Eine Waffe darf nie . . .

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Bo-ehd

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Rudolf Breunig schlief so tief und fest, wie es nur bei einer Narkose möglich ist. Nicht einmal die Düsenclipper mit ihren heulenden Triebwerken, die im Landeanflug bis in den Abend hinein über sein Dach schwebten, konnten ihn, den Schichtarbeiter, aus dem Schlaf holen, ganz zu schweigen von den Lastwagen, die vor seiner Haustür über die Schlaglöcher rumpelten. Als wäre er taub, prallte jeglicher Lärm an ihm ab. Wenn er tagsüber zu Hause war und sich auf dem kleinen Balkon ein Tasse Kaffee gönnen wollte, wurde er jedoch beim ersten Überflug aggressiv und beim zweiten flüchtete er sich ins zwei Kilometer entfernte Wirtshaus „Zum Kaiserhof“. Aus reiner Notwehr gegen den schleichenden Lärmtod, wie er betonte.
Ganz anders Helene, mit der er seit 25 Jahren verheiratet war. Sie wäre schon lange woandershin gezogen, wenn sie sich eine bessere Gegend hätte leisten können. Sie hatte anfangs nach einer Wohnung in einem anderen Stadtteil gesucht, aber keine war auch nur annähernd so günstig wie der Wohnraum in der Einflugschneise. So blieb ihr nur übrig, mit dem Lärm tagsüber zu leben und ihn zu ignorieren, soweit so etwas überhaupt bewusst steuerbar war. Dennoch hinterließ das Getöse auch bei ihr deutliche Spuren, denn sie war kurz davor, ihr bescheidenes Leben aufzugeben.
Der offene Krieg zwischen den beiden fand auf einem anderen Schauplatz statt. Ihre Interessen waren grundverschieden. Sie war ein Schöngeist, der noch Bücher las, klassische Musik hörte und sich von ihrer Schwester zu dem einen oder anderen Theaterbesuch einladen ließ. Letzteres war die einfachste Methode, ein solches Vorhaben durchzusetzen, ohne sich gegen Rudolfs Einwände wehren zu müssen. Er hingegen war ein Gesellschaftsmensch, wie er sich selbst bezeichnete, was bedeutete, dass er gern seine Freizeit mit Freunden im Wirtshaus verbrachte. Hauptsache weg von der Wohnung. Jahrelang hatte Helene Verständnis dafür gezeigt, in letzter Zeit aber nahmen nicht nur seine Kneipenbesuche zu, sondern auch die Menge an Alkohol, die er sich genehmigte. So kam er seit einem Vierteljahr drei oder vier Mal in der Woche stark angetrunken nach Hause, tobte bei geringstem Anlass, wurde ausfällig, brüllte das ganze Mietshaus zusammen, wenn er in Rage war, und – er schlug sie. Wieder nüchtern, folgten nicht Einsicht und Entschuldigung, sondern Beleidigungen, Demütigungen und Hass.

