Eine Oma zweiter Klasse

4,50 Stern(e) 4 Bewertungen
Ein Sonntagnachmittag Anfang der sechziger Jahre. Wir sitzen am Kaffeetisch unter dem Kirschbaum, meine Eltern, meine Großeltern mütterlicherseits, Verwandte, die zu Besuch gekommen sind, und ich. Auf einmal fragt meine Patentante meine Mutter: "Und Oma Erna, was ist mit ihr, warum sitzt sie nicht hier bei uns?" - Darauf meine Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung: "Ach ... Ich hab ihr ein Stück Kuchen hingestellt."

Hinter einer Bodenwelle unseres Gartens ist die grün gestrichene Holzbaracke sichtbar, in der ich noch mit meinen Eltern wohne. Oma Erna bewohnt zwei der fünf Räume, sie wird hier allein zurückbleiben, wenn unser neues Haus fertig ist.

Oma Erna ragte fremd in die Wirtschaftswunderzeit, wie die Ruine einer Raubritterburg ins Eisenbahnzeitalter. Wir sprachen wenig mit ihr. Meine Mutter behandelte ihre Schwiegermutter scheinbar mit Ehrerbietung, doch verbargen sich dahinter nur Unverständnis und Vorsicht. Mein Vater legte ihr gegenüber Herablassung, vermischt mit leichter Verachtung, an den Tag. Für Oma Erna war ich, der Enkel, auch nur einer von den anderen, die jetzt den Gang der Dinge allein bestimmten.

Vieles an ihr wirkte wie aus einer anderen Zeit und aus einer anderen Gesellschaftsschicht, etwa ihre Tischmanieren oder ihre Umgangsformen überhaupt. Sie drehte sich Locken mit der Brennschere und wollte in den Geschäften mit "Gnädige Frau" angesprochen werden. Sie trug jahrzehntealte, schon ewig aus der Mode gekommene Röcke auf. Allmählich bekam sie einen Buckel. Auf der Straße riefen ihr die Schuljungen "Hexe" nach.

Geboren war sie 1891. Ihr Mädchenname verriet ihre hugenottische Herkunft. Tatsächlich blieb ihr bis zuletzt etwas von der Unbeugsamkeit jener Vorfahren. 1912 heiratete sie meinen Großvater, einen kgl.-bayrischen Berufssoldaten. Er war von ländlich-bürgerlicher Herkunft und, wie es damals hieß, gut situiert. Sie wirtschafteten beide schlecht, bald war das meiste verwirtschaftet. Der Versailler Vertrag bedeutete für ihn die Entlassung aus der Armee. Um ihn zu versorgen, stellte der neue Staat ihn vor die Alternative: ein Pöstchen auf dem Rathaus oder ein Gütchen auf dem Land. Er wählte das Letztere. Ohne rechte Freude an der Sache schlugen sie sich eben so durch. Das älteste von drei Kindern starb früh. 1937 erlag mein Großvater einem Kehlkopfkrebs. Mein Vater vergeudete zwölf seiner besten Jahre mit Arbeitsdienst, Krieg und Gefangenschaft. Seine Schwester heiratete einen Soldaten und wurde noch im gleichen Jahr Kriegerwitwe. Oma Erna führte als Witwe die kleine Landwirtschaft weiter und versuchte, dem Leben noch einige schöne Seiten abzugewinnen. Sie liebte es noch immer, kleine Exkursionen in die Konditoreien zu unternehmen. Ihr nach wie vor bestehendes Interesse am anderen Geschlecht äußerte sich ziemlich unverhüllt. War es das, was mein Vater ihr übelnahm?

Meine Eltern hatten im Krieg geheiratet, mein Vater übernahm nun den Hof, vergrößerte ihn. Oma Erna blieben ein Wohnrecht und eine kleine Witwenrente, die nie zum Leben reichte. So rüstig sie noch war, für sie war das Leben so gut wie vorbei. Und ringsum erholte sich jetzt das Land von zwei Kriegen und zwei Inflationen. Arbeiten, sparen, Vermögen bilden, ein Haus bauen, noch ein Haus bauen - alle waren sehr beschäftigt. Oma Erna las ihre Illustrierten, hörte ihr Transistorradio und führte laute Selbstgespräche. Wir zogen in unser neues Haus, und sie blieb noch fünfzehn Jahre in einer Baracke ohne Strom, ohne fließendes Wasser, mit Außentoilette. Ich glaube, sie ist nur zweimal bei uns gewesen. Dabei lebten wir auf dem gleichen Grund, nur zweihundert Meter voneinander entfernt. Meine Mutter wollte sie nicht im Haus haben, doch zu meiner Konfirmation musste sie eingeladen werden.

