene Autoerotik. Sie waren Ausdruck einer liebevollen Versenkung in sich selbst, sie forderten jedoch keineswegs dazu auf, sich diesem Körper zu nähern.

Er besuchte dann Bildergalerien in Saarbrücken, Stuttgart und Ludwigshafen und stand oder saß lange vor Werken wie dem Absalom oder den Sebastian-Bildern. Dies waren keine Selbstbildnisse, doch sie erregten bei ihm nicht weniger Staunen und Sympathie.

Erst jetzt, auf diesem Gang durch den Wald, erfuhr er, was das Ludwigshafener Bild für ihn bedeuten konnte. Waren die unmittelbar vorangegangenen resignativen Gedanken die Auslöser? Er versetzte sich nun an Sebastians Stelle. Das war eine Identifikation, die endlich einmal nicht mit Enttäuschung verbunden sein würde. Schmerzen und Leid waren von vornherein mit dieser Rolle verbunden, gerade in der Qual bestand in diesem Fall die Erfüllung. War Masochismus die Lösung seines Problems? Weisgerber hatte ein schönes Bild gemalt. Der Genuss in der Vergewaltigung, von dem Nietzsche an einer Stelle spricht, ist, wie dieses Bild nahelegt, auch dem Opfer möglich. Ein kühner Gedanke, aber ihm, einem zweiten Sebastian, sind in seiner jetzigen Doppelnatur solche Schlüsse erlaubt. Ein gefährlicher Gedanke? Nein, ihm wird er nicht mehr gefährlich werden. Dieser abschüssige Weg ist ja von ihm schon einmal eingeschlagen worden und er hat in der Realität nur zu Verdruss und Langeweile geführt. Dennoch, trotz dieser ernüchternden Erfahrungen, blieb das Bild in seiner Erinnerung schön und verlockend. Er sollte wirklich den seit längerem geplanten Aufsatz über die suggestive Kraft der Bilder von Weisgerber schreiben.

Plötzlich trat er aus dem Wald heraus. Da unten, umgeben von Feldern und Gärten, lag das Kloster.


Die Schwestern betrieben hier die Landwirtschaft und auch den Gartenbau. Er durchquerte den Gürtel der Äcker, der rundum vom Klosterwald umschlossen war und der seinerseits die ausgedehnten Gärten umgab, die bis an die Klostermauern reichten. Vieh sah er keines. Der hohe Futtersilo, der hinter dem Kloster aufragte, ließ indessen vermuten, dass auch Tiere gehalten wurden. Die Gärten waren sehr belebt: Hilfskräfte in blauen Arbeitskitteln, mit allerlei einfachen Arbeiten befasst, Gärtner (Gesellen und Meister), die zugleich anordneten und zupackten, schließlich Nonnen in ihrer Tracht, die umhergingen und sich vergewisserten, wie jeder an seinem Platz zurechtkam. Er blieb stehen und ließ, indem er die Augen zu Schlitzen verengte, das Bild vor sich stillstehen. Es hatte dann große Ähnlichkeit mit Abbildungen in alten Büchern, etwa über den Gartenbau im sechzehnten Jahrhundert.

Eine Tafel, in der Nähe des Tores angebracht, belehrte einen, dass die Schwestern hier eine Anstalt unterhielten. Sie hatten allerlei Beladene in ihrer Obhut. Wer am Leib oder an der Seele schwer geschädigt war und in der Welt nicht zurechtkam, konnte hier eine Zuflucht finden.