*

Helene hatte ihn satt. Da lag er nun im abgedunkelten Schlafzimmer in seinem Bett wie ein toter Krieger, der ganze Körper eingehüllt in eine Wolke von Körperschweiß und säuerlicher Bierfahne, der Mund offen, regungslos, schnarchend. Die Hände gewaschen, aber die Fingernägel kohlrabenschwarz.
Sie hielt ihn nicht mehr aus. Wegen der geschlossenen Fenster intensivierte sich der Gestank, dass ihr schlecht wurde. Sie trat ein paar Schritte zurück, und wie sie so vor der Kommode stand, in der sie die Unterwäsche verwahrte, kreisten ihr Gedanken durch den Kopf, die kein Mensch auf der Welt dieser ruhigen, gepflegten und bedachten Ehefrau zugetraut hätte. Sie öffnete die oberste Schublade, in der sich Rudolfs Unterhemden befanden, griff tief hinein bis ans Ende der Lade, ertastete das gesuchte Metall und zog es hervor.
Waffen waren Helene ein Graus, aber diese Glock 25 fand sofort ihre Bewunderung. Wie sie sich ihrer schmalen Frauenhand anpasste! Als wäre sie in ihre Hand gegossen. Sie legte die andere Hand ebenfalls an die Waffe, streckte die Arme und hob sie an, um zu zielen. So machten es doch auch die Polizistinnen in den Krimis, kam es ihr. Und welch ergreifendes Gefühl von Macht von diesem Stück Metall ausging!
Rudolf hatte ihr früher einmal erzählt, dass es die Verantwortung erfordere, Waffe und Munition getrennt aufzubewahren. Ja, daran erinnerte sie sich genau.
„Eine Waffe darf nie durchgeladen aufbewahrt werden“, hatte er sie damals aufgeklärt, und sie hatte zuhören müssen. Darauf hatte er bestanden.
Jetzt hatte sie sie in der Hand, und der Wunsch, damit Macht nicht nur zu fühlen, sondern auch auszuüben, zog sie in ihren Bann. Sie trat an sein Bett, richtete den Lauf in etwa einem Meter Entfernung auf seinen Kopf, spannte den Hahn und drückte nach langem Zögern ab. Klick. Wie einfach das war! Helene ergriff ein Gefühl der Glückseligkeit. Das erste Mal in ihrer Ehe dominierte sie ihn, das erste Mal empfand sie ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, der uneingeschränkten Macht über ihn und der Gewissheit, ihn endlich einmal in die Schranken weisen zu können, sich zu behaupten, ihn notfalls zu verletzen oder zu töten.
All das genoss sie noch lange, nachdem sie die Waffe an ihren Ort zurückgelegt hatte. Als sie im Bett lag, beschäftigte sie noch stundenlang die Frage, welche Möglichkeiten sie mit dieser Kurzwaffe, wie er sie nannte, noch hatte. Aber weder ein Banküberfall noch ein Raub oder eine Geiselnahme interessierte sie. Die Waffe sollte ihr dienen und sie nicht ins Gefängnis bringen.
Am Morgen danach, es war ein Montag, hatte Rudolf Normalschicht. Um Viertel nach fünf kam er polternd aus dem Bad. „Was isn los? Raus aus dem Nest, ich will frühstücken!“
Helene stürzte aus dem Bett, warf sich ihren Morgenrock über und eilte in die Küche.
„Soll ich dir ein Ei machen?“, fragte sie, während sie die Kaffeemaschine einschaltete.
„Rührei!“, kam es patzig. „Frag nicht so blöd!“
Helene tropfte vor Betroffenheit und Verbitterung der Schweiß von der Stirn. „Soll ich dir eine Schnitte zum Mitnehmen machen?“
„Ja, mit Käse, aber nicht wieder so ein pampiges Zeug wie am Freitag. Das kannste selber essen.“
Sie hielt inne und dachte an die Glock 25. Der Gedanke, ihm das kalte Eisen an die Schläfe zu halten, gab ihr einen Energieschub. Sie wickelte die Käsestulle ein, legte sie ihm auf den Tisch und beschäftigte sich mit dem Abwasch, um nicht mit ihm an einem Tisch sitzen zu müssen.
Am späten Nachmittag, als er nach Hause kam, ging die Motzerei lückenlos weiter. „Beeil dich mit dem Essen, ich geh nochmal weg.“
„Ich habe heute nur ein paar Nudeln mit Gemüse gemacht. Wenn du willst, mache ich sie dir heute Abend warm, wenn du zurück bist.“
„Was soll das für ein Essen sein, wenn man den ganzen Tag geschuftet hat! Mach mir einen schnellen Teller voll gegen den Hunger, den Rest kannste selber essen.“
Er zog sich frische Sachen an, ohne zu duschen. Helene atmete tief durch, als sie die Haustür ins Schloss fallen hörte. Mit einer diebischen Freude rief sie sich die Glock ins Gedächtnis und schaute sich voller Ungeduld einen Tatort im Fernsehen an. Um zehn kam Rudolf nach Hause. Er beachtete sie nicht, sondern ging schnurstracks ins Schlafzimmer, legte sich mit seinem Rausch ins Bett, schnarchte nach wenigen Minuten, hustete und röchelte. Helene wusste nicht, ob sie der Schweiß- und Schnapsgestank oder die grunzenden Laute, die er von sich gab, mehr störte.
In ihrer Vorfreude auf den folgenden „Kopfschuss“ ertrug sie beides, holte die Pistole hervor und trat an sein Bett. „Rudolf Breunig“, sagte sie pathetisch, „ich verurteile dich zum Tode durch Erschießen und vollstrecke – jetzt.“ Klick.