Mein Vater sah täglich nach ihr, brachte ihr am Schluss auch das Essen. Eines Morgens fand er sie schwer verletzt vor, sie war mit dem Kopf auf die Herdplatte gefallen. In der Nacht darauf starb sie allein in der Klinik.

Ich habe kein einziges Foto von ihr. In meinem Tagebuch wird sie nur einmal erwähnt: als sie starb. Die Baracke blieb leer. Ich stöberte in ihren Sachen und entdeckte die Bücher, die sie nach dem Krieg gelesen hatte: Romane von Alberto Moravia oder John Steinbeck zum Beispiel, Autoren, die ich ihr nie zugetraut hätte.

Allmählich, im Lauf der Jahre, bekam ich einen Blick für das Drama ihres Lebens. Ich sagte mir, jede Generation bleibe allein mit ihren Erfahrungen. Jede verbringt ihre Lebenszeit abgeschottet von den früheren wie den späteren in ihrem eigenen Zeitdorf. Die Vorstellung, es könnte zwischen ihnen Austausch und Verständigung geben, erschien mir nur noch als schöne Illusion.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21900

Gast
Lieber Arno Abendschön, aus dem Text könntest du, meine ich, sehr viel mehr machen. Jetzt ist das alles ein bisschen umständlich erzählt, ohne, dass eine Dramaturgie, ein Spannungsaufbau zu erkennen wären. Ganz großartig aber: die Darstellung der Figuren; und das Hineinleuchten in die Unabdingbarkeiten, die sie nicht aufeinander zugehen ließen. Das Ende hat tragische Größe (tragisch im Sinne von: Das Scheitern liegt in der Verantwortung der Handelnden, und ist nicht irgendeiner Art Schicksal anzulasten). Fünf Sterne für einen bemerkenswerten Entwurf.
Gruß KK
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Liebe Kollegen!

Meinen Dank für die Reaktionen von klauskuckuck, rainer Genuss und hein.

Zu den Anmerkungen von klauskuckuck: Ja, gewiss könnte man aus dem Stoff viel mehr machen, sowohl dem Umfang als auch der Form nach. Es widerstrebt mir allerdings, die Geschichte meiner eigenen Vorfahren als Rohstoff für eine belletristische Langform zu benutzen. Zwangsläufig würde da viel zu ergänzen und zu erfinden sein, und das will ich nicht. Lieber treibe ich kleine Stollen in den Berg der Familiengeschichte und beschränke mich darauf, jeweils nur das ergrabene Material zu präsentieren, zumal kurze Texte fürs Internet generell besser geeignet sind. (Achtung, Schleichwerbung; Es gibt dazu auch eine Sammlung als E-Book.) Inhaltlich knüpft dieser Text an "Versteinertes Holz" an.

Meine Konzeption hier war so: 1. Kurze Momentaufnahme aus dem Leben der alten Frau (Ausgeschlossensein vom Familientreffen, äußere Erscheinung) - 2. Geraffte Lebensgeschichte bis dahin - 3. Ganz knapper Schluss: Tod und Entdeckung im Nachlass, Fazit des Erzählers.

Freundliche Grüsse
Arno Abendschön
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Sehr gerne gelesen, lieber @Arno Abendschön.
Das Einzige, was mich als Leserin unzufrieden zurücklässt: Die (zu) kurze Momentaufnahme, die dem Leben und Wesen dieser, aus dem Familienverbund ausgeschlossenen, Frau nicht gerecht wird. Wenn man von einer "Oma zweiter Klasse" erzählt, könnte man mit einer empathischeren Art des Erzählens eine ausgleichende Gerechtigkeit schaffen.
 
Danke, Isbahan, fürs Lesen und Kommentieren. Ich kann nur wiederholen, was ich oben klauskuckuck schon geantwortet habe. Das vorhandene Material habe ich ausgebreitet, wenn es als karg empfunden wird, so entspricht das nicht nur den familiären Verhältnissen, sondern auch meiner Absicht. Es ist ein Stück Desillusionsliteratur mit dem passenden Fazit im letzten Absatz. Ein sich mehr um Empathie bemühender Ich-Erzähler würde das konterkarieren. Ausgleichende Gerechtigkeit halte ich für ein in Justiz und Gesellschaft sinnvolles Motiv, in ernsthafter Literatur hat es meiner Meinung nach nichts zu suchen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
Oben Unten