Er durchschritt das Torhaus und befand sich im inneren Klosterbezirk, einem schönen, weiten Park, wo unter alten Bäumen Gebäude aus sechs oder sieben Jahrhunderten standen. Das Gasthaus, spätes neunzehntes Jahrhundert, war ein behäbiger Riegel und lag dem Hauptbau der alten Abtei gegenüber. Er ging hinein und machte drinnen sogleich die Bekanntschaft einer blonden jungen Frau: Mit ihr hatte er vorhin telefoniert. Sie war keine Nonne, sie sah ihm offen in die Augen und führte ihn hinauf in den Oberstock, wobei sie ihm Verhaltensmaßregeln gab. Er hörte nur halb hin. Sie war eine auffallende Erscheinung, sie hatte bei aller anmutigen Frische etwas sonderbar Altfränkisches, wie auf Bildern des jüngeren Cranach. Nicht nur war der Schnitt des Gesichtes altertümlich, auch Mimik und Gestik wirkten recht unzeitgemäß. Von Cranach gab es eine Darstellung Christi mit der Ehebrecherin, an diese fühlte er sich jetzt erinnert. Die junge Buhlin sah darauf recht appetitlich aus. Sie war errötet, und das stand ihr sehr gut. Ihre Haltung verriet weniger Zerknirschung und Bußfertigkeit als vielmehr tiefen Verdruss darüber, ertappt worden zu sein. Sie würde die Ehe erneut brechen, könnte sie es in Zukunft gefahrlos tun. Übrigens waren auf jenem Bild die Hitzigen, die sich geifernd ereiferten und bei Jesu beschwerten, mit viel feinerer Psychologie gemalt als die Sanften, die zwar gewiss nicht alles verstanden, es aber dennoch entschuldigten. Einer der Ankläger, erinnerte er sich, während sie über den Flur gingen, hatte gräuliche Geschwüre am Hals, ein anderer, ein hübscher Kerl mit sinnlichem Tierblick, hatte, indem er Partei nahm gegen die Ehebrecherin, offenbar selbst größte Lust, mit ihr zu sündigen. Nicht viel fehlte und er hätte sich die Lippen geleckt …

Sie zeigte ihm, wo das Bad lag, dann den Aufenthaltsraum. Sie traten in sein Zimmer. Es war geräumig und mit schlichten älteren Möbeln ausgestattet. Er sei der einzige Gast im Haus, sie würden um sechs Uhr schließen, da morgen Ruhetag sei. Wenn er noch etwas essen wolle, könne er es zwischen fünf und sechs bekommen. Zum Frühstück werde morgen jemand da sein, um ihn zu versorgen. Er solle gleich noch einmal zu ihr in die Gaststube kommen, sie werde ihm dann den Schlüssel für das Haustor geben; den dürfe er nicht verlieren, es sei nämlich niemand von ihnen über Nacht in der Nähe.

Er ging im Zimmer auf und ab. Dazu verlockte einen der große Raum und die beiden Fenster zum Hinausschauen und –lehnen. Sie gingen auf den Hauptplatz, der mit hohen alten Linden bestanden war. Durch die sich begrünenden Zweige erschien, unscharf wie im Aufriss, die Abtei der Renaissance mit ihrem Eckturm aus gleicher Zeit. Er wollte jetzt alles sehen. Im Zimmer war es wunderbar still, wunderbar würde der Abend werden.

Er ging hinunter und stand orientierungslos in einem breiten Gang mit offenen Türen rechts und links. Da war die Küche, da die Vorratsräume, da eine Art Backstube … Hinter ihm machte sich ein Mensch bemerkbar. Er wandte sich um und stutzte – was für eine Erscheinung, auch er! Ein Mann um die dreißig in kurzen Shorts und mit kunstvoll verwirrten blonden Locken … Hier war offenbar ein städtischer Coiffeur am Werk gewesen und hatte, vermutlich für viel Geld, den Eindruck urwüchsiger und ungeordneter Haarpracht erzeugt. Diese Absicht, mit viel Raffinement etwas möglichst primitiv Wirkendes herstellen zu wollen, verstimmte. Sieht so der Pächter eines Klosterwirtshauses aus? Sicher benutzt er auch ein Parfüm, das zugleich brutal und dezent riecht. Überhaupt ist er viel zu hübsch … Der Gast wandte sich ab.

