Eine Schachtel Zigaretten

lietzensee

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Eine Schachtel Zigaretten​


„Du kannst jetzt Zigaretten holen gehen. Schaffst du das?“ fragte Iris.

Ja, Marco traute sich das zu. Er sah Iris. Dann blickte er an seinem Körper hinab und spreizte seine Finger. Er würde es schaffen. Er würde der Gefahr ins Auge sehen. Darauf hatte er bestanden. Mutig ließ Marco die Hand über die Klinke gleiten. Er zog mehrmals daran, erinnerte sich, dass der Mechanismus nach unten gedrückt werden musste und trat auf die Straße hinaus.

Es war dunkel. Marco blickte nach oben, keine Sonne, keine Sterne, aber Wolken, die im Licht der Laternen schimmerten. Dieses Licht glitzerte auf Autoblechen und zeichnete schwarze Schatten in die Eingänge der Häuser. Für einen Moment blieb er stehen und nahm den Eindruck ganz in sich auf. Er war Marco. Er stand auf dem Gehsteig einer nächtlichen Straße. Er atmete tief ein und schmeckte den Duft aus Baumblüten und Diesel.

Bis zum Kiosk musste er drei Querstraßen überqueren und dann rechts abbiegen. Er hatte sich den Weg eingeprägt und ging mit langsamen, sicheren Schritten das Kopfsteinpflaster entlang. Sein Echo hallte zwischen dunklen Hauswänden. Ein paar Glasscherben schimmerten auf dem Pflaster. Stolperte er im falschen Moment, konnten diese Zacken in seine Haut schneiden. Dann würde er Schmerz empfinden. Von so etwas durfte er sich nicht ablenken zu lassen, das hatte Iris ihm erklärt. Sie hatte ihm viele Sachen erklärt, aber theoretischen Belehrungen konnte er nicht gut folgen. Sie hatte ihm auch gesagt, dass er auf alles aufpassen musste. An einer Straßenecke drehte Marco sich um und sah Schatten. Sie bewegten sich langsam auf ihn zu.

Unerschrocken lief Marco weiter. Nun fühlte er, dass er wirklich angekommen war in dieser fernen Vergangenheit. Hier war alles noch möglich. Es gab Reize für alle Sinne. Es gab Frauen in Parfümwolken. Vor allem aber gab es Gefahr. Er wollte Gefahr begreifen, denn er kannte nur den sicheren Orbit um einen roten Zwergstern. Das Herz in seiner Brust schlug schneller und es war ein ganz neues Gefühl, ein schlagendes Herz in der Brust zu haben. Seine Beine trugen ihn leicht über das Pflaster. Am Ende der Straße leuchtete grün eine Ampel auf. Sie wechselte zu gelb und dann zu rot. Ob die Menschen hier überhaupt wussten, wie schön das aussah?

Marco war sich nun sicher, dass das Echo hinter ihm nicht nur zu seinen eigenen Schritten gehörte. Etwas folgte ihm im Dunkeln. Sein Körper begann, sich heiß anzufühlen und er konnte seinen eigenen Schweiß riechen. Trotzdem konzentrierte er sich auf den Rhythmus seiner Schritte. Er lief gut, ein Bein vor das Andere, wie ein Mensch der sein ganzes Leben lang gelaufen war. Hinter sich aber hörte er etwas, das mehr als den regelmäßigen Takt von zwei Beinen hatte. An der nächsten Kreuzung wagte er, sich umzudrehen und sah eine geduckte Bewegung zwischen zwei Hauseingängen. Marco lief weiter und atmete ein und aus.

Dann kam ihm der Gedanke, ob er überhaupt Kleingeld dabei hatte. Er war stolz auf diesen Gedanken. So hätte ein Mensch in dieser Zeit gedacht. Marco fühlte in der Tasche umher und hörte Metallscheiben klicken. Er würde den Laden betreten, einen fremden Menschen ansehen und das Geld auf den Tisch legen. „Ich will eine Schachtel voll Zeug, das meine Lunge zersetzt.“ Das Leben hier war romantisch, es…

Hinter ihm schepperte etwas. Marco sprang. Er verlor das Gleichgewicht, taumelte mehrere Meter nach vorne und fand kurz vor dem Sturz wieder in den Rhythmus seiner Schritte. Sein Körper begann zu schmerzen. Iris hatte ihn gewarnt, wie viel Kraft er brauchen würde. Mehrere Äonen hatte er durchlebt, aber auf diese Erfahrung hatte ihn nichts vorbereiten können. Die körperliche Last des alten Lebens hatte Iris es genannt. Das hatte er nicht verstanden und jetzt beunruhigte es ihn.

Aber er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Noch eine Querstraße, dann links weg, wieder eine Tür bedienen und im Laden Zigaretten verlangen. Er konnte das schaffen. Er war Marco. Diesen Namen hatte er selbst gewählt, um diesen Abend als archaischer Mensch zu leben.

Ein schriller Ton hallte zwischen den Häusern hindurch. Das war eine Autohupe. Marco bog in die Seitenstraße ein und hinter ihm folgten Echos. Es war nicht mehr weit. Wie schnell konnte er laufen? Er versuchte, die Beine schneller zu heben und hörte, wie hinter ihm etwas klirrend aufs Pflaster fiel. Was verfolgte ihn? Er versuchte sich an alle Gefahren zu erinnern, die Iris aufgezählt hatte, fallende Dachziegel, Blutgerinnsel, Diebe und Polizisten. Das Herz klopfte schneller, als er es ertragen konnte. Hinter ihm schlugen Schritte aufs Pflaster. Aber da schlug noch etwas anderes, etwas Weicheres.

Jetzt sah er den Laden! Eine rote Reklame leuchtete in der Dunkelheit. Die wenigen Schritte konnte er schaffen und er musste nur noch auf die andere Straßenseite. Doch Marco drehte sich noch einmal um. Im Licht der Laterne sah er jetzt seine Verfolger. Ein Mann, der eine Schnur in der Hand hielt. An der Schnur hing ein Tier. Er sah einen dicken Kopf und Augen, die im Laternenlicht glänzten. „Wat isn?“ fragte der Mann. Das Tier öffnete sein breites Maul und grollte. Iris hatte ihn vor Hunden gewarnt. Marco sprang rückwärts. Reifen quietschten und er spürte einen harten Schlag gegen seine Schulter.

Als er wieder zu sich kam, sah er über sich die Leuchtreklame des Ladens, Marlboro. Alles an seinem Körper schmerzte und er merkte undeutlich, dass Menschen um ihn herum standen. Das war dann also Schmerz. Marco fand, dass das Gefühl zu weit weg von ihm war, um einen so schrecklichen Ruf zu verdienen. Die Menschen überstrahlend, sah er Iris, die Kugel aus weißem Licht. Sie hatte ihn gewarnt. Aber er hatte sein Abenteuer durchgehalten. Über die Gefahren der Vergangenheit hatte er viel gelernt und von der Erinnerung an diesen Abend würde er noch eine Ewigkeit zehren. Er nickte Iris zu, bereit nun zurückzukehren.

Iris leuchtete, rein und weiß, aber sie reagierte nicht so, wie er erwartet hatte. „Versteh doch endlich. Für echte Gefahr muss ich echten Schaden zulassen Marco.“ Eine Sirene heulte. Noch immer begriff er nicht, was sie meinte. Ihr Licht begann ihn zu blenden. „Du liegst im Sterben.“
 
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