Eine Weihnachtsgeschichte

Eine Weihnachtsgeschichte
Es schneite noch immer, als Clement wieder aus dem Fenster sah.
Über die klaffenden Wunden der Welt, die längst verstummte, unnütze Stadt, legte sich ein weißes Leichentuch und hielt den Fäulnisgeruch schmuddelig-geiler Bürgerträume in den verwesenden Hirnen zurück. Greller als sonst schien ihm das Licht der Bogenlampen an der Straße und der Weihnachtslichtergirlanden zwischen den Häusern, als habe man sie heute, ausgerechnet heute, zur Feier des Festes erhellt.
Clement las ein letztes Mal die ausgedruckte e-mail von webmaster@lonelygays.net und ihm wurde wieder schwindling vom Echo 'du bist raus! du bist raus!'. Die Mail war an alle, und alle wußten es jetzt. Harry hatte ihn geoutet, aus Rache, aus verletzter Liebe.
Er hätte Harry den Seitensprung mit einer Frau, mit diesem verlogenen Junkiegirl, nicht gestehen dürfen und eine andere Erklärung für sein positives Ergebnis erfinden müssen.
Reue macht Fehler nicht ungeschehen, dachte Clement, als er in die offene Klappe des alten Holzofens auf die schnell verbrennende Mail starrte. Er fütterte das Feuer weiter mit den Briefen und Dokumenten aus sieben Ordnern, trank langsam eine zweite Flasche Chianti dazu und wunderte sich, daß er nicht nervöser war.
Wie ein Schmetterling war Harry in den letzten Wochen von Kelch zu Kelch geflattert, hatte bei Clement's Anrufen sofort aufgelegt und im Forum bösartige Lügen über den Zusammenbruch ihrer Beziehung verbreitet. Die Lügen hätte ich ertragen, dachte Clement, aber die Wahrheit hätte unter uns bleiben müssen.
Als die Ordner leer waren, kramte Clement noch die restlichen Beweise seiner Existenz aus den Schubladen. Kontoauszüge, Personalpapiere, Fotos - die Flammen schmeichelten ihm ihre freundschaftliche Hilfestellung mit leisem Knistern. Beinah so zärtlich wie die ersten Worte, die Harry ihm vor drei Jahren ins Ohr geflüstert hatte.
Als das letzte Dokument zu Asche geworden war, setzte sich Clement an den Rechner und überlegte kurz, ob er im Forum noch eine klarstellende Nachricht hinterlassen sollte. Nein, er wollte weder sich noch Harry in der Wahrnehmung der Anderen belasten oder entlasten oder seichte Mitleidigkeit hervorrufen. Er war aus dem realen Nichts in die fiktive Cyberwelt eingetreten und würde sie in umgekehrter Richtung wieder verlassen. Clement schaltete auf die DOS-Ebene und tippte 'format C:' in die weinversyphte Tastatur.
Im Schlafzimmer schüttelte Clement noch sein Bett auf, daß es wie unberührt erschien, entkleidete sich und verließ das Haus barfuß im Bademantel, den er mit einem langen Ledergürtel um seine Hüfte geschnürt hatte.
Er hatte keinen weiten Weg in den Frühstunden dieses Feiertages, ging aufrecht und gemessenen Schritts an den weihnachtlich dekorierten Auslagen der Geschäfte vorbei, warf seinen Schlüsselbund durch die Ritzen eines Kanaldeckels, er fror nicht.
Die elektrischen Kerzen des großen Christbaumes vor der Kirche waren noch eingeschaltet; er hatte es vermutet.
Clement hatte ein wenig Mühe, durch das dichte Astwerk nach oben zu klettern und einen geeigneten Platz zu finden. Dann knotete er den Gürtel erst an einen neben ihm aus dem Stamm ragenden Ast, sodann so genau und entschlossen, als schnitte er sich eine Scheibe Brot ab, um seinen Hals und ließ sich fallen.
Eine kleine Schneelawine löste er dabei, natürlich ohne Absicht, von den romantisch beflockten Zweigen.


(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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