Der andere musste an derartige Äußerungen männlichen Unmuts angesichts männlicher Schönheit gewöhnt sein. Er fragte beflissen, wenn auch mit dem herben Akzent der Gegend: „Suchen Sie den Gastraum?“ – Der Fremde bejahte wortlos und bekam den Weg gewiesen. Fürs erste war er dem Zustand der Desorientiertheit entronnen, er stand mitten in der Gaststube.

Er bekam den Schlüssel und ging ins Freie. Draußen strömten die Insassen, die Pfleglinge zu ihren Wohnungen. Es war Feierabend. Einige grüßten ihn von weitem, wie es Kinder auf dem Land tun, denen Artigsein eingeschärft worden ist, zumal Fremden gegenüber. Andere schienen ihn nicht einmal zu bemerken. Diese als erster zu grüßen, vermied er lieber. Im Übrigen verlief jede Begegnung anders. Es gab kein vorhersehbares Verhalten, keine Übereinstimmung, keine Gesetzmäßigkeit, keine Norm. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, liefen alle vereinzelt durchs Tor und durch den Park. Mit dem Feierabend hatte sich das schöne Bild der Ordnung aufgelöst. Eine passive und idiotische Anarchie lag jetzt über der Anstalt.

Er fand heraus, dass die alte Klosterkirche längst abgerissen war. An ihrer Stelle stand ein einfacher, reizloser Betsaal. Hinter dem Gasthaus lagen weitere Gärten, mitten darin ein schmucker Pavillon aus dem Rokoko. Er wird ihn nachher vom Badezimmer aus sehen können.

Es war fünf Uhr. Er ging in die Gaststube zurück und nahm an einem der Tische Platz. Während er auf sein Abendessen wartete und auch während er es verzehrte, unterhielten sich am Nachbartisch ein Priester und eine Greisin auf philosophische Weise. Pascals Name fiel, auch der von Albert Schweitzer. Sie zitierten mit Fleiß, doch er merkte: Hier ging es nur um sehr alte Verwundungen, deren Narben noch immer schmerzten. Die Greisin und der Priester benutzten den philosophischen Balsam gewohnheitsmäßig. Kränkungen wurden mit frommen Zitaten behandelt wie Hautdefekte mit Cortison bestrichen. Der jahrelange Gebrauch von Pascal und Schweitzer hatte zu ähnlichen Ergebnissen geführt wie die Gewöhnung an das Nebennierenrindenhormon. Allmählich hatte sich die Heilwirkung erschöpft, die Behandlung verursachte jetzt selbst einen Reiz, an den man bereits gewöhnt war und den man mit Gesundheit verwechselte und mit immer höheren Dosen unterhielt.

Gegen sechs Uhr leerte sich der Gastraum. Er zahlte und ging in den Oberstock hinauf. Die Fluchten der beiden breiten Gänge: leer, das große Zimmer: leer. Es war eine einladende Leere. Er spürte, wie nacheinander von ihm abfiel, was ihn sonst ausfüllte: Interessen, Gefühle, Bewusstseinsinhalte. Der große, einfache Raum schien alles aufzusaugen, jedoch mit nichts sich anzufüllen. Man versank im Bewusstsein, dass ein jedes sich wohltuend auflöse. Besonders angenehm war ihm die Vorstellung, dass niemand wusste, wo er sich jetzt befand. Er war unerreichbar geworden – und wie wenig Mühe hatte ihn das gekostet. Gesetzt den Fall, irgendeiner bedürfe seiner jetzt gerade dringend - Stefan, die Mutter oder jemand im Verlag –, sie hätten ihn nicht gefunden. Übrigens war es unwahrscheinlich, dass man ihn benötigte. Indessen verstärkte diese unbegründete Annahme jenes Gefühl von Verantwortungslosigkeit, das mit Urlaub und Erholung so eng verbunden ist. Er war entspannt und gut gelaunt, er war es so sehr, dass er sich eingestehen konnte, die ermüdenden Bewusstseinsinhalte seiner normalen städtischen Existenz mit den genau entgegengesetzten vertauscht zu haben. Von einem mentalen Vakuum konnte also keine Rede sein.