*

So verging eine ganze Woche. Täglich „schoss“ sie ihm in die Brust, den Kopf und sogar in die Eingeweide, damit es bis zum Tod besonders schmerzvoll war. Am folgenden Freitag kam er spät nach Hause. Helene hatte wieder einen Krimi angeschaut, in dem ein Berufskiller erklärte, dass er immer einen zweiten Schuss setzte, auch wenn der erste tödlich war. Diese Erkenntnis versetzte Helene in helle Aufruhr. Nach den täglichen "Hinrichtungen" mit nur einem Schuss drohte die Sache nämlich an Kitzel zu verlieren. Jetzt hatte sie mit einem zweiten Treffer wieder eine Steigerung. So hielt sie an seinem Bett Gericht.
„Rudolf Breunig …“ Klick. Klick.
Am Tag danach brach Rudolf gegen neun Uhr auf zu einer Männerparty in einem stillgelegten Steinbruch in einem Privatwald auf, zu dem einer seiner Wirtshauskumpane, ein Jäger, geladen hatte. Die Zusammenkunft begann mit dem, was sie in der Kneipe gewohnt waren zu tun: Witze erzählen, Frauengeschichten zum Besten geben und reichlich Alkoholisches zu sich zu nehmen. Zwischendurch gab es Schießübungen auf Blechbüchsen, Flaschen und einen ein Meter großen Gockel aus Walzblech, ein Zierstück aus einem öffentlichen Park, das mit den Farben des Stadtwappens bemalt war. Sie hatten ihn gemeinsam eines Nachts im Vollrausch mitgehen lassen.
Jeder hatte seine eigene Waffe mitgebracht. Rudolf trug seine Glock stolz in einem Halfter und hätte auch gern am „Nachtschießen“ um 22 Uhr teilgenommen, aber er war so besoffen, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Zwei seiner Freunde lieferten ihn gegen Mitternacht an der Haustür ab, klingelten und setzten ihre Fahrt fort. Er torkelte in die Wohnung, steuerte das Schlafzimmer an und Sekunden später lag er im Bett und schlief wie ein Toter.
Helene wartete eine Viertelstunde, dann startete sie ihren Rachefeldzug. Als sie ihn sah, hörte und roch, schritt sie umgehend zur Tat. Sie trat an die Kommode und öffnete die oberste Schublade. Rudolf hatte die Pistole an diesem Tag nicht am gewohnten Ort deponiert, sondern gleich vorn auf die frisch gewaschenen Unterhemden. Sie nahm sie, trat an sein Bett, zielte mit beiden Händen auf sein linkes Auge.
„Ich habe mich heute entschieden, dich zu verlassen, Rudolf Breunig. Aber bevor ich gehe, möchte ich dir ein Auge ausschießen. Den zweiten Treffer bekommst du in die Brust.“ Mit dem überwältigenden Gefühl der Überlegenheit hielt sie ihm die Mündung so dicht ans linke Auge, dass der kalte Lauf fast seine Wimpern berührte. Dann spannte sie den Hahn und drückte mit dem Gefühl der Unbesiegbarkeit ganz langsam ab. Doch es machte nicht klick.
Mit dem Knall spritzte das Auge nach allen Seiten, dann trat aus der Augenhöhle eine Mischung aus Blut und Gehirnmasse.

