Eine Schleife

Eine Schleife

Das Dorf wurde am 21. Januar 1272 erstmals als Slepe urkundlich erwähnt. Technisch gesehen ist die Schleife ein doppelt auf Slip gelegter Kreuzknoten. Im Rokoko etwa zwischen 1740 und 1770 wurde es Mode, das Mieder vorne mit zahlreichen großen Schleifen zu verzieren, die von oben (an der Brust) nach unten (zur Taille) kleiner wurden. Häufige Fehler: Wenn der zweite halbe Knoten die gleiche Orientierung wie der erste hat, entsteht statt eines Kreuzknotens ein Altweiberknoten, der nicht dauerhaft hält, sondern sich schnell löst.

Wir haben 23:36 Uhr. „Schon komisch“ denke ich mir, als ich mein Handy auf dem ich die Uhrzeit nachgelesen habe in die Tasche meiner Regenjacke fallen lasse und den Reisverschluss zuziehe. „Man sagt 23 Uhr 36, obwohl man 23 Doppelpunkt 36 Uhr schreibt.“ „Ein uninteressanter Gedanke“, denke ich mir „trotzdem interessant, dass ich ihn jetzt gerade denke, gerade jetzt“

Ich gehe über die nassgeregnete Straße und werfe einen Blick auf die Kneipe, bei der ich vor zehn Minuten meine Schicht beendet habe, die vor sechs Minuten geendet hat. Wenn ich auf die Straße blicke und meinen Oberkörper hin- und her wippe, bewegen sich die Reflexionen der Straßenlaternen und einer einsamen Ampel auf der nassen Straße. Eigentlich bin natürlich ich es, der sich bewegt. Wenn ich eine geeignete Pfütze finde, könnte ich darin eine ganz klare Spiegelung der Straßenlaterne sehen, nicht nur des Lichtkegels, was natürlich eigentlich nichts anderes wäre als eine Spiegelung des vom Schirm der Straßenlaterne zurückgeworfenen Lichts der eigentlichen Quelle. „Mein Gott, ich sollte Physiker werden“, denke ich. Natürlich sollte ich kein Physiker werden. Ich sollte nach hause gehen. Ich komme an mehreren Graffiti vorbei manche farbenfroh und dreidimensional, andere tristes schwarz auf weiß. Bei diesem weiß handelt es sich natürlich, oder besser gesagt unnatürlich, um ein vormals weißes Großstadtgrau.

Meine Wohnung finde ich genau so vor, wie ich sie hinterlassen habe. Wie den auch sonst? Im Waschbecken vom Badezimmer steht ein wenig Wasser. Das ist Absicht. Ein Pinsel soll darin einweichen, genauer gesagt weich bleiben. Vor meiner Schicht hatte ich keine Zeit mehr, ihn vollständig zu säubern. Ich lasse das Wasser ab und spüle ihn fertig aus. Die Gelegenheit nutze ich gleich aus, um meine Hände zu waschen. Mein Bild ist fertig.

Ich nehme es von der Staffelei und halte es unter das Deckenlicht, welches gerade auf das Bild fällt, das ich leicht nach hinten geneigt halte. Dabei handelt es sich eher um eine Geste, gut sehen kann ich das Bild so nämlich nicht. Ich stelle es zurück auf die Staffelei, mache die Tageslichtlampe an, die ich fürs Malen benutze und trete ein paar Schritte zurück. Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob es wohl auch Nachtlichtlampen gibt, verwerfe den Gedanken aber gleich wieder.

Das Gemälde zeigt eine Frau aus den 1950er Jahren, die von einem Mississippidampfer aus ein Foto macht. Die Kamera richtet sie dabei auf alle die das Gemälde vom Ufer aus betrachten. In diesem Fall bin das ich. Ich stehe natürlich nicht an dem Ufer und wenn ich es täte, könnte ich eine Frau in einem Dampfer auch nicht so gut erkennen, wie diese Frau beim Betrachten des Gemäldes. Sie sieht mich aber haarmesserscharf durch ihre Linse. Ich überlege, wie sie heißen könnte. Da sie mich so direkt anvisieret, wäre Mona del Giocondo passend. Oder aber Mona Mississippi. Zweifelsohne handelte es sich bei einem solchen Namen um ein Zeugnis von Hybris und Dekadenz. Der Name wäre also für Leute, die in Kunstgalerien gehen und mit ihren Telefonen Bilder von Bildern machen gerade gut genug. Da es außerdem sowieso nicht so aussieht, als würde es eines meiner Bilder jemals in eine richtige Galerie schaffen, ist der Name sowieso egal.

Ich lasse mich aufs Sofa fallen und schaue der Mona Lisa in die Augen. Viele würden das als ein ganz besonderes Gefühl beschreiben. „Ich schaue ihr in die Augen und sie in meine Seele“, oder sowas. Aber genau genommen schielt einen die Mona Lisa einfach nur an. Meine ist ein schnöder Kunstdruck, erstaunlich teuer für eine Kopie aber spürbar preiswerter als das Original. Tatsächlich ist es eine ziemlich beliebte Beschäftigung, über die Geheimnisse der Mona Lisa zu rätseln. „Die Wahrheit hinter Lisa del Giocondo!!“ Die tatsächliche Wahrheit hinter ihren Augen ist, ganz einfach. Leonardo Da Vinci hat das Bild mit zwei Fluchtpunkten gemalt, irritiert beim Betrachten ungemein. Man kann alles sehen, was man sehen will, darum fällt es den Leuten am allerschwersten, das zu sehen, was da ist. „Wenn diese Tatsache auf die Kunst beschränkt wäre, sähe die Welt ein Stück besser aus“, denke ich mir und gähne.