Er stand am Fenster, hörte, wie unten die Türen von außen geschlossen wurden, und sah die Wirtsleute wegfahren. Er war nun allein in dem großen alten Kasten; rundherum nur alte Bäume, andere leere Gebäude und etwas weiter ab die Wohnungen von Nonnen, Krüppeln und Geistesschwachen. Einen so tiefen Frieden hatte er seit Jahren nicht mehr um sich empfunden.

Er kam vom Baderaum her und kehrte ins Zimmer zurück. Draußen sandte eine dünne Glocke sieben feine Schläge ins maigrüne Laub. Unmittelbar darauf setzte sie erneut an, diesmal zu heftigem Gebimmel. Sogleich strömten Menschen von den Wohngebäuden herbei und zum Betsaal hin. Er sah ihnen vom Fenster zu. Eine größere Gruppe von Pfleglingen, von einer ernsten und energischen Nonne geführt, schob und drängte sich eben unten vorbei. Es sah aus, als ginge es in einen Kampf. Er musste an Nietzsche denken: der Priester als Krankenwärter. Jedoch wirkte dieser Zug hier auf den Betrachter vor allem ästhetisch. Es war wie auf dem Theater, nach vielen sorgfältigen Proben: sehr bewegt, dramatisch zugespitzt und schön.

Später kamen einzelne hinterher. Manchmal schob einer, vielleicht ein Spastiker und selbst der Hilfe bedürftig, einen anderen im Rollstuhl zur Kirche. Dann feierten sie alle zusammen eine Maiandacht. Sie zogen singend und betend durch den Park, und in seinem stillen, leeren Zimmer vernahm er abwechselnd die Stimmen des Priesters und der Gemeinde von wechselnden Standorten her, rund um das große, leere Gasthaus.

Er nahm das Buch aus dem Rucksack und begann, im Sessel kauernd, zu lesen. Bergsons Theorie vom Lachen war für ihn nicht so vergnüglich, wie er beim Kauf des Buches vermutet hatte. Als Agnostiker hatte er bereits Mühe, sich auf den festen metaphysischen Grund dieser Lehre zu begeben. Eigentlich hatte er sich unter Lebensphilosophie etwas ganz anderes vorgestellt, eine wesentlich geschmeidigere Art zu denken. Das System des Philosophen, das Lachen allein als gesellschaftlichen Reinigungsprozess zu erklären – genau genommen eine beleidigende Annahme -, war nicht so offen, wie Bergson selbst beteuerte. Im Gegenteil, es erwies sich bei fortschreitender Lektüre als nur zu sehr in sich geschlossen, und wenn es galt, jenes System zu verteidigen, verstand der Philosoph keinen Spaß. Sein Vorsatz, lebensnah zu denken, undogmatisch zu prüfen, Phänomene aus praktischer und intimer Kenntnis darzustellen – all das stand in einem gewissen komischen Kontrast zu übertriebener Systematisierung und der Abwehr jeder Beobachtung, die nicht ins sozial fixierte Schema gepasst hätte. Schade. War dies der große Philosoph, dem Prousts Werk so viel verdankte und dessen Geist dem Stoff des großen Romans die irisierende Färbung gegeben hatte? Der Einfluss des Philosophen auf den jüngeren Schriftsteller bewies keineswegs die Qualität seiner Philosophie. Literatur, gerade auch große Literatur, kann offenbar auf wenig überzeugendem philosophischem Untergrund wachsen – vielleicht auf diesem sogar am besten? Die Philosophie war dann nur wie ein Ferment.

Er legte das Buch auf den Tisch, stand auf und ging hinüber in den Aufenthaltsraum. Dort gab es einen Kühlschrank zur Selbstbedienung, ferner einen Bücherschrank mit unterhaltsamen Werken der fünfziger Jahre, schließlich einen Fernsehapparat. Warum nicht einmal fernsehen? Zu Hause besaß er gar kein Gerät. Dieser Umstand ermöglichte es ihm, sich jetzt mit einfachem Knopfdruck neue Perspektiven zu eröffnen. Urlaub machen, mit alten Gewohnheiten brechen, sich neue Eindrücke verschaffen – war das nicht eins und für ihn jetzt sehr bequem zu erreichen?

