Eine Schachtel voller Endorphine

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Tante Margot ist gestorben. Nächste Woche ist Beerdigung. Kannst du kommen?
Ja, ich werde da sein. Genau an diesem Tag habe ich keinen Termin.
Und wenn doch?
Der Tod kennt keinen günstigen Zeitpunkt.
Ich bin da.
Trauer trägt Schwarz. Viele dunkel gekleidete Menschen. Zunächst Schweigen.
Viele bekannte Gesichter - lange nicht gesehen. Viele Gespräche. Das Wissen: Ich bin ein Glied in einer Kette. Irgendwann werden die, die hier stehen, mich beerdigen.

Ein Anlass zur Freude, lange geplant.
Du bist doch da?
Aber natürlich bin ich da.
Alles vorbereitet.
Dann Sitzen in der Kirche. Bis zum Beginn ein Geräuschpegel wie auf dem Bahnhof. Später Besinnung. Nicht weinen.
Bei der Zeugnisübergabe läuft ein Film im Kopf ab, sekundenschnell. Eben geboren - jetzt schon Schulentlassung.
Abschied von vertrauten Gesichtern.
Bist du froh, dass alles vorbei ist?
Ja und nein.
Fotos schießen. Viele Fotos.

Atemholen für drei Tage. Das Leben geht weiter.
Nächste Feier. Wieder eine Schulentlassung, wieder ein Abschied. Nicht weinen. Stolz sein. Das bist du doch? Aber ja. So stolz. Ein neuer Film läuft ab. Das Ergebnis von 19 Jahren Lebenszeit steht dort oben.
Wir haben ihnen das Beste mitgegeben. Jetzt müssen sie selbst handeln.
Ja, du hast recht.
Fotos! Immer wieder.
Zu zweit, zu dritt, alle zusammen.

Fünf Stunden schlafen. Dann: Ein Kind abholen, nach längerer Zeit wiedersehen.
Einen gereiften Menschen vorfinden. Er wird es mit dem Leben aufnehmen können, egal was kommt.
Zehn Monate Leben zusammenpacken und ausräumen. Leere Zimmer zurücklassen.
Zur Erinnerung Fotos schießen. Viele Fotos.
Die echten Fotos sind innen. Für immer.


Kurze Atempause. Ein Anruf: Opa geht es schlecht, er kann nicht mehr alleine bleiben. Kannst du kommen?
Ja.
Was ist mit deinem Urlaub?
Nichts. Erst einmal abgesagt.
Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Blöder Spruch.
Besser:
Alles hat seine Zeit.

Die Bandbreite des Lebens passt in eine Woche.
 

rothsten

Mitglied
Hallo Doc,

das Thema Deines Werks verrätst Du uns am Schluss:

Die Bandbreite des Lebens passt in eine Woche.
Dein Text ist stilistisch extrem eingedampft. Es gibt kaum - ich nenne sie jetzt mal- Streckwörter, die die Handlung an sich beschrieben. Vor allem "sein" und seine Konjugationen fehlen soweit als möglich.

Was raus kommt, ist eine Collage aus Schnipseln und Tupfen einzelner Gedanken. Die Gefahr ist groß, dass es hier zu rudimentär wird. Du hast es aber geschafft, das Wesentliche stehen zu lassen.

Mich erinnert Dein Text an das Schaffen eines Bildhauers. Er schlägt all die überflüssigen Brocken ab. Am Ende bleibt stehen: das Kunstwerk. Vorausgesetzt, man setzt Hammer und Meißel richtig an.

Mir gefällts sehr! ;)

lg
 
A

aligaga

Gast
Leider hält der Text nicht, was der Titel verspricht. Wir bekommen ein paar Schachteln hingestellt, die aussehen wie immer, wenn gestorben, Abitur gemacht oder getauft wird. Leider sind sie komplett leer - dabei sollten sie doch voll sein, zum äußersten verdichtet.

Was auf den Fotos wohl zu erkennen sein wird? Auf den meisten wohl nicht mal der Anlass der Familienfeiern. Nur Gesichter, haufenweise Gesichter. Die Zeit, von der du hier schreibst, @Doc, hat gar kein Gewicht. Sie vergeht bloß. Ob es sie, wenn es so ist, überhaupt gibt? [blue]Manche bezweifeln es[/blue].