„Eine Waffe darf nie durchgeladen aufbewahrt werden.“
 
Zuletzt bearbeitet:

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Bo-ehd,

mir sind hier ein paar Dinge aufgefallen.

Zuallererst:
Waffen waren Helene ein Graus, aber diese Glock 25 fand sofort ihre Bewunderung
Wieso hat Rudolf Breuning eine halbautomatische Waffe in seinem Besitz? Dazu bräuchte er eine Genehmigung. Ich nehme an, dass er diese hat, da er sich ja später mit seinen Kumpanen zum Wettschießen trifft. Aber es hätte erwähnt werden müssen, denn dann versteht man die Stelle m.E. besser.


Er torkelte in die Wohnung, steuerte das Schlafzimmer an und Sekunden später lag er im Bett und schlief wie ein Toter.
Wenn er nur Sekunden brauchte, um ins Bett zu gelangen, wie konnte er dann die Waffe, die er ja zuvor am Halfter getragen hatte, in die Schublade legen?

Denn es heißt

Rudolf hatte die Pistole an diesem Tag nicht am gewohnten Ort deponiert, sondern gleich vorn auf die frisch gewaschenen Unterhemden.
Also da ist irgendwie ein Sprung drin. Dazu hätte er etwas Zeit und "Zielsicherheit" gebraucht, um die Waffe dort deponieren zu können.


Nach den täglichen Hinrichtungen mit nur einem Schuss ...

Hier würde ich Hinrichtungen in Anführungszeichen setzen.

Gruß DS
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo DS,
lass mich kurz auf deine Kritik eingehen:

Waffen waren Helene ein Graus, aber diese Glock 25 fand sofort ihre Bewunderung
Wieso hat Rudolf Breuning eine halbautomatische Waffe in seinem Besitz? Dazu bräuchte er eine Genehmigung. Ich nehme an, dass er diese hat, da er sich ja später mit seinen Kumpanen zum Wettschießen trifft. Aber es hätte erwähnt werden müssen, denn dann versteht man die Stelle m.E. besser.

Ich denke, es trägt nicht zur Geschichte bei, dass es sich um die Waffe eines Jagdfreundes handelt, der sie als verloren gemeldet hat. Oder ob er sie - vor Jahren in Suizidabsicht - am Frankfurter Bahnhof gekauft hat. Ich hätte das erläutern können, da gäbe es aber Wichtigeres zu beschreiben wie etwa die Entwicklung in die prekäre Lage.

Er torkelte in die Wohnung, steuerte das Schlafzimmer an und Sekunden später lag er im Bett und schlief wie ein Toter.
Wenn er nur Sekunden brauchte, um ins Bett zu gelangen, wie konnte er dann die Waffe, die er ja zuvor am Halfter getragen hatte, in die Schublade legen?

Das "Sekunden später" kann man so interpretieren, dass es sich um eine "sehr kurze Zeitspanne" handelt.
Oder so: Gehen wir mal von 15 bis 25 Sekunden aus. Die reichen allemal, um die Waffe zu deponieren.


Rudolf hatte die Pistole an diesem Tag nicht am gewohnten Ort deponiert, sondern gleich vorn auf die frisch gewaschenen Unterhemden.
Also da ist irgendwie ein Sprung drin. Dazu hätte er etwas Zeit und "Zielsicherheit" gebraucht, um die Waffe dort deponieren zu können.

Das sehe ich nicht so eng. Er findet immerhin das Schlafzimmer und sein Bett, warum nicht auch die Kommode. Dass er nicht ganz bei sich war, ist ja durch die Tatsache begründet, dass er das Schießeisen gleich vorn auf die frische Unterwäsche legt. Das hätte man noch genauer beschreiben können, ok.

Nach den täglichen Hinrichtungen mit nur einem Schuss ...

Hier würde ich Hinrichtungen in Anführungszeichen setzen.

Da hast du Recht. Fehler von mir.
Danke fürs Lesen und Kommentiere.
Gruß Bo-ehd
 



 
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