Indessen hatte er Mühe mit der Fernbedienung. Nur ein Programm erschien flimmerfrei und sogar in Farbe auf dem Schirm. Sonderbare Gestalten sah er da um sich versammelt, er saß mitten unter ihnen, und sie redeten über ihn hinweg. Vorn die Moderatoren, darunter eine Frau, sie sprachen harmlos und kundig wie Verkäufer im Reisebüro, wenn sie entlegene Ziele anpreisen, als wären es die naheliegenden. Man hört es und glaubt es halb und halb doch nicht. Das Verkaufsgespräch war als Diskussion getarnt. Die Moderatoren präsentierten dem Publikum kostümierte Männer, Männer, die behaupteten, für ihr Leben gern Motorrad zu fahren. Da fühlten sie sich so frei, und wer fühlt sich nicht gern frei? Die Männer hatten ihre spezielle Feiertagskleidung angelegt. Sie nannten sie zwar bloß Kluft, aber das war eine Untertreibung. Sie legten vielmehr größten Wert auf ihre Erscheinung, ja, ihr Äußeres schien ihnen das Wichtigste, so breiten Raum nahm es im Verkaufsgespräch ein. Sehr viel Leder, viel Metall und wenn Baumwollstoff, dann dieser wieder am Rand mit Leder abgesetzt. More leather here than on the Ponderosa, hatte mal einer aus Hamburg in die Staaten berichtet.

Bei all den vielen Worten blieb unklar, worin sich diese Männer von anderen Männern, auch Motorrad fahrenden, unterschieden. Das Aggressive im Äußeren sei unverzichtbar, sagten sie, aber gewalttätig sei man natürlich nicht. Das Aggressive sei nur unverzichtbarer Bestandteil des Outfits. Warum sie sich so kleideten? Einer ihrer Wortführer (die sie Präsis nannten, er dachte an Präservative): Damit uns die anderen, die ebenso sind wie wir, erkennen.

Zwischen Präsis und Moderatoren saß ein geistlicher Herr, der Pater Viktor. Fünfundsiebzig Jahre zählt er bereits und sucht noch immer die Nähe solcher Männer, wie sie es sind, ja, er besucht Männer wie sie auch im Gefängnis, etwa dann, wenn einer von ihnen jemanden umgebracht habe, wie er beiläufig fallen ließ. Ein Moderator setzte erschreckt nach: Umgebracht?! – Aber die Frage ging unter, denn die Moderatorin hatte gerade entdeckt, dass der geistliche Herr unter dem schwarzen Rock des Seelsorgers Motorradstiefel trug und, kaum zu glauben, am Ende auch eine Lederhose? Da mimte er kurz den Verstimmten, solche indiskreten Blicke gehörten sich nicht.

Hinter den Präsis saß auf Stuhlreihen biertrinkenderweise das fahrende Fußvolk und schwieg. Fast alle waren infolge Bewegungsmangel und allzu reichlicher Ernährung ziemlich fett, und einigen stand es recht gut. In der zweiten Reihe räkelte sich in bequemer Position ein bildhübscher junger Mann mit ganz kurzem schwarzem Kinnbart, durch den sich der Ansatz eines weißen Doppelkinns abzeichnete. Unter dem weißen T-Shirt imponierte ein stattlicher Wanst. Halb selbstzufrieden, halb verunsichert griente er in die Kamera, die wiederholt über seinen Körper strich. Einer seiner Nachbarn stand auf, um vor Ende der Sendung einmal hinauszugehen. Da glitt der Blick des liegenden Bildhübschen voller Einverständnis über den knapp geschnürten Korpus des Fortgehenden. Als Zuschauer fühlte man sich von so viel Übereinstimmung infiziert. Er ging zum Kühlschrank und holte sich eine Weißbierflasche heraus, um sie in diesem Kreis zu leeren. In ihrer Trägheit lag viel Harmonie, eine harmonische Trägheit, sie erinnerte ihn an ein früheres Fernseherlebnis, einen Film über die Riesenschildkröten auf den Galapagosinseln. Diese hatten sich in großer Zahl am Strand liegend gesonnt, und der Kommentator hatte bemerkt, sie unterschieden sich gegenseitig nicht als Individuen. Dennoch oder vielleicht eben deshalb schienen sie miteinander sehr vertraut.