Indem ich mit den Beinen Schwung hole, stehe ich mit einem Ruck wieder auf. Meine Schuhe habe ich noch immer an. Da ich in diesem Zimmer so oft male, macht es keinen Unterschied, den Boden einmal mehr oder einmal weniger zu putzen, was sich als nötig erweist, wenn man mit Schuhen bei nassem Wetter draußen war. Trotzdem ziehe ich sie jetzt aus. Ich stelle sie neben das Schuhregal, welches ich ironischerweise nur für die Schuhe benutze, die ich nie trage und beschieße, die Spuren erst morgen wegzuwischen. So empfindlich ist der Boden nicht. Morgen... oder irgendwann. Nach kurzem überlegen schmiere ich mir zwei Brote, eins mit Schinken, das andere mit Käse. Außerdem koche ich eine Tasse Tee. „Italienische Limone“ steht auf der gelben Verpackung. Limone ist das italienische Wort für Zitrone. Warum man nicht einfach „Italienische Zitrone“ oder nur „Limone“ draufschreibt ist mir ein Rätsel. Solange dieses Rätsel nach fünf bis acht Minuten mit Honig gut schmeckt, handelt es sich angenehmerweise um keines, dessen ungelöster Verbleib meine Lebensqualität hemmen würde.

Ich esse, trinke, schaue Cartoons und frage mich, ob Serien beim Essen eine schlechte Angewohnheit sind. Alles gleichzeitig. „Nach dieser Folge ins Bett gehen“. Leider bin ich zu müde. Die Folge über einen Hund und ein hyperintelligentes Kleinkind, die durch die Zeit reisen hält mich davon ab, direkt einzuschlafen. Um einfach aufzustehen und meine Zähne zu putzen bin ich aber zu müde. Am Ende der Folge bin ich noch müder, aber jetzt muss es nun mal sein.

Am nächsten Morgen wache ich früh auf. Wirklich ausgeschlafen bin ich zwar nicht, aber das Gefühl, keinen Anlass zu haben, den Tag zu loben oder zu verfluchen kann ich drei Stunden lang genießen.

Vincent wäre um diese Uhrzeit schon unterwegs gewesen, um den Sonnenaufgang zu malen. Ob Picasso wohl schon im Bett wäre? Eins hatten Van Gogh und Picasso gemeinsam. Niemand würde in ihnen die Bedienung einer Eckkneipe sehen. Schön für sie.

Jetzt mache ich es schon wieder. „Wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich in diesem Moment nicht denken, sondern malen würde“, denke ich mir. Aber ist ja auch nicht schlimm. Van Gogh hat erst mit 27 beschlossen, Maler zu werden. Andererseits wurde Picasso mit 14 an einer Kunstakademie angenommen. Jetzt mache ich es schon wieder. Ernest Hemingway blickt mich traurig an. Ich habe ihn vor gut einem Halben Jahr gemalt. Rechts von ihm liegt ein umgekipptes Whiskyglas, links von ihm sein Ohr. Ich blicke zurück. Keine Reaktion.

Heute müsste ich eigentlich einen Zahnarzttermin ausmachen, aber ich möchte nicht telefonieren. Stadtessen gehe ich in den Supermarkt und kaufe ein. Manche Sachen suche ich gezielt aus, da sie zu hause fehlen, andere nehme ich spontan. Zuhause angekommen öffne ich einen neu erworbene Packung Schokoflakes und frühstücke. Währenddessen schaue ich eine Cartoonfolge. Sie handelt von dem Hund aus der letzten Folge. Weil er eine Ladung Stinktierparfüm abbekommen hat, was seiner Besitzerfamilie missfällt, muss er draußen übernachten. Danach putze ich meine Zähne, wobei ich in den Spiegel schaue. „Schon komisch“, denke ich mir. Ein Spiegel hat keine allzu besondere Oberfläche, sie reflektiert nur mehr Licht, als so ziemlich jede andere. „Aber trotzdem sagt man in den Spiegel schauen und nicht auf den Spiegel oder den Spiegel anschauen.“ Zumindest hilft mir der Spiegel, geduldig auf vier Minuten Zähneputzen zu kommen. Man sagt drei reichen. Mein Spiegelbild sieht mich ernst an. Für einen Moment frage ich mich, welches Verhältnis Oscar Wilde zu seinem Spiegelbild hatte. Ob er es wohl äußerlich attraktiv fand? Fälschlicherweise denken viele Menschen, ein Spiegel würde links und rechts vertauschen. Eigentlich vertauscht er aber vorne und hinten. Sich das Ganze vorzustellen, grenzt an Unmöglichkeit, weshalb es einfacher ist, die gespiegelte Welt als normale zu denken. Aber genaugenommen hat mein Spiegelbild eine Nase, die weiter hinten ist als sein Rücken. Es ist ganz zweifelsohne einfacher, mein Spiegelbild wie einen mir gegenüberstehenden Menschen einzuordnen.

Ich entscheide mich spontan, zu duschen und liege danach wohlriechend in meinem Bett. Mein nachzuholender Schlaf betrachtet das als Showtime und dauert gute zwei Stunden lang. Danach liege ich mit geschlossenen Augen im Bett und atme.

Eigentlich sollte ich wahrscheinlich gerade malen. Immerhin habe ich heute genug Zeit, da ich erst morgen wieder arbeiten muss.

Van Gogh, Picasso und Hemingway sind abgelenkt und würdigen mich keines Blickes. Sie liegen auf einem falunroten Sofa und schauen Cartoons.
 



 
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