Die Bandbreite eines Lebens hat mit der Zeit direkt gar nichts zu tun. Wenn sie so schmal ist, dass sie „in eine Woche“ hineinpasst, dann war’s keins.

Gruß

aligaga
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
@rothsten: Ganz unliterarisch - ich bin entzückt über Dein passendes Textverständnis. Eine Essenz der Essenz!

Was ich überlege: Ob der Titel "Leben, komprimiert" nicht besser passen würde. Und ob der letzte Satz nicht überflüssig ist, denn eigentlich muss der Leser das selbst erkennen. Deine Meinung dazu interessiert mich sehr.

@aligaga:

In den Schachteln ist das Leben, zum Äußersten verdichtet. Komprimierter geht es nicht. Das erschließt sich nur dem, der es beim Lesen fühlen kann. Sehen kann. Nachvollziehen kann. Fotos sind an sich belanglos, die Wahrheit ist immer hinter dem Bild. Und die kann man(n) mit den Augen des Herzens sehen. Abgesehen davon - die wahren Bilder sind innen, das steht ja auch im Text.

Die Bandbreite des Lebens kann noch viel kürzer als eine Woche sein, dafür reichen Sekunden.
Wenn sich das für Dich nicht erschließt, ist das so. Das macht aber nichts, polarisierende Texte haben etwas. :)


LG

DS
 
A

aligaga

Gast
Die Bandbreite des Lebens kann noch viel kürzer als eine Woche sein, dafür reichen Sekunden.
Dass die Zeit etwas Relatives ist, sagte ich bereits, das musst du nicht wiederholen, @Doc. Hast du den Link nicht geguckt? Momente können in der Tat recht bedeutsam sein. Der 6. August 1945, 08:16 Uhr und zwei Sekunden, zum Beispiel, war ein solcher.

Geburten und Begräbnisse stellen dagegen auch dann kein komprimiertes Zeitgeschehen dar, wenn sie wochenlang dauern. Sie sind die banalsten Dinge, die uns Menschen überhaupt betreffen können und sind per se für die "Bandbreite des Lebens" bedeutungslos. Literarisch komprimieren ließe sich allenfalls etwas, das zwischen Anfang du Ende läge.

Ich wiederhole: Der Text hält nicht, was der Titel verspricht. Mit ein paar simplen Erinnerungen an Geburt, Sterben, Schule und Demenz wird nichts komprimiert, sondern bestenfalls ein leerer Rahmen an die Wand gehängt. So wie [blue]Gerhard Richter[/blue] das mal gemacht hat. Nicht jeder hat das verstanden.

Tipp: Andere Überschrift wählen. Wie wär's mit "Die Familiengruft" oder "Fotoshop"?

Gruß

aligaga
 

rothsten

Mitglied
Moin.

Textverständnis setzt bereits da an: Ob man in einer persönlichen Anrede statt du lieber Du schreibt. Es ist Ausdruck gegenseitigen Respekts. Oder eben auch nicht. Manchmal sind es eben die kleinsten Details, auf die es ankommt. Hier wird die Sicht auf die Welt und die Einstellung zu anderen Menschen -sagen wir frank und frei- komprimiert! Soweit mein Wort zum Sonntag.

Was ich überlege: Ob der Titel "Leben, komprimiert" nicht besser passen würde. Und ob der letzte Satz nicht überflüssig ist, denn eigentlich muss der Leser das selbst erkennen. Deine Meinung dazu interessiert mich sehr.
Der letzte Satz gehört gemeißelt, keine Gnade. Dein Text setzt beim Leser voraus, dass er das Eindampfen als literarsichen Wert erkennt. Jemand, der über diese Hürde springt, braucht keine weiteren Erklärungen.
Ist halt die Frage, wenn Du alles erreichen möchtest.

Ob Du beim Titel nun die Zeit oder das Leben zusammenpresst, beides ist schlecht. Es verrät zuviel, ist zu direkt.

Ich assoziiere spontan die Stelen des Holocaust-Denkmals in Berlin. Da ist jeder Klimbim weggelassen, die Wirkung wird nur durch die Stellung zueinander erzeugt. Eine rudimentäre Collage sozusagen - ähnlich zu Deinem Text.

Wie wäre der Titel "Stelen"? Passte auch zum Friedhof ...

lg
 
A

aligaga

Gast
Der Zuspruch der üblichen Verdächtigen in allen Ehren, aber selbst ein Lebenslauf, der eine Bewerbung zur Anstellung etwa in einem Versicherungsunternehmen begleitet, braucht ein Minimum an Substanz, will er Wirkung entfalten.