Wie die Mönche bezeichneten sie ihre Oberbekleidung als Kutte. Einer erzählte, die Kutte des Anwärters, den sie auf Englisch Prospect nannten, werde mit allem Möglichen getränkt, auch mit Urin, und sie werde nie gewaschen! Entsetzen bei den Moderatoren, deren einer einflicht, er benutze sein Oberhemd ja auch schon den zweiten Tag. Und die Moderatorin beruhigt das Publikum, sie habe vorhin einen der Präsis beschnüffelt, er benutze ein vorzügliches Parfüm.

Da war die Sendung schon zu Ende. Sie ließen ihn abrupt allein. Er schaltete aus und ging mit dem Rest Bier und einem Rest guter Laune in sein Zimmer zurück.

Er war so entspannt, dass es ihm schwer fiel einzuschlafen. Gewöhnlich erlebte er den herannahenden Schlaf als einen Akt der Befreiung: alles abwerfen, hinter sich lassen. Unwillkürlich fand er in einem anderen Erinnerungsfetzen den künstlichen Widerstand, der ihm, indem er ihn überwand und von sich stieß, zur Bewusstlosigkeit verhalf.

Es war in M., auf einer anderen Reise. Er wollte einmal nicht auf den Preis sehen und wurde schlechter als sonst bedient. Jenes Hotel war leider eines für Snobs. Er stieß überall auf eine falsche Bescheidenheit, die immerzu demonstrierte: Wir haben es ja nicht nötig. Aber eben diese Demonstration war ihnen nötiger als das liebe Brot. Immer taten sich Türen auf und es traten Gäste heraus, die aussahen wie russische Großfürsten und –fürstinnen im Exil, ausgesucht schäbig gekleidet. Das Restaurant wandte sich, ausweislich seiner Karte, an Feinschmecker. Waren solche auch unter den Gästen? Es konnte morgens vorkommen, dass die ausgetrockneten Brötchen vom Vortag zum Frühstück serviert wurden. Die Gäste halfen sich darüber wie über alles andere mit nur einer Bemerkung hinweg: Hier sei es zum Glück nicht so perfekt wie in den schrecklich stereotypen neuen Hotels. Die besondere Atmosphäre einer ganz anderen Welt herrschte, und dafür zahlte man schließlich, das heißt man zahlte nur für die Äußerungen eigener gefühlsmäßiger Bedürfnisse, nicht für einen realen Gegenwert.

An diesem oder jenem Abend erschien die Crème von H. und widmete sich eine halbe Stunde der Frage, ob die Studienrätin und die Gattin des Baudirektors für M. overdressed seien: So hatten es die Mütter dieser Endvierzigerinnen bei deren Aufbruch moniert. Bei ihnen hieß das noch aufgebrezelt. Waren sie es oder waren sie es nicht, überlebenswichtige Frage! – Natürlich gab es auch, betont unauffällig, ein homosexuelles Paar. Die beiden waren um die fünfzig, nahmen einen Tisch in der Ecke und setzten sich über Eck so, dass sie allem sonst den Rücken kehrten. Das hinderte den Jüngeren der beiden indessen nicht daran, den Einzelreisenden einer sehr intensiven visuellen Prüfung zu unterziehen, als der Unbekannte einmal hinausging.

Er gähnte unwillig und schob die Erinnerung von sich. Unmittelbar danach musste er eingeschlafen sein. Der Schlaf war tief, traumlos und dauerte bis zum Morgengrauen.