Es reicht den einschlägigen Personalbüros für gewöhnlich nicht, zu erfahren, die BewerberIn sei geboren, die Kinder seien getauft und aus dem Hause, der Pappi inzwischen dement und man ahne - ach! -, dass man selbst auch nicht das ew'ge Leben habe. Alles fein säuberlich geknipst (s. Anlage!).

Mit solchen Schablonen allein kommt man nicht mal bei der Bayerischen Versicherungskammer recht weiter. Es sei denn, in der Registratur bräuchte man eine leere Schachtel, um anderes Zeug aufzubewahren: Ein Stückchen Dichtung oder etwas ähnlich Komprimiertes.

Ein Sonett oder ein Haiku sollten aus mehr bestehen als nur vierzehn Zeilen oder siebzehn Silben. Man kann sie nicht knipsen. Sie beginnen erst dort, sich für dich zu bewegen, wo die Bloggerey schon längst tot ist.

Ich glaub nicht, dass Beschönigung Sinn machte, @Doc. Denn sie ist niemals ehrlich.

Gruß

aligaga
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
@rothsten:

"Du" ist bewusst kleingeschrieben, da ich den Text als Selbstreflexion des Prot verstehe, der einen Dialog wiedergibt.


Der Ursprungstitel hieß "Dichte Zeit". Du hast recht, alle Titel verraten zu viel. "Stelen" ist zu fokussiert auf das Thema Tod, Trauer und Beerdigung, im Text geht es ja aber auch um Freude, Stolz und Kinder ... wäre also zu einseitig. Ich grübele nochmal, ob mir ein besserer einfällt.

Danke sagt Doc
 
S

steky

Gast
Ein gelungener Text, Doc! ... Allerdings finde ich auch, dass das Thema Zeit ein wenig auf der Strecke bleibt; du löst hier eher ein Vergänglichkeitsgefühl aus; dieses harmoniert aber nicht mit dem Titel.

Obwohl der Schlusssatz ostentativ aus der Masse sticht, empfinde ich den folgenden als Schlüsselsatz:
Die echten Fotos sind innen. Für immer.
Macht das die Zeit in gewisser Art und Weise nicht nichtig? Was ist Zeit? Diese Frage ist überaus interessant!

Ich denke, dass Problem ist, dass du der Zeit Komprimierung vorwirfst.

Ein weiser Mann (Mark Aurel) hat einmal gesagt:

"Bald wird alles bei dir und bald wirst auch du bei allen in Vergessenheit sein."

Dieser Satz zeigt die Zeit (und somit das Leben) in einem anderen Licht: nämlich als Sog, der alles und jeden mitreist.

Ein schwieriges Thema, mit vielen verschiedenen Auffassungen.

Gerne gelesen!

LG Steky
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke steky, das sind schon wieder viele neue Aspekte ... ich werfe der Zeit keine Komprimierung vor, sondern versuche auszudrücken, dass zu viel in zu kurzer Zeit passiert. Leben eben.

Ich ändere den Titel jetzt in "Eine Schachtel voller Endorphine". Dann ist der Zeitaspekt verschwunden.

LG Doc
 
S

steky

Gast
Danke steky, das sind schon wieder viele neue Aspekte ... ich werfe der Zeit keine Komprimierung vor, sondern versuche auszudrücken, dass zu viel in zu kurzer Zeit passiert. Leben eben.
Ich kann Deine Intention nachvollziehen, Doc, und habe mir nochmals einige Gedanken gemacht. Das Problem ist, dass Zeit nicht gleich Leben ist; sie ist nur eine Skala, woran wir unsere Lebenszeit messen. Zoomt man nämlich ein wenig zurück, dann wird man sehen, dass Zeit noch viel mehr ist, dass wir nur einen Teil der Zeit verbrauchen dürfen. Und wenn man berücksichtigt, wieviele Menschen vor uns schon gelitten, gekämpft und gelebt haben, dann merkt man, dass Zeit eigentlich nicht komprimiert sein kann, auch wenn uns das oft so vorkommt. Vielleicht liegt der Fehler tatsächlich nur in der Verwechslung zwischen Zeit und Leben. Was uns wieder zu der Frage führt, was Zeit denn eigentlich ist - eine Wahrnehmung?