Eine Kinderstimme riss ihn gegen acht Uhr aus letztem Dösen und Dämmern: „Aller guten Dinge sind drei, aller guten Dinge sind drei!“ Er sprang aus dem Bett und zum Fenster. Da unten über den Platz hüpfte eine Frau von vierzig Jahren, von ihr kam jener Sprechgesang.

Er ging hinunter in die Gaststube, und im Nu war der mit den Locken um ihn und versorgte ihn mit großer Freundlichkeit; nichts Geschäftsmäßiges schien ihr anzuhaften. Der Wirt zündete eine Kerze vor ihm an, er bot ihm gleich an, noch mehr Kaffee bekommen zu können, obwohl die Kanne bereits vier Tassen enthielt. Er ging so weit, dem Gast die erste Tasse selbst einzuschenken.

Während der Gast frühstückte, telefonierte der Wirt. Er bestellte nüchtern und kurz angebunden Fleisch und Getränke für den kommenden Feiertag, Vatertag, wie er sagte. Am Telefon hatte sein Gesicht etwas Leidendes, leicht Verlebtes. Wie er in den Hörer hineinhorchte, entspannte sich die Gesichtsmuskulatur so sehr, dass Andeutungen von Aufschwemmungen deutlich sichtbar wurden. Nachher gab er einem Handwerker, der im Hause arbeitete, Geld für Zigaretten: „Das sollte dann für eine Schachtel reichen.“ Eine Insassin der Anstalt meldete sich und wollte am nächsten Tag in der Küche helfen. In jedem Fall traf der Wirt den rechten Ton im Umgang.

Als er zahlen wollte, fand er den Wirt in einem Nebenraum mit Kuchenbacken beschäftigt, mit einer Schürze und mehlbestäubt. Er walkte gerade den Teig auseinander. Grinsend legte er das Holz beiseite und lachte mit rundem, nun wieder recht gesund wirkendem Gesicht. Er wollte wissen, wie es dem Gast gefallen habe. Gut, sagte der Gast, es sei eine große Überraschung gewesen. Da zeigten sich Stolz und Befriedigung im runden Wirtsgesicht, ein Ausdruck, der beide hinderte, noch etwas hinzuzufügen.
 

TaugeniX

Mitglied
Ich könnte es zumindest versuchen, dem "Bildungsstand" Deiner Geschichte zu entsprechen. Aber sei`s drum, einfach geht es auch. Deine Erzählung weckt in mir Neid und Sehnsucht nach dieser Selbstverständlichkeit mit der sich der Protagonist und wohl der Autor in der Kunst schwelgen.

Es tut mir leid, denn es ist bestimmt nicht das Ziel dieser Geschichte, solche Gefühle zu evozieren, aber sogar eine Spur Klassenhass ist dabei. Ich kann nichts dafür.

Eigentlich habe ich sie alle ohne "google" gekannt vom Cranach bis Pfitzner, aber nur die Namen und irgendwo aufgeschnappte Ahnung von ungefähr das Zeitalter. Das ist bitter und kann eigentlich nicht mehr aufgeholt werden, - es ist wie mit der Muttersprache. Für den Autor ist Kunst eine Muttersprache.

Ein wunderschöner Text. Danke.
 
Danke,TaugeniX, fürs Lob und besonders dafür, dass du mir kein Namedropping vorgeworfen hast. Das kommt vielleicht noch von anderer Seite und dann müsste ich die Funktion der großen Namen so erklären: Sie bilden hier so etwas wie den geselligen Umgang für einen, der einsam in der Fremde und in Heimatlosigkeit unterwegs ist.

Arno Abendschön
 

TaugeniX

Mitglied
Ich glaube Deinem Protagonisten, dass diese Namen seine natürliche Umgebung, seine Welt und vor allem sein rechtmäßig angetretenes Erbe sind, - das Kulturerbe.

Im Grunde tut dieser Mensch das, womit im Mittelalter eben die Klöster beauftragt waren, - er bewahrt das Wissen und sichert die Weitergabe.
 



 
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