Zur Titeländerung:

Vielleicht sind wir gar nicht so weit auseinander, wenn du sagst:

Was ich überlege: Ob der Titel "Leben, komprimiert" nicht
besser passen würde

Ich ändere den Titel jetzt in "Eine Schachtel voller Endorphine". Dann ist der Zeitaspekt verschwunden.
Ich find´s schade.

PS: Dass ich Dich in meiner letzten Nachricht nicht konform gedutzt habe, hat übrigens nichts mit Respektlosigkeit zu tun. Ich war und bin der Auffassung, respektvoller Umgang anderen Menschen gegenüber versteht sich von selbst und macht sich nicht an Groß- und kleinschreibung fest. Der Inhalt macht den Ton!

LG
Steky
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Steky, wenn Zeit und Leben aus dem Titel verschwunden sind, wird nicht so viel vorweggenommen. Von daher finde ich das so besser.
Du hast Dir viele Gedanken gemacht, die mir gut gefallen. Das ist ein sehr komplexes Thema, das kaum kurz abgehandelt werden kann - ich habe versucht, es trotzdem knapp zu halten... meine Einlassung zu du/Du bezog sich ja auf den Text. Ich schreibe es meistens groß, da ich es noch so gelernt habe und es mehr Respekt ausdrückt, aber ich weiß schon, was Du meinst. Alles okay.

LG
DS
 
Hallo Doc,

ich muss zugeben, ich verstehe manche deiner Geschichten nicht auf Anhieb, so auch „Eine Schachtel voller Endorphine“.
Aber das finde ich gar keinen Nachteil: es ist eine Aufforderung, die Geschichte mehrfach zu lesen, sich genauer mit ihr auseinanderzusetzen, nachzudenken.

Und auch, wenn danach immer noch nicht alles glockenklar ist, so hat das ebenso seinen Reiz. Andere Erzählungen fallen mit ihrer Handlung oder ihrer Botschaft wie mit der Tür ins Haus. Bei deinen Geschichten bleibt oft eine Vieldeutigkeit, ein Rätsel, ein Schleier. Und das gefällt mir.

Geschichten dürfen ihre Geheimnisse haben und behalten. Sie müssen sich nicht sofort vor allen Augen entblößen, nur damit der ungeduldige Leser direkt weiß, was Sache ist und seinen Haken darunter machen kann. Man muss einen Text nicht bis ins letzte verstehen und durchdringen, ich verstehe ja auch im Leben vieles nicht.

Deine Geschichte erinnert mich auch an ein Bild, das nur skizziert ist, oder bei dem nur Farbtupfer gesetzt sind, so dass es meiner eigenen Phantasie überlassen bleibt, dieses Bild für mich persönlich „auszumalen“.

Dein Text eröffnet somit einen Dialog, er ist ein Angebot und eine Aufforderung, kreativ zu werden, mit dem Geschehen in Interaktion zu treten und sich eine eigene Interpretation der Handlung zu erarbeiten.

Oder habe ich jetzt deinen Ansatz völlig überinterpretiert? Egal, für mich persönlich macht diese Deutung Sinn.

Herzliche Grüße Stefan
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Stefan Sternau,

ich bin überrascht über einen so ausführlichen Kommentar, der das kurze Werk dermaßen auseinandernimmt. Das gefällt mir gut - vor allem auch die Tatsache, dass Du Dir den Text selbst erschließt und ihn quasi ausmalst. Herziblatti deutete ja so etwas Ähnliches an, es werden auch bei ihr Erinnerungen wach.

Das hier
Dein Text eröffnet somit einen Dialog, er ist ein Angebot und eine Aufforderung, kreativ zu werden, mit dem Geschehen in Interaktion zu treten und sich eine eigene Interpretation der Handlung zu erarbeiten.
habe ich jetzt nicht so beabsichtigt, aber Du hast ja vorher plausibel geschildert, weshalb Du den Text für Dich so liest. Der Text fasst viele verschiedene existenztielle Lebenserfahrungen zusammen, die gut zu erkennen sein sollten und sich in kurzer Zeit abgespielt haben. Das ist das Gerüst, was (noch) da bzw. übrig geblieben ist.

Erstaunlich, dass für Dich viele meiner Texte einen "Schleier" enthalten, das ist nicht meine Absicht, gefällt mir aber.
:)


LG

Doc
 



 
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